Madrigal für einen Mörder
Madrigal für einen Mörder
Ein Krimi muss nicht immer mit Erscheinen des Kommissars am Tatort beginnen. Dass es auch anders geht beweisen die Autoren mit ihren Kurzkrimis in diesem Buch.
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Verzaubert | Juni 2012
Alpenglühen
von Sabine Barnickel

Die Sonne taucht die Gipfel, die Felsen, die Gletscher in Feuer. Wie gerne löste ich mich in diesem Anblick auf. Ich genieße diesen Augenblick der Intimität mit meinem Element, dem Feuer, und verweile in ihm, so lange es mir möglich ist.

Bald werden die Bewohner des Hofes unweit von hier aus der Nachtruhe erwachen und geschäftig ihr Tagwerk beginnen. Alle, bis auf eine. Sie macht sich die Finger nicht schmutzig, niemals.
Nie werde ich den Augenblick vergessen, in dem ich sie das erste Mal erblickte.
„Sieh hin, kleiner Bruder Narziss, wie dieses Menschenmädchen tanzt“, sagte er und ich war zu verzaubert, um den listigen Unterton in seiner Stimme wahrzunehmen.
Ihre langen Haare glänzten wie Gold in der Sonne, ihr Lachen klang hell und leuchtend wie der Frühling. Ihre Bewegungen erinnerten mich an die der Feen. Wie lang war es her, dass wir noch mit den Feen tanzen konnten, bevor sie von dieser Welt verschwanden?
Ich verfluche jenen Moment der Schwäche, in dem ich mich von ihrer Schönheit und ihrer Anmut blenden ließ – trotz des Wissens um ihre Vergänglichkeit. In Menschengestalt trat ich vor sie, um sie nicht zu erschrecken. Sie lächelte.
„Ich weiß, dass du mich beobachtet hast“, sagte sie und dann sprach sie die Worte, die mich an sie fesseln: „Jetzt bist du mein, Berggeist, Feuergeist, und du wirst mir dienen.“
Erkannte sie das verräterische Feuer in meinen Augen? Ich verabscheue ihre Eitelkeit, bewundere ihre Gerissenheit.
Ich verachte mich für meine eigene Eitelkeit. Wie konnte ich glauben, dass sich jeder Mensch von meinem Anblick täuschen lässt und mir verfällt?

Ich bin ein Berggeist. Für meinesgleichen hat ein Tag vier Zeiten: die Nacht, die Morgenröte, den Tag und das Abendrot. Am Tag zeigte ich mich ihr, am Tag erkannte sie mich, am Tag gehöre ich ihr. Einen Sommer lang schenkte ich ihr meine Liebeskünste, einen kurzen Herbst lang hielt ich ihr die Stürme vom Leib, einen kalten Winter lang spendete ich mit Leichtigkeit Feuer und Wärme. Ich genoss ihre Bewunderung, ignorierte ihre Heuchelei. Jetzt ist es Frühling.

„Berggeist, Feuergeist, ich rufe dich zu mir.“
Sie flüstert die Worte nur, doch mir bleibt jede Möglichkeit verwehrt, ihren Ruf zu überhören. Leichtsinnig habe ich mich in ihre Hände begeben, so muss ich folgen. Sie muss sich die Hände nicht schmutzig machen, sie kann sich meiner bedienen. Und meiner Magie.
„Wo warst du so lange?“, fragt sie mich. „Du weißt, dass ich nicht gerne warte.“
Ihre Augen strahlen blau und kalt wie Gletscherseen. Ich scheue das Wasser. Ihr Atem riecht süß wie Sommerwein, benebelt meine Sinne. Sie zieht mich in ihren Bann mit ihrer Schönheit, mit ihrer Eitelkeit, mit ihrer Verderbtheit und ich diene ihr. Meine Magie erledigt ihre Arbeiten, meine menschliche Gestalt befriedigt ihr Verlangen. Sie ist nicht das, was ich in diesem verhängnisvollen Augenblick in ihr sah. Sie ist keine Fee, hat nichts mit einer gemein. Ich bin ihrer überdrüssig.

