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Nachtschicht | Juli 2012

Moonrise
von Eva Fischer

Er wacht auf, wenn der Tag erlischt.
Mühsam trennt er sich von seinem Tagtraum.
Er reckt seine Glieder, gähnt, hat Hunger.
Mal sehen, was man ihm dieses Mal aufgetischt hat.
Sorgfältig schält er die Sonnenblumenkerne, einen nach dem anderen.
Er mag Sonnenblumenkerne, doch ein bisschen mehr Abwechslung hätte ihn auch erfreut.
Versonnen schaut er in die Dunkelheit, fährt sich über seinen zitternden Bart.
Abendtoilette. Täglich wiederkehrendes Ritual.
Dazu braucht es keinen Spiegel.

Er setzt sich in Bewegung, besteigt sein Rad, bringt sich in Schwung.
Einen Fuß vor den anderen. Nur nicht stolpern.
Schnell, immer schneller! Ja, so ist es gut!
Die Gedanken umkreisen ihn wie Mücken,
Tagträume verfolgen ihn.
Er kann ihnen nicht entkommen.
Sie bleiben die ewig Gleichen.
Heimat, die er nie gesehen,
Geliebte, die er nie gefunden hat.
Nur eine Ahnung davon, irgendwo da draußen, treibt ihn an.

Der Mond hat sein sanftes Licht entzündet, weist ihm den Weg durch die Gitterstäbe.
Er muss sich nur schmal machen, dann passt er durch.
Er rüttelt an den Stäben, dass es scheppert.
Vergeblich! Seine verdammte Fressgier steht ihm im Weg.
Also, zurück zum Rad.
Weiter.
Er setzt alles in Bewegung. Ohne ihn läuft hier nichts.
Höher, er schafft es immer höher.
Schon bald fällt er zurück, bleibt auf der Strecke.
Sisyphusarbeit.
Der Mond grinst.

Nein, jetzt steigt er aus, fährt sich erneut über den Bart,
was ihm ein nachdenkliches Aussehen verleiht.
Vielleicht findet sich ein anderer Ausweg.
Irgendwo muss es ihn geben.
Wo bleiben seine besonderen Fähigkeiten, seine Begabung?
Die Natur hat ihn doch reich beschenkt.
Er könnte sich ein Loch bohren.
Der Weg in die Freiheit zum Greifen nahe.

Er sucht nach einer geeigneten Stelle.
An einer Stelle weist das Bollwerk unmerkliche Risse auf.
Er beißt sich fest.
Das Holz splittert Feuerfunken.
Millimeter für Millimeter arbeitet er sich vorwärts.
„Don’t, don’t give up. It’s such a beautiful life.”
Er betört sich an der Melodie seiner Arbeit.
In seinem Körper bündelt sich alle Energie dieser Welt.
Mag der Mond hinter den Dächern verschwinden.
Er selbst bleibt, lässt nicht locker..
Das Loch ist schon einen Zentimeter groß.
Zu klein für seinen Körper.
Weiter.
Kratzen, Nagen, Hämmern, Schlagen.
Ausdauer, Geduld, Hoffnung.
Die Zeit streicht lautlos durch die Nacht.

Der Mond verliert sein Gesicht, weicht seinem Rivalen Sonne.
Zu spät.
Müdigkeit fährt bleiern in seine Glieder.
Er zupft sich die Wolle zurecht, zieht sie über seinen Kopf.
Er mag den Sonnenschein nicht.
Dieser Tagtraum wird wunderbar werden.
Seine Beine zucken glücklich im Schlaf.
Morgen ist auch noch eine Nacht.

„Guck mal, Mama, was Max da gemacht hat!“
„Es wird Zeit, dass wir Opas Holzkäfig austauschen. Durch einen Plastikkäfig kann sich ein Goldhamster nicht nagen.“

Letzte Aktualisierung: 07.07.2012 - 21.58 Uhr
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