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Verzaubert | Juni 2012

Fürchte dich nicht
von Sylvia Schöningh-Taylor

Rosi und Tim kuschelten sich in die Dunkelheit des Zimmers. Die alte Mühle stöhnte und knarrte, sie schien sich jede Nacht auszudehnen und Wesen zu beherbergen, deren Macht die Kinder sich nicht gewachsen fühlten. Nichts aber konnte sie so erschrecken wie der Vater. Er hatte wie immer die Aalsuppe auf den abgenutzten Holztisch gestellt und dabei sein falsches Lächeln wie ein Leichentuch über den dampfenden Topf gebreitet. Für Rosi war der Aal damit vergiftet, so dass sie nichts davon essen konnte, obwohl ihr der Magen ständig knurrte. Da aber des Vaters kontrollierender Blick auf ihr ruhte, hatte sie den Aal in ihre Backen gestopft, und schließlich in einem unbemerkten Augenblick unter den Tisch gespuckt, wo der magere, braungefleckte Hund gierig danach schnappte.

Der kleine Tim zitterte in Rosis Armen und weinte nach der Mutter. Warum hatte diese sie bloß verlassen, sie, deren Liebe Bruder und Schwester so sicher genährt hatte. Rosi strich ihm über die blonden Locken und sprach beruhigend auf ihn ein: Dass die Mutter sie sicher nicht freiwillig verlassen habe; dass sie vielleicht an einem Ort gefangen gehalten werde; dass sie die Liebe der Mutter in ihrem Herzen spüren könne und dass sie, Rosi, nach ihr suchen werde; und dass Tim keine Angst haben müsse, weil am Ende immer alles gut werde.

Schließlich schliefen die Geschwister eng umschlungen ein. Da hatte Rosi einen merkwürdigen Traum. Sie sah drei mächtige Thronsessel vor sich. In der Mitte sah sie die Mutter sitzen, rechts neben der Mutter saß Tim und schaute die Mutter unverwandt an, diese jedoch schien wie versteinert. Und Rosi selbst saß auf dem Thron zur Linken und unterhielt sich mit einem silbrig glänzenden Aal, dessen drei Köpfe ihr mit einer Stimme ein Lied vorsangen: Wenn du von uns isst, werden wir dir sagen, wie, warum, wann und wer und wo! Da wusste Rosi mit einem Mal, was sie zu tun hatte. Sie nahm einen Bissen aus dem Herzen des Aals und siehe, da sah sie ihre Mutter auf einer Sommerwiese liegen in tiefem Schlaf. Zu dieser Wiese aber lief ein unterirdischer Fluss, den Rosi erst durchqueren musste. In diesem Moment erwachte Rosi. Es war mitten in der Nacht und Tim schlief traumselig neben ihr. Da schlich sie sich leise in die Küche und trug den gescheckten Hund hinauf auf das Lager und flüsterte ihm zu, dass er fortan über den Bruder wachen möge an ihrer statt, denn sie müsse für eine Weile fortgehen. Und der treue Hund verstand und versprach’s, denn der Wunderbissen ließ das Mädchen die Sprache der Tiere sprechen und verstehen, und der Gescheckte legte seine warme Pfote auf die Schulter des schlafenden Jungen.

Rosi aber schlich sich noch vor Morgengrauen aus der Mühle hinunter zum Fluss. Sobald sie an dessen Ufer stand, rief sie die Bisamratte herbei und bat diese, sie zu dem unterirdische Fluss zu führen, den sie in ihrem Traum gesehen hatte. Die Bisamratte, die des Mädchens Freundlichkeit liebte, war gern zu Diensten und forderte es auf, auf ihren schwarzpelzigen Rücken zu klettern. Und schon ging die Reise los, durch Schilf und Stromschnellen, bis sie gegen Mittag in eine Bucht gelangten, wo das Wasser in eine gurgelnde Höhle stürzte. Die Bisamratte bat Rosi, von ihrem Rücken zu steigen, weil sie ihr nur bis hierher helfen könne. Im Bereich der gurgelnden Höhle beginne das Reich der grüngesichtigen Zibarus, gegen die sie nichts auszurichten vermöge. Sie umarmte Rosi zum Abschied und wünschte ihr Mut und Gelingen.

