Honigfalter
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Nachtschicht | Juli 2012
Der Vater
von Reiner Pörschke

„Meer von Stein und Menschen,
grau und farblos,
durchbrochen vom schmutzigen Grün der Parks.

Geplantes Gewirr der deutschen Wirtschaft,
schwarz und reich,
geschaffen in mühsamer Arbeit von Generationen.

Labyrinth der Fabriken, Wolken von Staub,
rot und gelb,
beleben den Himmel in fantastischer Weise.

Gespenstische Lichter in der Nacht,
Hochofenabstich, zuckende, leuchtende Feuer,
Teil der konstruierten Schönheit.

Ein Gebiet, losgelöst von der Natur,
Raum geometrischer Formen,
entwickelt von Menschen mit Sinn für Funktion und Leistung.“


„Da hat er sich wieder was zusammengeschrieben“, denkt Herr Klement. „Aber gut, ich sag ja immer, der Junge ist zu Höherem geboren. Frank wird seinen Weg machen, da muss ich ihn unterstützen. Auch wenn mein Job noch so anstrengend ist!“

Er hat zehn Tage lang Morgenschicht von 6.00 bis 14.00 Uhr, dann drei Tage frei, zehn Tage Mittagschicht, drei Tage frei, schließlich zehn Tage Nachtschicht von 22.00 bis 6.00 Uhr morgens. Und dann wieder von vorne.

„Das Ganze mache ich jetzt schon elf Jahre lang. Wird gut bezahlt, deshalb mache ich es ja auch, ist aber beschissen. Ob und wie ich bei dieser Wechselschicht vernünftig schlafen kann, interessiert doch keinen.“

Er schaut durch das Fabrikfenster in die Nacht. Sein Sohn Frank ist ein guter Schüler auf dem Gymnasium. Das Gedicht ist eine Hausaufgabe aus seinem Deutschunterricht, Herr Klement hat es sich in seine Nachtschicht mitgenommen. Normalerweise ist hier nachts nämlich kaum was los! Da ist man für etwas Abwechslung dankbar.

Er sieht auf die große Uhr an der Wand des Büros, halb zwölf. Im Raum herrscht schummriges Dämmerlicht. Regelmäßiges Summen und Ticken ist zu hören, sonst nichts. Kontrolllampen leuchten grün oder gelb auf. „Grün“ bedeutet alles o.k., „gelb“ eine Unregelmäßigkeit, die aber in der Regel bald wieder automatisch behoben wird.

„Was mache ich hier eigentlich die ganze Zeit? Sitze als Maschinensteiger im Kraftwerk und passe auf. Worauf? Auf Maschinen, mit denen Strom erzeugt wird. Gute deutsche Wertarbeit! Wenn nichts passiert wie heute, ist es langweilig. Also Zeit für mein erstes Bier“, denkt er und blickt erneut auf die Uhr, die jetzt halb eins anzeigt. „Um drei Uhr wie immer die zweite Flasche mit meinem Kumpel Ralf. Dann kann ich noch mit dem Auto nach Hause fahren.“
Es ist ja nicht viel los auf den Straßen um halb sieben morgens, und er kennt den Weg in- und auswendig.

„Hoffentlich kann ich nur einigermaßen schlafen, wenn die Laster am Vormittag auf dem Kopfsteinpflaster vor unserem Haus vorbeidonnern oder die Kinder über die Treppe trampeln.“

Blinkende rote Lampen und eine gellende Sirene reißen ihn aus seinen Gedanken, Ralf stürzt herein. „Futsack“, schreit er, „komm mit, Turbine 2 spinnt.“ Hektik bricht aus, Herr Klement turnt mit seinen Kollegen zwischen den Maschinen herum, drückt hier ein paar Hebel, dreht dort an Ventilen. Zwischendrin ist natürlich der Betriebsleiter am Telefon, der von seinem warmen Bett aus anruft. „Das schaffen Sie doch wohl, Herr Klement, ich kann mich auf Sie verlassen, oder?“ „Klar, Chef!“ Um fünf Uhr morgens läuft die Turbine endlich wieder normal.

Im Büroschrank steht für solche Momente eine Flasche Korn. Die puffert die Aufregung. „Elf Jahre haben den Vorteil, dass ich mich hier nicht mehr verrückt machen lasse. Haben wir hier doch alles schon erlebt!“ Gott sei Dank, auch der Heimweg durch die leeren Straßen klappt ohne Pusten. Er versinkt in seinem Federbett. „Noch sechs Jahre, dann bin ich in Pension...“

Am 60. Geburtstag ist es soweit! Eine große Feier im heimischen Garten, sein Sohn verdient inzwischen auch sein eigenes Geld. „Na also, die ganze Plackerei hat sich gelohnt“, sinniert der Vater stolz in sich hinein. Seine Frau nimmt seine Hand und schaut ihm lächelnd in die Augen.

Zwei Monate später bekommt er Magenkrämpfe. „Ist sicher nichts Schlimmes“, beruhigt er seine Frau, „wahrscheinlich das Falsche gegessen, leg mich wieder ins Bett, hab ja jetzt Zeit. Ich war heut morgen beim Doktor, er hat auch keinen Grund für eine Überweisung gesehen.“ Nach drei Tagen Bettruhe besucht ihn eine Verwandte, Erika, beruflich Schwester am Krankenhaus Bethanien in Moers. „Hör mal, dein Mann gefällt mir gar nicht, er gehört ins Krankenhaus. Ich sorge dafür!“, wispert sie ihrer Schwägerin draußen auf dem Flur zu.

Die Ärzte kümmern sich um ihn, aber nach weiteren drei Tagen stirbt Herr Klement in der Klinik, Diagnose: Magenkrebs.

Der Oberarzt berichtet der Witwe: „Wir haben den Magen Ihres Mannes geöffnet, aber sofort wieder zugemacht. Die Metastasen waren überall, eine Operation hätte keinen Zweck mehr gehabt. Er hätte diese in Betäubung auch nicht überlebt, die Leber war ruiniert. Sie hätten mir zumindest vorher sagen sollen, dass Ihr Mann Trinker war!“

Frau Klement fällt aus allen Wolken und fährt den Arzt an: „Mein Mann hat nicht getrunken!“





Reiner Pörschke

3. Fassung

Letzte Aktualisierung: 24.07.2012 - 17.26 Uhr
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