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Nachtschicht | Juli 2012

Solitaire
von Susanne Ruitenberg

Mehrstimmiges „Gute Nacht“, von gegähnt bis bierselig gegrölt, hallte durch das Foyer. Endlich verschwanden die letzten Gäste in den Aufzügen. Volker sah auf die Uhr. Fast eins. Barkeeper Silvio baute sich vor der Rezeption auf. „Mann, hatten die Sitzfleisch. Ich dachte, die gehen gar nicht mehr weg.“ Er reichte die Kasse herüber.
Volker verstaute Einnahmen im Tresor. „Hast du alles ausgemacht? Nicht, dass die Chefin den Stromverbrauch ...“
Silvio rollte mit den Augen. „Bitte, ich wollte ohne Albträume schlafen. Bis morgen.“
„Bis später, meinst du, gestern ist längst vorbei und morgen ist heute.“
„Oder so.“

Nach einer Stunde hatte Volker die üblichen Nachtarbeiten erledigt: Frühstückslisten drucken für die Buffetdamen, Weckliste überfliegen, Anmerkungen für Housekeeping ins Log eintragen. Nach einem Kontrollrundgang setzte er sich hin und sah auf die Uhr. Viertel nach zwei. Was tun mit der angebrochenen Nacht? Internet. Immer eine gute Idee. Seit sie an der Rezeption das zweite Laptop mit Flatrate hatten, konnte man sich endlich die Langeweile in den wunderbaren Weiten des Web vertreiben.
Nachdem er seine Mails kontrolliert und festgestellt hatte, dass sich auf Facebook keine engen Freunde herumtrieben, zeigte die Uhr immerhin kurz vor drei. Zeit für ein gepflegtes kleines Solitaire, bevor er sich durch die Tagespresse las.
Als er eine Königsreihe auf einen freien Platz verschob, hörte er deutlich das Geräusch fallender Tropfen. Laut. Instinktiv sah er nach oben. Lief irgendwo eine Badewanne über? Nichts.
Nein, das kam aus dem Laptop. Ganz eindeutig aus den Lautsprechern. Youtube hatte er heute doch gar nicht besucht.Er tippte das Touchpad an und zog die Hand weg, als hätte er sich verbrannt.

Solitaire war verschwunden.
Stattdessen zeigte der Screen ein gruseliges Bild:
Eine Badewanne, randvoll mit rosafarbenem Wasser.
Jemand lag darin, eine junge Frau, den Kopf unnatürlich angewinkelt, Blutspuren am Hals, den Arm über den Badewannenrand drapiert. Blutiges Wasser lief daran hinab. Es waren diese Tropfen, die er gehört hatte. Und das Schlimmste: Er kannte das Badezimmer. Es befand sich in einem der Zimmer. In welchem, hätte er jedoch nicht sagen können. Aber wie kam das Bild überhaupt auf den Rechner? Die Gästezimmer waren nicht kameraüberwacht, es sei denn, die Chefin hatte in ihrer grenzenlosen Paranoia ein Überwachungssystem eingebaut. Möglich wäre es. Auch, dass sich einer der Kollegen der Nachtschicht als Spanner betätigte und sich ein privates Kino geschaffen ... nein, unmöglich, keinem traute er das zu. Bevor er die Polizei rief, sollte er überprüfen, ob es momentan Gäste in diesem Alter gab.. Er rief die Liste auf und sortierte nach Geburtsdatum, soweit vorhanden. Drei allein reisende Frauen kamen in Frage und dazu einige, die mit Partner eingescheckt hatten. Aber er konnte doch nicht nachts bei den Gästen klopfen! Was sollte er sagen? „Entschuldigen Sie, ich wollte mich nur eben vergewissern, dass Sie noch leben und nicht ermordet worden sind, weil, wissen Sie, mein Laptop hat so merkwürdige Bilder gezeigt und ich habe mir Sorgen gemacht.“ Angezeigt würde er, wegen Belästigung, in Nullkommanix.

Er beugte sich zum Bildschirm. Sie bewegte sich nicht. Ihr langes Haar, wellig an der Stirn, kupferfarben, trieb auf der Wasseroberfläche. Eine richtige Löwenmähne musste das gewesen sein, als die Frau noch lebendig und trocken durch die Weltgeschichte spazierte.
Es half alles nichts, er würde sich ewig Vorwürfe machen, wenn er untätig blieb.

Er schloss die Kassenschublade ab, nahm sich den Generalschlüssel plus Taschenlampe und merkte sich die Zimmernummern der drei solo reisenden Frauen Wenn man ihn erwischte, wäre er den Job hier los, aber Nachtportiers wurden anderswo immer gesucht.
Anklopfen schenkte er sich und öffnete die 103. Auf Zehenspitzen schlich er herein. Der Fernseher lief und warf gespenstisch blaugraues Flackern durchs Zimmer. Eine Frau lag im Bett. Lebendig. In dem Moment seufzte sie und drehte sich um, ihre Lider flatterten. Volker huschte so lautlos heraus, wie er hereingekommen war, und zog vorsichtig die Tür zu. In der 126 lagen Klamotten herum, die Bettdecke zurückgeschlagen und eine Kuhle zeigte an, dass hier jemand gelegen hatte. Die Badezimmertür stand halb offen, Licht schimmerte durch den Spalt. Auf Zehenspitzen schlich er näher, millimeterweise näherte er seinen Kopf der Türkante, lugte mit einem Auge um die Ecke - niemand da. Erst als er die Luft ausstieß, merkte er, dass er sie angehalten hatte, sein Herz hämmerte wie nach einem Halbmarathon. Eilig verließ er das Zimmer, bevor die Bewohnerin noch auftauchte.

