Das Ruhrgebiet ist etwas besonderes, weil zwischen Dortmund und Duisburg, zwischen Marl und Witten ganz besondere Menschen leben. Wir haben diesem Geist nachgespürt.
Als die Laternen der kleinen Gassen erglimmten, huschte eine schwarze Gestalt von einem Schatten in den nächsten. Anastasia! An der Ecke spähte sie vorsichtig um selbige. Im Licht der Straßenlaterne blitzte unter der Kapuze, die sie sich tief ins Gesicht gezogen hatte, etwas Rotes hervor, das im starken Kontrast zu dem nächtlichen Himmelblau ihres Capes stand. Harry lungerte wie erwartet vor dem Gasthaus herum und reichte gerade jemandem einen rosa schimmernden Flakon.
Anastasia zog sich zurück in die Dunkelheit, drückte sich an die Wand und atmete erneut tief durch. Als sie bereit war, löste sie sich und ging mit schnellem Schritt auf Harry zu.
Als sie vor ihm stand, drehte er sich um und musterte sie von oben bis unten.
„Du bist von der Hexenschule, habe ich Recht?“
Anastasia wartete, ob noch mehr kam und sagte ohne Umschweife:
„Hast du einen Antipathietrank für mich?“
Harry fingerte eine Zigarettenschachtel aus seiner Hose, zog mit dem Mund eine Kippe heraus und zündete sie genüsslich an. Nachdem der Rauch durch die Nasenlöcher entwichen war, stieß er ein kurzes Lachen aus und schüttelte den Kopf.
„Es ist immer das Gleiche. Ihr Hexenweiber denkt, es ist so einfach, wenn man nur genug Geld hat. Aber ich kann dir nicht helfen. So einen Trank besitze ich nicht. Und jetzt verzieh’ dich!“
Anastasia war wie versteinert. Hatte der Typ gerade mit ihr geredet, als wäre nicht er der Vollidiot sondern sie?
„Pass mal auf, du Witzfigur. Es mag sein, dass du irgendwann mal ein ganz Großer warst und gegen den bösen ... ach was weiß ich, wie der hieß, gekämpft hast.
Aber gebracht hat es dir nichts! Also gib mir jetzt diesen Trank. Das Geld scheinst du offensichtlich zu brauchen!“ Sie musterte ihn von oben bis unten und verzog den Mund, als hätte sie saure Milch getrunken.
Harry ignorierte das Gesagte.
„Wieso versteckst du dich unter deiner Kapuze. Bist du so unansehnlich? Ich könnte dir einen Umkehrzauber anbieten, damit du von dieser lächerlichen Kopfbedeckung unabhängig bist.“
Anastasia hätte es besser wissen müssen. Hier hatte sie nichts zu erwarten. Gerade wollte sie gehen, als sie registrierte, was der Typ von sich gegeben hatte.
„Sagtest du Umkehrzauber?“
Harry hob eine Augenbraue.
„Ja, hab’ ich. Und ich scheine mit meiner Einschätzung voll ins Schwarze getroffen zu haben. Macht zweihundert.“
Anastasia wurstelte aufgeregt in ihrem Umhang und zog ein Bündel Scheine hervor, die sie vor seiner Nase tanzen ließ.
Als Harry das Geld an sich nahm, griff er hinter sich in den Koffer und präsentierte einen Flakon, in dem eine rosafarbene Flüssigkeit schwerfällig hin und her schwappte. Erneut versuchte er einen Blick auf Anastasias Gesicht zu erhaschen. Es juckte ihn, sie noch mehr zu reizen. Als er den nächsten Satz aussprach, fühlte er, wie er diesem Juckreiz erlag.
„Viele entscheiden sich für diesen Zauber, weil es jemanden in ihrem Leben gibt, der ihre Zuneigung nicht erwidert. Da es, aus vorher genannten Gründen, definitiv Niemanden geben kann, den du dir aus deinem Herzen reißen musst, würde mich zu sehr interessieren, wofür du diesen Trank brauchst.“
Anastasia riss ihm entnervt den Flakon aus der Hand.
„Gibt es etwas zu beachten?“ Sie stand mit verschränkten Armen vor ihm und wackelte ungeduldig mit dem Fuß, als hätte sie seine Bemerkung nicht gehört.
„Steht alles auf dem Beipackzettel. Lies ihn aufmerksam durch. Du bist doch des Lesens mächtig, oder?“ Dabei grinste Harry erneut, was Anastasia veranlasste, zu gehen. Jedoch nicht, ohne ein „Vollidiot“ von sich zu geben.
»Ach und noch etwas.« ,rief er ihr hinterher. »Er ist pro Person nur einmal anwendbar. Beim zweiten Mal ist er wirkungslos.« Anastasia war zu weit fort, um ihn zu hören.
Am nächsten Morgen saß Anastasia früher als sonst im Speisesaal und ging in Gedanken zum wiederholten Male alles durch.
Die Nacht war kurz, da das Ritual verlangte, die Formel in Reimen zu sprechen. Nur so war gewährleistet, dass der Zauber sich mit dem „Opfer“ verband. Leider stand es nicht besonders gut um ihre dichterischen Fähigkeiten. Sie brauchte eine Ewigkeit. Das Ergebnis war dementsprechend mehr schlecht als recht, aber Anastasia hoffte, dass trotzdem alles funktionierte. Einen Preis würde sie dafür nicht erhalten. Den wollte sie eh nicht. Ihr einziger Wunsch war es, endlich diesen Typen loswerden, der so unnachgiebig hinter ihr her war. Auf einmal musste sie lachen.
„Ich und hässlich. Dieser Harry muss damals echt was abbekommen haben.“
Zehn Minuten später füllte sich der Raum. Carmen und Denise stürmten aufgeregt auf Anastasia zu.
„Wo warst du denn? Hat alles geklappt?“
Als Anastasia ihr „Opfer“ erblickte, erhob sie sich.
„So meine Süßen. Jetzt guckt zu und lernt, wie man sich Quasimodo vom Hals hält.“
Schon schlenderte sie Richtung Buffet, bis sie ungemerkt hinter Kaspar stand. Das Glück schien auf ihrer Seite zu sein. Er war allein. Vorsichtig zog sie den Flakon aus ihrer Tasche und kippte blitzschnell den Inhalt in Kaspars Becher. Gerade als sie das Gefäß zurück in ihre Jacke tun wollte, drehte sich Kaspar um.
„Was machst du denn da. Ist ja unheimlich. Vielleicht kannst du mal ein paar Schritte zurückgehen und endlich aufhören, mich zu bedrängen.“
Kaspar blickte sie an, als wäre sie ein roher Fleischklumpen, der mit Maden durchsetzt war.
„Du schnallst es nicht, oder? ICH KANN DICH NICHT LEIDEN!“
Er nahm seinen Becher und trank ihn in einem Zug leer.
Laut scheppernd fiel Anastasias Tablett zu Boden, während sie ihn mit aufgerissenen Augen ansah.
Letzte Aktualisierung: 20.06.2012 - 09.59 Uhr Dieser Text enthält 10322 Zeichen.