Der himmelblaue Schmengeling
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Nachtschicht | Juli 2012
Schlaflos
von Jochen Ruscheweyh

Der Schlaf ist ein Erlöser, sagen die Calpateri-Indianer, tötet das Jetzt und gebiert uns aus der Höhle des Schlafes im Morgen wieder.
Das behauptet zumindest die Gebrauchsanweisung zu dem kleinen Traumfänger, der seit mehreren Jahren unter meiner Decke hängt. Mehr zur Zierde, seit ich beschlossen habe, nicht mehr zu träumen.
Möglicherweise erfüllt er seine Bestimmung für Valerie, denn ihre Augen flattern und zucken hinter geschlossenen Lidern, während der Vormittag seinen fetten Wanst durch die Jalousien zwängt.
Ich muss wieder einschlafen. Zwei Stunden reichen nicht.

Mit kaum sichtbaren Wimpernschlägen fächert mir Valerie die Ausdünstungen ihres Traums zu. Ich rieche Angst, Schmerz und Verlust.
Unser Arrangement ist so simpel wie pragmatisch: Kein Sex.
Nur Nähe.
Nähe, die wir zum Einschlafen brauchen, seitdem wir beide ohne Partner sind.
Nachtschicht in Vollzeit, das hält keine Beziehung lange aus. Der Krake aus Überstunden und Plus-Schichten wirbelt so lange mit seinen Tentakeln, bis er den anderen gepackt hat, schnürt die Kehlen der Menschen zu, die sich einmal versprochen haben, über ihre Gefühle zu reden, und verspritzt die schwarze Brühe der Eifersucht aus seinen Drüsen, bis die Poren jeder Liebe verkleben.
Wenn ich nicht wieder einschlafe, stehe ich die Schicht nicht durch.

Valerie spricht wenig von ihren Kindern. Braungelockte Engel, die jetzt bei ihrem Ex-Mann leben, der mit seiner neuen Partnerin das Leben im Grünen führt, von dem Valerie und er immer geträumt haben. Das Leben, das sie – so sein Plan – mit ihren Schichten ermöglichen sollte.
Er war bemüht, sein Durchhaltevermögen in letzter Konsequenz jedoch begrenzt. Schließlich ging es ja um seine Entbehrungen.
Das Formular, mit dem sie auf das Umgangsrecht verzichtete, lag ungünstig oder gut versteckt zwischen der zweiten und dritten Seite des Kündigungsvordrucks der gemeinsamen Wohnung.
Ich muss schlafen. Ohne Schlaf wird der Mensch verrückt, beginnt zu halluzinieren, hat das Gefühl, die Kontrolle zu verlieren.

Valeries Traum verbiegt ihren Körper, lässt ihren Mund Worte formen, in denen die Vokale fehlen. Ausgesiebt. Der Möglichkeit beraubt, jemals ihren Adressaten zu erreichen, weil unvollständig.
Ich höre das Pausenläuten der Grundschule, die die Kinder besuchen sollten, die wir nicht bekommen haben. Es hat sich kaum verändert, seit Patrizia und ich uns entlobt haben. Immer noch der schrille, metallische Glockenton, nur dass er jetzt aus dem Computer kommt. So wie Patrizias E-Mails an meinen Geburtstagen, die ich höflich lösche. Schuld hat viele Dimensionen. Meine liegt im Gestern.
Ich kann nicht wieder einschlafen.



Viel später spüre ich, dass Valerie erwacht und schließe die Augen. Sie ahnt nicht, dass ich meinen Kampf mit dem Wachbewusstsein seit Stunden verloren habe. Ich denke, mittlerweile erreiche ich nicht einmal mehr Stadium zwei der Non-REM-Schlafphase, wie mir diverse Internetseiten rückversichern.
Beim nachmittäglichen Frühstück zwischen Croissant und Ei fragt sie mich, wie ich geschlafen habe und ich lüge. Wie immer. „Wunderbar.“
Und wie immer atmet sie stumm und geduldig mit kleinen ruhigen Zügen die Traurigkeit aus meiner Küche, räumt den Tisch ab, während ich unsere Dienstkleidung in die Waschmaschine werfe. Valeries Kopf liegt für 12000 Umdrehungen und einen Trocknergang auf meiner Brust. Dann bügele ich, sie schaut Tierdokumentationen ohne Ton, während draußen das Leben ohne uns stattfindet.

Nach der obligatorischen, fast schüchternen Umarmung zum Abschied im Flur bleiben mir noch zwei Stunden bis Dienstbeginn, von denen ich nicht weiß, wie Valerie sie verbringt.
An Schlaf ist nicht mehr zu denken. Also fülle ich meine Küche mit neuer Traurigkeit auf, bis Valerie und ich uns aus verschiedenen Richtungen der Stadt wieder unserem Mittelpunkt nähern, mit dem Anlegen der Dienstkleidung zu professionell arbeitenden Kollegen werden, unseren Kunden gegenüber die Fassade lebensbejahender Fröhlichkeit aufrechterhalten und perfekt klingende Alltäglichkeiten von unseren Partnern erzählen, von denen niemand außer Valerie und mir weiß, dass das Jetzt sie getötet hat.

Die wenigen freien Tage im Monat, in denen wir nicht einspringen oder Zusatzschichten übernehmen können, verbringt Valerie bei ihrer Mutter. Schlaflos.
Ich sage „Ja“, wenn sie mich am Vormittag anruft und fragt, ob ich auch nicht schlafen kann.
„Mir fehlt dein Atmen“, fügt sie nach einer Pause an.
„Ohne dich ersticke ich hier“, gebe ich zurück.
Dann legen wir die Hörer zur Seite und halten die Verbindung.



An diesem einen Morgen vor zwei Wochen, als sie sich zu mir ins Bett legte und nicht aufhören konnte zu zittern, zog ich sie zu mir heran und gab ihr das bisschen Wärme, das ich noch in mir trug. Als ihr Zittern nachließ, sagte sie: „Ich möchte mich so gerne in dich verlieben, aber ich glaube, mir fehlt die Kraft dazu.“



Die Calpateri-Indianer irren.
Es gibt keinen Erlöser, der das Jetzt tötet.
Wir werden jeden Tag in der Hölle wiedergeboren.
Ich habe schon lange die Kontrolle verloren.
Valerie auch, deren Augen hinter geschlossenen Lidern flattern und zucken, während der Vormittag seinen fetten Wanst durch die Jalousien zwängt.


Version 2

Letzte Aktualisierung: 21.07.2012 - 16.16 Uhr
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