Diese Seite jetzt drucken!

Nachtschicht | Juli 2012

Drei auf einen Streich
von Ingo Pietsch

Donner hallte über den Hof und Blitze ließen die wildgewachsenen Büsche unheimliche Schatten auf die Häuserwand werfen.
Der Hof der ehemaligen Schlachterei war im Gegensatz zum gepflegten Ladeneingang auf der anderen Seite verwahrlost.

Zum Glück regnete es nicht, denn Sebastian und Marcel hockten unter einem Strauch und beobachteten die hell erleuchteten, halb verhangenen Glasscheiben der früheren Warenannahme.
In der Ferne schlug die Kirchturmuhr Mitternacht.
Beide hatten gehofft, dass der „Glöckner“, wie sie den alten Grote nannten, früher nach Hause fahren würde.

Das Gewitter hatte sich schon den ganzen Tag durch drückende Luft angekündigt. Und jetzt begann sich der Himmel zu entladen.

Der „Glöckner“ war Bestatter von Beruf. Sein Buckel und sein schiefer Gang hatten ihm seinen Spitznamen beschert. Alle Kinder fürchteten sich vor ihm, nicht nur wegen seines Aussehens, sondern weil er dort auftauchte, wo jemand gestorben war.

Die beiden Fünfzehnjährigen waren müde. Sie warteten schon zwei geschlagene Stunden.
Und tatsächlich: Nach dem nächsten Blitzen gingen die Lichter aus.
Der Glöckner trat aus der Tür. Er wollte gerade abschließen, da drehte er sich um und blickte zu dem Strauch, unter dem Sebastian und Marcel hockten.
Beide hielten die Luft an.

Der alte Grote hielt inne und sein Blick wanderte weiter. Schließlich wandte er sich wieder der Tür zu und schloss ab. Dann stieg er in den alten, aber top gepflegten Leichenwagen und fuhr davon.
Sebastian und Marcel sprangen auf und sprinteten zur Tür. Die immer häufiger werdenden Blitze ließen sie alles gut erkennen.
Sebastian zog einen nachgemachten Schlüssel aus der Tasche. Den hatte er von einem Mitschüler bekommen, der sie zu dieser Mutprobe überredet hatte.

Und tatsächlich ließ sich die Tür damit öffnen.
Woher der Schlüssel letztendlich kam, war egal.
Die beiden Schüler schlichen in den Vorraum.
Marcel leuchtete mit seiner Stabtaschenlampe herum: Alles verkachelt mit weißen Fliesen. An der Decke befand sich noch die Transportschiene für große Fleischstücke. Es roch nach Desinfektionsmittel.
Sebastian und Marcel zuckten beim nächsten Donnerschlag zusammen. Weitere Blitze ließen den Raum taghell erscheinen.
Aus etlichen Regalen glotzen sie ausgestopfte Tiere an. Füchse, Eulen, Hasen, Katzen und sogar Hunde.
Marcel hätte beinahe seine Lampe fallengelassen, als Sebastian ihn rückwärts anrempelte.
Panisch rief er: „Jetzt mach schon die bescheuerten Fotos und dann lass uns wieder abhauen!“
„Ok, ok“, stammelte Sebastian. Er schoss ein paar Bilder mit seinem Handy, die aber viel zu unscharf und verwackelt waren.
„Was dauert das denn so lange?“ Marcel nervös leuchtete hin und her.
„Es ist zu dunkel. Leuchte mal hier rüber.“
Das Licht erhellte einen kleinen Bären. Der nächste Blitz schien ihn aber auf seine doppelte Größe heranwachsen zu lassen. Die Tatzen zum Angriff erhoben, das Gebiss weit auseinandergerissen. Die gläsernen Augen glühten rot im Taschenlampenschein.
Sebastian und Marcel schrien wie aus einem Mund.

Zum Glück hatten sie nicht, wie geplant, Thomas mitgenommen. Er ging in die gleiche Klasse wie die beiden und wohnte in der selben Straße. Er litt an Asthma und war ständig kurzatmig. Deswegen waren sie heimlich losgezogen, ohne ihm Bescheid zu sagen.

Als sie sich wieder beruhigt hatten, machten sie zusammen die Fotos.

