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Verzaubert | Juni 2012

Engel über Berlin
von Wolf Awert

Harald Köster lehnte sich gegen den Wind und alle anderen Widrigkeiten des Lebens. Ahoi Kuhdamm. Ahoi nächtliches Berlin. Irgendwo vor ihm geradeaus lag sein Hotelzimmer. Ein verdammt armseliger Heimathafen war das. Köster ging etwas breitbeinig, aber das störte niemanden, denn bei einem solch nieseligen Sauwetter waren höchstens Schiffbrüchige unterwegs.
Er taumelte, drehte sich empört um und überprüfte mit strengem Blick den Gehsteig hinter sich. Hätte ja sein können, dass da was war, aber er fand nichts auszusetzen an dem Pflaster.
Verdammt. War wohl doch der Rotwein. Zu viel, um noch ganz gerade zu gehen und immer noch zu wenig, um den Schmerz zu ersäufen. Aber – und bei diesem Gedanken hellte sich Kösters Miene wieder auf - genau die richtige Menge, um in einem Hotelzimmer in einen traumlosen Schlaf zu versinken.
Das war eine tiefgründige Erkenntnis, auf die Harald Köster mit Recht stolz sein konnte, und er nickte sich anerkennend zu.

„Hallo, noch was vor, so spät in der Nacht?“

Köster brauchte unziemlich lange, um sich zu orientieren und sah schließlich eine verschwommene Figur in einem Hauseingang stehen.
„Oh“, sagte er und bemühte sich um Haltung, als er näher trat.
„Sie sind eine wirklich attraktive, junge Dame. Aber Sie sollten um diese Zeit und bei solchem Wetter nicht hier herumstehen. Ich würde Ihnen gern meinen Arm anbieten, zum Geleit sozusagen, aber ich bin ein wenig müde und muss ins Bett.“
„Aber genau dafür bin ich doch da.“
„Und außerdem habe ich noch nie …“ Harald Köster sammelte seine Gedanken, vergaß, was er hatte sagen wollen und nahm einen neuen Anlauf.
„Wissen Sie, was mir an Ihnen auffällt? Nein? Können Sie auch nicht. Sie haben so etwas Griechisches an sich. Homer und so.“
„Den Herrn kenn ich nicht, aber griechisch, griechisch-römisch, französisch, kein Problem. Alles, was du willst, mein Schatz.“
„Nicht französisch. Mehr klassisch. Die Nase. Altgriechisch. Hexameter und so. Sie verstehen? Wie heißen Sie denn, junge Frau?“
„Wie immer du willst. Was sind schon Namen.“
„Neineineinein! Namen sind wichtig. Man darf nie vergessen, wie man heißt. Sonst geht man schnell verloren. Ich zum Beispiel bin der Harald Köster.“
„Ich weiß Harald. Wie könnte ich deinen Namen vergessen. Aber du kennst doch auch meinen Namen. Du brauchst mich gar nicht danach zu fragen. Erinnerst du dich denn nicht mehr an deine allererste, deine ganz große Liebe?“
„Als wäre es gestern“, sagte Köster mit stolzgeschwellter Brust.
„Dann kennst du auch meinen Namen.“
„Henriette!“
„Siehst du, habe ich es dir nicht gesagt? Ich bin deine Henriette. Kommst du jetzt mit? Mir ist kalt hier, und es zieht. “
Sie hustete, und es hörte sich nicht gut an.
„Hast Recht. Hier holst du dir noch den Tod. Hast du es weit?
„Nur ein paar Schritte.“

Sie gingen eng umschlungen wie ein Liebepaar. Henriette hatte ihren Kopf an Haralds Schulter gelehnt und zog ihn in eine kleine Seitenstraße, wo die hohen Häuserwände etwas Schutz vor Wind und Regen boten.
„Hier hinauf, Liebster.“
„Du hast dich gar nicht verändert, Henriette. Kein kleines Bisschen in all den traurigen Jahren.“

Wie sollte sie auch, wenn die Gegenwart die Vergangenheit ersetzt. Das leicht aufdringliche Parfüm, die Dunkelheit des Hausflurs. Und Henriette in ihrer durchsichtigen Schönheit, mit den blutroten Lippen und dem ständigen Hüsteln.
„Du solltest etwas essen, Liebste.“
„Ach lass nur, ein Glas Rotwein genügt mir.“
Mehr brauchte sie nie. Wein, am besten so rot wie die abgezirkelten Flecken hoch oben auf ihren Wangen, die jedes Rouge überflüssig machten.
„Blass siehst du aus, mein Liebling. Und du hustest auch wieder.“
„Ist nur eine Erkältung. Das ist der Winter. Mach dir keine Sorgen.“
Aber er hatte sich Sorgen gemacht, und hatte sie weggeschickt. Zu einem richtigen Arzt. Das Geld hatte er ihr aufdrängen müssen und es ihr am Ende in die Manteltasche gesteckt. Doch bei dem Arzt war sie nie angekommen. Und wiedergesehen hatte er sie auch nicht mehr seit damals. Ich hätte dich festhalten und mitgehen müssen, Henriette, dachte er. Du tatest immer so stark und warst dabei so schwach.

Das Bett war weich und roch nach Parfüm. Harald hielt Henriette in seinen Armen, und selbst Worten wie „Hände weg von meiner Frisur“ oder „nein, nicht auf den Mund“ gelang es nicht, Henriettes Bild zu vertreiben.

Wie er später in sein Hotel gekommen war, wusste er nicht. Er fand sich wieder, wie er vor der Rezeption stand und den Nachtportier um den Zimmerschlüssel bitten wollte, den er die ganze Zeit mit sich herumgetragen hatte. In seine verlegene Pause hinein fragte der Portier dann:
„Sonst noch etwas, der Herr?“
„Nein“, antwortete Harald Köster, „das heißt doch. Ich bin heute Abend einem Engel begegnet. Und das mitten in Berlin. Kann man sich kaum vorstellen. Nicht wahr?“
„In der Tat. Äußerst ungewöhnlich heutzutage. Da bleibt mir nur noch, Ihnen eine angenehme Nachtruhe zu wünschen.“
„Werd’ ich haben, mein Guter, werd’ ich haben.“

Letzte Aktualisierung: 17.06.2012 - 19.54 Uhr
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