Das Abendrot trennt den Tag von der Nacht und schenkt mir die Freiheit vorübergehend wieder. Neben dem Sonnenaufgang ist es die Zeit, in der meine Macht am größten ist. Denn mein Element ist das Feuer. Ich spüre ihre Unruhe. Die falsche Fee wird versuchen mir zu folgen, wenn ich mich in die Berge zurückziehe. Sie will mich vollends besitzen.
„Berggeist. Feuergeist! Narziss!“
Sie ruft mich bei meinem Namen. Ich kann mich nicht daran erinnern, ihn ihr je genannt zu haben.
„Narziss!“, ruft sie noch einmal und ich zögere auf meinem Weg.
Sie versucht mich, auf dass ich dem Irrlicht ihrer Stimme folge. Die Macht, die sie über mich hat, irritiert mich. Ich flüchte mich auf einen der Gipfel. Ich kann nicht riskieren, dass sie mich findet und mich auch für die Zeit der Dunkelheit versklavt. Dann bliebe mir für die Spanne ihres Lebens nur noch der Morgen und der Abend. Nicht dass das für meinesgleichen eine Ewigkeit bedeutete.

„Was ist los, kleiner Bruder Narziss?“
Mein Bruder reißt mich aus meinen Gedanken. Er lehnt am Kreuz. Sie pflanzen diese Symbole menschlichen Aberglaubens auf unsere Gipfel, suchen uns damit zu verdrängen, machen unsere Zufluchten zu unsicheren Orten. Noch schützen uns die Dunkelheit und unsere Magie.
„Mein kleiner Bruder, der das Feuer beherrscht, flieht vor einem Menschenweib. Hat dich deine falsche Fee so sehr verzaubert? Dich, einen Berggeist?“ Er lacht. Er hat nur Spott für mich übrig. „Verliebt in deine ach so wunderschöne menschliche Gestalt, eitler Narziss, willst du jetzt Mitgefühl von mir? Blind wie du bist vor Selbstmitleid? Prüfe dich und öffne deine Sinne, Bruder.“
Ich starre auf das Kreuz, an dem er eben noch stand. Erbost über den Spott und die Wahrheit in seinen Worten tauche ich es in Feuer, Feuer, das für Erz gemacht ist nicht für Holz. Übrig bleibt nur ein unförmiger Klumpen.

Irgendwo lacht mein Bruder.

Irgendwo ruft die falsche Fee meinen Namen.

Mein Bruder hat recht. Meine eigene Eitelkeit verschließt mir den Verstand, selbstverliebt in meine menschliche Gestalt, vergesse ich mein wahres Ich. Vergesse ich aus welcher Macht ich geschaffen wurde. Ich seufze. Sie wird nicht aufgeben, so muss ich den Schritt wagen.

Die Fenster des Hofes sind bereits dunkel, nur in einem brennt noch eine Kerze. Dahinter wartet sie auf mich, wie sie es immer tut. Ob sie an diesem Tag erwartet, dass ich tatsächlich komme? In einem menschlichen Wimpernschlag wandelt sich meine Feuergestalt in die menschliche. Sie lächelt, als ich auf sie zukomme.
„Narziss“, murmelt sie, als ich sie entkleide. Ich weiß nicht, warum sie nicht die entscheidenden Worte spricht, die mich an sie bänden und mein Vorhaben durchkreuzten. Weiß sie nicht, dass es ihre letzte Möglichkeit ist, mich nahezu ganz zu besitzen? Weiß sie nicht, dass meine Liebe sie dieses Mal verbrennen wird?
Meine wahre Gestalt spiegelt sich in ihren Augen, nur kurz, dann ist es vorbei.

Das Gelächter meines Bruders schallt von den Felsen wider.

Regenwolken hängen an diesem Morgen zwischen den Gipfeln, doch die Berge glühen und spiegeln mein Feuer. Die Asche des Hofs erkaltet langsam, ich glühe. Ich bin frei, nie wieder wird sie mich herbeirufen. Ich verspüre einen Anflug des Bedauerns, nicht über den Tod der Menschen, deren ohnehin kurze Lebensspannen nur ein verfrühtes Ende fanden. Sondern darüber, dass der Augenblick der Leidenschaft nicht länger anhalten konnte und ich wieder der Langeweile preisgegeben bin. Das Einzige was mir bleibt, ist davon zu träumen, wie es war, mit den Feen zu tanzen.

© Sabine Barnickel, Version 2

Letzte Aktualisierung: 10.06.2012 - 22.58 Uhr
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