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Verzaubert | Juni 2012
Boogie for Georg
von Jochen Ruscheweyh

Es war ein Montag, als er vor unserer Schule stand, mit seinem rostigen Lieferwagen, auf dessen Front das Wort Stullenlaster gepinselt war. Niemandem aus der Oberstufe fiel auf, dass er plötzlich dort parkte. Und auch ich näherte mich seinem Wagen nur, weil ich den zu seinem Nummernschild gehörigen Kreis herausbekommen wollte, eine unnütze Angewohnheit von mir, ich weiß.
„Heda, Junge! Alles gut?“
Junge? Naja.
Ich suchte das Gesicht zu der Stimme, konnte aber niemanden entdecken, bis sich plötzlich eine Jalousie am Kofferaufbau öffnete und ein älterer Mann mit Glatze und kariertem Hemd der Sonne entgegenblinzelte.
„Du siehst hungrig aus“, meinte er, „komm, ich mach dir was fertig. Greif mal unter die Karosserie und zieh den Klapptisch und die Bänke raus.“
Dann begann er, im Wageninneren zu hantieren.
Mich interessierte der Mechanismus hinter der Konstruktion; andere Gründe, seiner Aufforderung zu folgen, hatte ich eigentlich nicht.

Einige Minuten später saßen wir uns an dem Provisorium gegenüber, jeder ein Brettchen mit einem üppigst belegten zusammengeklappten Brot vor sich. „Nur zu, beiß rein! Meinst du, dein Großvater würde dich vergiften wollen?“
Als ich nicht sofort antwortete, zog er eine Braue hoch: „Sie hat dir gar nicht von mir erzählt, deine Mutter, oder?“
Ich schüttelte wortlos den Kopf, was ich damals häufig tat, weil es mir bequemer schien, als Dinge auszuformulieren.
„Wie auch immer, hau rein. Eine Bio-Cola dazu?“
Bereits der erste Bissen schmeckte fantastisch. Beim zweiten erwischte ich ein Stück scharf eingelegten Thunfisch mit Sesam und Meerrettich-Spiegelei. Was war Mutters Strammer Max mit Salami und Gouda-Käse dagegen?
Es kam mir vor, als hätte das Brot dieses Mannes, der behauptete, mein Großvater Georg zu sein, einen Schalter in meinem Kopf umgelegt. Mir war bloß noch nicht klar, was damit aktiviert würde.
„Danke für das Brot. Ich muss jetzt gehen“, sagte ich, nachdem wir aufgegessen hatten.
Er klopfte sich ein paar Brotkrumen von seinem Hemd und meinte: „Gut.“
Was im Prinzip nicht viel war, aber immerhin genug für mich, am nächsten Tag wieder nach seinem Citroën Ausschau zu halten.

„Wie fühlst du dich?“, rief er mir tagsdarauf zu, während er das Tischprovisorium herauszog.
Es nervte, dass er mich ständig Junge nannte. Trotzdem sagte ich: „Prima. Wie neu justiert. Ich habe plötzlich so viele Ideen im Kopf, Dinge, die ich tun möchte, Sachen, die ich sagen will, obwohl ich sonst eigentlich eher mundfaul bin.“
„Neu justiert“ Er kratzte sich am Kopf. „Komischer Ausdruck, nie gehört.“
Der Mann, der meinte, mütterlicherseits mit mir verwandt zu sein, deutete auf meine Tasche mit dem Sportzeug. „Wie bist du im Fußball, Junge“
„Ich werde immer zuletzt gewählt.“
„Dann solltest du das hier mal probieren!“
Das Salatblatt, die Krabben und vor allem die Sprossen in Curcuma-Soße brachten dem Brot eine solche Saftigkeit, dass ich das Gefühl hatte, der indische Ozean würde sich in meinen Mund ergießen. Der Mann, der für sich reklamierte, mein Großvater Georg zu sein, winkte ab: „Nichts Großes, nur ein paar Proteine, um deine Chakren zum Rotieren zu bringen. Und jetzt ab mit dir, dein Sportlehrer wartet sicher schon auf dich.“
In der Nacht musste ich immer wieder an meinen unhaltbaren Schuss aus zwanzig Metern direkt ins linke obere Eck denken, der mir nicht nur die Anerkennung meiner Mitschülern eingebracht hatte, sondern auch eine Einladung zu einer Party, die Vicki, die göttlich hübsche Tochter griechischer Einwanderer, geben würde.
„Ich dachte bis jetzt immer, du wärst irgendwie komisch“, hatte sie gesagt.
Die Dinge schienen zu laufen.