Rosi kroch leise zum Eingang der Höhle, aus der sie ein Wispern und Schnarren hören konnte. Sie legte ihr Ohr an die Böschung und konnte den unterirdischen Wesen zuhören. Wenn sie heute kommt, schnarrte es, werden wir sie in Stücke reißen, denn wir haben schon lange kein Menschenfleisch zu essen bekommen. Da begann Rosi, vor Angst zu zittern. Aber im Innern ihrer Augenlider sah sie die Mutter auf der grünen Sommerwiese liegen und das trieb sie vorwärts. So schwamm sie hinab in die stinkende Wasserhöhle, die bald trockener, aber dafür schmaler wurde, so dass sie sich nur noch mühsam vorwärtsbewegen konnte. Schließlich öffnete sich der unterirdische Gang und gab den Blick frei auf zwei riesige Echsen, deren rotglühende Augen ihr gierig entgegenstarrten. Da begann Rosi sie mit klarer Echsenstimme anzusprechen: Ich bin gekommen, um meine Mutter auf der jenseitigen Sommerwiese zu finden und dies ist der einzige Weg dorthin. Habt Erbarmen mit mir und meinem kleinen Bruder, der zu Hause bei unserem bösen Vater auf unsere Rückkehr wartet! Die beiden Zibarus schauten einander an und sprachen dann zu dem Mädchen: Was gibst du uns, damit wir dich passieren lassen? Denn wir fühlen uns kraftlos und sind auf Menschenfleisch angewiesen. Ich gebe euch meine beiden kleinen Finger zu fressen, sprach Rosi. Denn weil ich von der magischen Schlange gekostet habe, wird dieser Teil von mir alle Kraft enthalten, die ihr zu eurem Wohl benötigt. Und weil Rosi in Echsenzunge redete, glaubten die Zibarus ihr. Und einer von ihnen biss Rosis linken und der andere ihren rechten kleinen Finger ab. Als sie die Finger verspeist hatten, ging mit den Echsen eine Verwandlung vor sich, sie wurden wohlig müde und rollten sich wie zwei tollpatschige Hund zur Seite.

Rosi schritt mutig an ihnen vorbei und durch pechschwarze Finsternis. Aber schon bald sah sie ein blaues Licht, das seine Strahlen in die Tiefe bohrte. Voller Freude schritt sie darauf zu, bis sie am Grunde eines tiefen Brunnens stand. Wie durch ein Fernrohr sah die den blauen Himmel über sich. Aber wie sollte sie dort hinaufgelangen? Da kam ein junger, hungriger Habicht geflogen, der sie für Beute hielt und hinabschoss in die Tiefe des Brunnens. Sie aber rief ihm mit Habichtsstimme zu, dass er sie verschonen möge und sie werde es ihm vergelten. Der jungen Vogel, erstaunt, seine Sprache aus dem Mund eines Menschenkindes zu hören, hockte sich mit geöffnetem Schnabel neben Rosi und faltete sein braunes Gefieder ein. Und das Mädchen erzählte ihm seine Geschichte, während der Habicht mit schiefem Kopf zuhörte. Und weil seine eigenen Eltern ihn frühzeitig aus dem Nest gestoßen hatten, dauerte ihn das Menschenkind. So hieß er es auf seinen Rücken steigen und flatterte tollpatschig den Brunnenschacht hinauf, dass Rosi ziemlich lachen musste.