Blieb die 217. Mit dem Aufzug fuhr er eine Etage höher und ging langsam den Gang entlang. Vor dem Zimmer hielt er einen Augenblick inne. Hier war es, er fühlte es ganz deutlich. Er riss die Tür auf, wappnete sich innerlich gegen einen Aufschrei und ein „Was wollen Sie hier?“
Stille empfing ihn.
Das Bett war zerwühlt, aber leer, Schuhe auf dem Boden verstreut, eine Hose achtlos über die Stuhllehne geworfen.
Da hörte er ein tropfendes Geräusch und erstarrte. Leise drehte er sich zum Badezimmer um. Sollte er wirklich ... behutsam schob er die Tür auf, schaltete die Taschenlampe ein und hätte beinahe einen Schrei ausgestoßen. Doch was seine Augen ihm im ersten Moment als Wasserleiche vorgegaukelt hatten, entpuppte sich als aufgespannter Regenschirm, den jemand zum Trocknen in die Wanne gestellt hatte. Ein Tropfgeräusch, neben ihm. Hektisch blickte er in die Richtung. Nur der Wasserhahn, und er arbeitete gerade am nächsten.
Erleichtert floh er an seinen Platz zurück.

Das Bild auf dem Laptop zeigte unverändert die tote Frau in der Wanne. Inzwischen hatte sich eine rote Pfütze unterhalb ihres herabhängenden Armes gebildet. Er traf eine Entscheidung und wählte die Nummer der Polizei. „Ja, guten Abend, Volker Grün, Nachtportier vom Hotel am Markt, ja, also. Ich möchte eventuell einen Mord melden ... ja, das ist so ... ich habe hier das Bild einer Frauenleiche auf dem Laptop und ... nein, kein Standbild, es bewegt sich, muss eine Webcam sein ... doch, es ist eines unserer Zimmer, aber ich weiß nicht ... Videoüberwachung haben wir nicht, zumindest nicht in den Gästezimmern, aber ... nein, ich kann es mir ja auch nicht erklären.“
Man versprach, jemanden vorbei zu schicken. Begeistert hatte es nicht geklungen. Während er wartete, starrte Volker auf die rote Pfütze und wie sie langsam anwuchs.
Eine halbe Stunde später hielt ein Streifenwagen auf dem Platz direkt vor dem Portal, zwei Beamte stiegen aus. Volker stand auf.
„Kommissar Behrend, haben Sie angerufen wegen eines vermeintlichen Leichenfundes?“
„Ja, es war plötzlich auf dem Laptop und ...“

Die Beamten hatten die Rezeption umrundet und traten in den engen Raum hinter der Theke. Volker deutete auf das Laptop und erstarrte.

Keine Frau in der Badewanne. Statt dessen ein halbfertiges Solitaire. Hektisch tippte er auf den Touchpad. „So war es vorhin, ich spielte, um mir die Zeit zu vertreiben, und dann berührte ich das Feld und das Bild war da. Es hat sich ja auch verändert, sie lag tot in der Badewanne und an ihrem Arm lief Wasser hinab.“
Er probierte Browserverlauf, ‚zuletzt verwendet‘ - nichts. Seine Ohren und sein Gesicht fühlten sich heiß an, was würden die Beamten jetzt von ihm denken? Langsam drehte er sich um und zuckte zusammen, als er die spöttischen Mienen der beiden erblickte.
„Nun, Herr Grün, da hat Ihnen Ihre Phantasie wohl einen Streich gespielt. Nichts für ungut, Nachtdienste können sich dehnen. Wir waren ohnehin auf dem Weg in dieses Viertel für eine Kontrollrunde. Gute Restnacht.“

Als sie weg waren, ließ sich Volker auf seinen Stuhl fallen. Welch ein Erlebnis! Hatte sein Laptop Bilder aus der Vergangenheit empfangen, war hier mal ein Mord passiert? Er beschloss, die Augen und Ohren offen zu halten, mehr konnte er nicht tun. Aber ab übermorgen hatte er Urlaub und würde bei der örtlichen Zeitung im Archiv schnüffeln gehen.

Drei Tage später blickte Volkers Urlaubsvertretung Tahar von seiner Zeitschrift auf, als sich ein weiblicher Gast mit einer Reisetasche näherte. Unwillkürlich streckte er sich und setzte sein charmantestes Lächeln auf. Welch eine schöne Frau, auch wenn sie ängstlich und gehetzt dreinblickte. Vielleicht lief sie vor ihrem Freund davon. Er sollte versuchen, mit ihr ins Gespräch zu kommen.
„Willkommen im Hotel am Markt.“ Er schob ihr einen Anmeldeschein zu.
„Vielen Dank.“ Sie lächelte schüchtern und nahm einen Stift.
Tahar beobachtete sie, während sie mit sparsamen Bewegungen den Zettel ausfüllte.
Wer könnte einer solchen Erscheinung Böses antun wollen? Groß gewachsen, um die dreißig - und erst das Haar!
Eine wahre Löwenmähne, wellig, kupferfarben ...


©Susanne Ruitenberg
Version 2

Letzte Aktualisierung: 27.07.2012 - 16.29 Uhr
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