„Heute machen wir es mal anders, heute bist du dran!“, bestimmte der Mann, der nun schon einige Male erwähnt hatte, er sei mein Großvater.
„Womit?“
„Na, Stullen machen! Hier, die Wagenschlüssel. Bedien dich, wo du möchtest.“
Ich inspizierte den Kühlschrank, holte Gewürze und Beilagen hervor, nur um sie einen Moment später wieder an ihren Platz zurückzustellen. Es gelang mir einfach nicht, ein auch nur halbwegs vernünftiges Brot zusammenzustellen. Nach einer Weile stieg er zu mir in den Wagen.
„Nein, Junge, so wird das nichts. Deine Stulle braucht Boogie!“
„Äh, was bitte?“
„Ich meine ... Groove?“, korrigierte er sich. „Du musst mitschnipsen können. Verstehst du?“ Er schnalzte mit Daumen und Zeigefinger. Ich hatte keine Ahnung, was er meinte.
„Siehst du das Mädel da drüben?“ Er zeigte auf Vicki, die gerade über den Schulhof kam. „Ich möchte, dass du eine Stulle für sie machst.“
„Aber ich kann doch nicht ...“
„Sicher! Beiß hiervon ab!“, sagte er und schob mir ein Pumpernickel-Sandwich mit Lachs und Erdbeerquark-Aufstrich in den Mund. Es fühlte sich an, als würde mein Herz Schluckauf bekommen und mein Kopf mit Kulinaritäten-Wissen überschwemmt.
Also schnitt ich zwei satte Scheiben rustikales Höhlenbrot ab, zog mit dem Teigschaber eine gleichmäßige Schicht Erdnussbutter auf, die ich mit getrüffeltem Pyrenäenkäse belegte und dachziegelartig mit venezianischer Honig-Mortadella und Hollunderpesto bedeckte.
„Das ist unglaublich!“, seufzte Vicki, die der Mann, von dem ich langsam wirklich glaubte, er sei mein Großvater, tatsächlich an unseren Tisch bekommen hatte. Sie strich sich eine schwarze Locke aus ihrem klassisch griechischen Profil und sagte: „Kannst du mir bitte jeden Tag so ein Brot machen? Ich hab diesen ganzen Tsatziki-Oliven-Mist zu Hause so satt!“

Am nächsten Morgen begrüßte mich Vicki mit einem Kuss, hakte sich bei mir unter und stellte mich ihren Freundinnen Salina und Aischa vor.
„Seid ihr jetzt fest zusammen?“, fragte Aischa, woraufhin Vicki aufklärte: „Ich habe mich ganz spontan in seine süßen Augen verliebt. Und in seine Brote. Oh, er macht wirklich die besten. Schwestern, die müsst ihr probieren!“
„Er sieht viel besser aus, als ich dachte!“, sagte Salina, griff an meinen Oberarm und fügte hinzu: „Und böse Muckis unterm Shirt, wieso ist uns das nie aufgefallen? Du bist eine echte Sahneschnitte, ... äh, wie heißt du nochmal?“
„Dennis“, antworteten Vicki und ich gleichzeitig.

Freitag Mittag - ich war gerade auf dem Weg zum Chemielabor - hörte ich Sirenen auf dem Schulhof. In der zweiten Etage gab es ein großes Fenster, an dem sich schon viele Schüler versammelt hatten.
„Was ist denn los?“, fragte ich einen Unterstufler.
„Der beknackte Oppa mit seinem Dödelwagen hat den Löffel abgegeben!“
Ich drängte zum Fenster. Als ich sah, wie sie ihn in den Leichensack legten, begann ich noch im selben Moment, in mein altes Ich zurückzuschrumpfen.
Jemand stieß mir in die Rippen und zischte: „Wer hat dich Spasti denn hier ans Fenster gelassen?“