Als der Vogel sie am Brunnenrand hatte absteigen lassen, blendete die Sonne Rosi zunächst so stark, dass sie nichts erkennen konnte. Bald aber sah sie vor sich eine wogende Sommerwiese, von leuchtenden Margueriten, Zittergras und tiefblauen Akelei durchglüht und erkannte sofort, dass es die Wiese aus ihrem Traum war. Sie machte drei Schritte und da lag die Mutter, in friedlichem Schlaf in einer Kuhle im tiefen Gras – genau so wie Rosi sie im Traum gesehen hatte. Und als sie sich über das geliebte Gesicht der Mutter beugte, schlug diese die Augen auf. Und ob ihr’s glaubt oder nicht, das war ein endloses Wiedersehen und das Lachen von Mutter und Tochter hallte über die Sommerwiese. Schließlich setzten sich die beiden zueinander und die Mutter erzählte ihre Geschichte: Wie der böse Vater ihr heimlich einen Schlaftrunk gegeben und anschließend ihrem Körper in den Fluss versenkt hatte in einer großen Aalreuse, die er eigens als ihr Grab gebaut hatte. Und wie der Aal-König sie in letzter Minute aus ihrem Wassergrab befreit habe, weil er so etwas Unschuldige nicht auf dem Gewissen haben wollte. Wie er sie anschließend auf diese Wiese geführt habe und ihre Augen bestrichen mit Sternenschlaf. Und wie sie im Traum ihr Bild in die Kammer der Kinder geschickt habe, immer wieder. Jetzt aber habe die Tochter endlich ihr Rufen gehört. Jetzt müssten sie nur noch das Brüderchen befreien und in dieses Land bringen, wo es ihnen gut gehen werde.

Fragend sahen Mutter und Tochter den jungen Habicht an, der ihnen mit schiefgelegtem Kopf die ganze Zeit zugehört hatte. Und dieser wusste sofort einen Rat: Er werde zum Vaterhaus fliegen und das Brüderchen holen, wenn Mutter und Tochter ihm versprächen, ihn nach seiner Rückkehr in ihre Gemeinschaft aufzunehmen und ihm Schutz zu gewähren. Denn er fühle sich der Welt nicht gewachsen, seit seine Eltern ihn verstoßen hätten. Die beiden Frauen versprachen dies und schon flog der schöne Vogel los. Die Mutter und Rosi warteten bang seine Rückkehr, vergeblich. Schließlich, als nichts geschah, begannen sie stumm, am Waldrand eine Hütte zu bauen, denn die Nächte begannen kühler zu werden. Aber der erste Blick ging jeden Morgen in den Himmel, den sie nach den Schwingen des Habichts absuchten.
Eines Morgens aber, als sie die Hoffnung schon fast aufgegeben hatten, sahen sie den Vogel auf die Laubhütte zufliegen. Und wer hatte seine Ärmchen fest um dessen Hals geschlungen? Der kleine Tim! Bald lagen sich Mutter und Kinder weinend in den Armen. Und dann erzählte Tim seine Geschichte: Wie der Vater getobt habe, als er Rosis Verschwinden bemerkte; wie er den Jungen dafür bestrafen wollte und wie der treue Hund seine Zähne gegen ihn gefletscht hatte, so dass der Vater sich nicht getraute, die Hand zu erheben gegen den Sohn. Wie er schließlich den Hund erschlagen habe und Tim an den Türpfosten gefesselt, damit er nicht der Schwester nachlaufe. Und wie plötzlich der Habicht aufgetaucht sei und in der Nacht mit seinem scharfen Schnabel die Fesseln angepickt habe, Stunde um bange Stunde. Und wie der Vogel es schließlich geschafft habe, Tims Fesseln zu lösen und ihn auf seinen Rücken steigen ließ, um ihn zu Mutter und Schwester zu bringen. Und dann lagen die drei sich wieder in den Armen, während der Habicht mit seiner schönsten Stimme das alte Lied sang:

Fürchte nicht der Sonne Glut
Noch des Winters Sturmgewalten.
Du gingst heim, dein Tagwerk ruht,
Deinen Lohn hast du erhalten.

Letzte Aktualisierung: 03.06.2012 - 18.12 Uhr
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