Ich stand noch eine Weile alleine dort, nachdem der Leichenwagen den Hof verlassen und die nächste Stunde bereits angefangen hatte, dann humpelte auch ich zurück zum Unterricht. Ein blondes Mädchen, das ich die Woche über ein paar Mal, jedoch mehr unbewusst, auf dem Schulhof wahrgenommen hatte, fing mich vor dem Chemielabor ab. Erst jetzt bemerkte ich, dass sie eine ziemlich dicke Brille trug.
„Er hat die Menschen für einen Moment lang vollkommener gemacht, als sie wirklich sind, aber machen wir uns nichts vor: Er kann nicht zaubern.“
Sie schob ihre Brille hoch, die sich ziemlich schwer auf ihrer kleinen Stupsnase anfühlen musste: „Es ist, wie es ist, und damit müssen wir klarkommen.“
„Aber, es war so ... so ...“
„Echt? Ja, darin ist er gut gewesen, einen glauben zu lassen, man könnte eine normale Beziehung haben. Was hast du jetzt vor?“
„Ich habe keine Ahnung. Und du?“
„He, komm mir nicht so! Ich kenn das doch, ihr verknallt euch immer in mich mit der Option, dass es irgendwann bing macht und ich diese Glasbausteine nicht mehr brauche. Aber ohne die werde ich immer blind wie eine kaspische Erdmaus sein. Und du, du wirst immer so komisch gehen, wie du es jetzt tust. Ich finde das nicht schlimm, aber du bist einfach nicht mein Typ! Klar?“
„Äh, ja, ich glaube schon ...“
Sie rückte noch einmal ihre Brille grade, ehe sie mir mit voller Wucht ins Gesicht schlug.
„Verdammt, was soll das?“, rief ich.
„Das ist dafür, dass du nicht gesagt hast, dass ich trotzdem hübsch bin!“
„Aber ...“
Ich blickte ihr nach, wie sie den Gang hinunter verschwand. Dann entdeckte ich den Zündschlüssel mit dem Citroën-Logo vor mir auf dem Fußboden.

Das leise Wimmern schien aus dem hinteren Wagenteil zu kommen. Ich schob den Vorhang zur Seite, dort saß Vicki, gefesselt und geknebelt. Großvater hockte in der kleinen Sitzecke und bereitet ein Brot vor.
„Junge, Junge, ich kann meinen eigenen Tod vortäuschen oder dich von deiner Stiefcousine verprügeln lassen, du entwickelst einfach keinen ...“, er schnippte mit den Fingern, „du weißt schon: Boogie!“
„Was hast du mit ihr gemacht?“
Statt zu antworten, pfiff er leise vor sich hin und schnitt die Brotkrusten ab. Ich wusste, dass mir nicht viel Zeit blieb.
„Kann ich deinen Herd benutzen?“
Er schlug sich auf den Oberschenkel: „Großartig, das ist mein Enkel! Nur zu.“

Ich wischte noch kurz die Campingspüle ab, bevor ich den Teller zu Vicki trug. „Keine Angst, es wird nicht wehtun“, sagte ich.
„Lass mich zusehen, ich will auch meinen Spaß! Let's boogie!“, rief Großvater, kam zu uns rüber und kniete sich neben Vicki.
„Beste Grüße von Mutter!“, fauchte ich und rammte ihm die Gabel mit dem Stück Strammen Max direkt in den Rachen. Er griff sich an den Hals, würgte und spuckte, aber es war zu spät. Wie Kryptonit Supermann zerstört, begann meine westfälische Hausmannskost bereits, seinen Körper aufzulösen.
Ich entfernte Vicki die Fesseln und den Knebel. „Bist du in Ordnung?“
Mit weit aufgerissenen Augen schrie sie: „Da, hinter dir!“
Ich fuhr herum, aber da war nichts.
„Was meinst du?“, wandte ich mich ihr wieder zu. Sie beugte sich vor, küsste mich und öffnete leicht ihre Lippen. Ich schmeckte ein wildes Kräuteraroma, als sie die Olive mit ihrer Zunge in meinen Mund wandern ließ. Meine Beine begannen zu kribbeln.
„Willkommen in deinem neuen Leben, Dennis!“, flüsterte sie.

Version 3

Letzte Aktualisierung: 27.06.2012 - 08.45 Uhr
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