Der alte Grote war nicht nur Leichenbestatter, sondern er stopfte auch Tiere aus.
Marcel tippte den Bären an und lachte dabei: „Und vor dem Pelzvieh haben wir Angst gehabt!“
Sebastian wollte mitlachen, zuckte aber zusammen, als der Regen mit einem infernalischen Trommeln gegen die Fensterscheiben schlug.
Er schüttelte den Kopf: „Wir sollten lieber wieder verschwinden.“
Marcel sah sich auf dem Rückweg noch flüchtig um. Auf einer der Werkbänke lag ein Umschlag.
Sebastian stand schon an der Tür: „Was ist denn?“
In Gedanken las Marcel den Text laut vor, der darauf geschrieben stand: Für meinen Lieblingsneffen Timo.
Marcel öffnete den Umschlag. Darin befanden sich zwei Fünzig-Euro-Scheine.
Fragend sah er Sebastian an. War das Geld für den Timo, der ihnen den Schlüssel gegeben hatte?
Marcel legte den Umschlag zurück und beeilte sich, wegzukommen. Es wurde ihnen zu unheimlich.
Gerade als er die Tür erreicht hatten, fuhr ein Fahrzeug in den Hof. Eine Tür wurde zugeschlagen und Schritte näherten sich.
Beide Jungen spähten aus einem Fenster. Der alte Grote stapfte durch den Regen.
„Mist, der Glöckner ist wieder da. Wir müssen uns irgendwo verstecken.“
Sie sahen sich um, aber hier gab es nichts, was geeignet gewesen wäre.
„Die Tür!“ Sie rannten darauf zu und befanden sich gleich darauf in einem ähnlichen Raum wieder.
Nur dass hier ein halbes Dutzend Särge standen. Und es gab noch eine weitere Tür. Die war allerdings verschlossen.
Marcel bekam eine Gänsehaut: „Ich glaube, wir müssen uns in einem der Särge verstecken!“
„Hast du `ne Macke? Ich klettere nicht in so ein Ding rein.“
„Was glaubst du, was der Alte mit dir anstellt, wenn er dich erwischt?“ Marcel öffnete den Deckel: „Da passen wir beide rein. Los, mach schon!“
Von nebenan drang eine Stimme in den Raum: „Ich bin mir sicher, abgeschlossen zu haben. Ah, da liegt der Umschlag ja!“
„Leg was zwischen den Deckel. Nicht, dass wir noch ersticken.“ Sebastian legte das Handy auf den Rand und zog vorsichtig den Deckel zu.
Gerade rechtzeitig, denn da ging die Deckenbeleuchtung an und warf einen Lichtstreifen ins Innere des Sarges.

„Ich weiß, dass du hier bist! Oh, du willst Versteckspielen! Da mache ich doch mit!“
Beide konnten durch den schmalen Schlitz sehen, wie ein Sargdeckel aufgerissen wurde.
Das grimmige Gesicht des Glöckners wandte sich ihnen zu: „Ich will dir doch nichts Böses. Ich will nur mein Einkommen etwas aufbessern. Ich muss schließlich auch von etwas leben. Und Kinder wie du machen mir das Leben zur Hölle. Beschimpft und bespuckt mich. Wie lange kann ein Mensch das ertragen?“
Er humpelte zu ihnen heran.
Die Jungs drängten sich ganz zusammen.
„Hab` dich!“ Doch statt dass der Deckel aufging, fuhren die Finger des Bestatters durch den Schlitz und zogen das Handy heraus. Der Deckel schloss und es klickte zwei Mal.
„Zu dumm, dass du dir dieses Modell ausgesucht hast. Das ist jetzt luftdicht versiegelt.

Ich schätze, du hast noch für zwanzig Minuten Luft. Dann werde ich wiederkommen. Hm, wenigsten brauche ich mir die Finger nicht schmutzig machen. Aber ich muss mir noch überlegen, wie ich deinen Tod am besten inszeniere. Vielleicht setze ich dich ans Steuer des Autos deiner Eltern zu Hause in der Garage. Und alle denken, du bist erstickt, weil du heimlich den Motor gestartet hast.

Oh ja, das ist eine gute Idee. Und ich bin dann der Erste mit dem besten Angebot für deine Beerdigung. Sehr fein. Bei den anderen Jungen war ich schließlich auch der Erste.“

Der alte Grote lachte laut und klatschte in die Hände. „Vorher habe ich noch etwas anderes zu erledigen. Bis gleich!“ Er klopfte noch zweimal kurz hintereinander mit der flachen Hand auf den Deckel und trottete nach draußen, um seinen Wagen fertig zu machen.

Marcel schaltete die Taschenlampe ein. „Wir müssen hier raus.“
Sebastian hechelte: „Ach ne.“ Er riss den eingenähten Stoff ab. Aber es gab nichts zum Öffnen dahinter.
Marcel schlug Sebastian den Ellenbogen in die Rippen: „Und das alles nur wegen dir, weil du unbedingt in die Clique wolltest!“
„Du hättest ja nicht mitzukommen brauchen!“ Sebastian schlug zurück.

Durch das Gezanke war der Sarg ein Stück verrutscht.
„Los weiter!“, sagte Marcel.
Sie warfen sich in dem Kasten hin und her, bis er zu Boden fiel. Einer der Schnappverschlüsse löste sich. Sie konnten den Deckel einen Spalt weit öffnen.
„Hilf mir mal.“ Marcel stecke seine Lampe zwischen das Holz. Beide zusammen hebelten sie den Deckel auf.
„Raus, Raus, Raus.“

Sie stürmten die Türen nacheinander und blieben wie angewurzelt stehen.
Vor ihnen, völlig durchnässt, stand der Glöckner. Wasser rann von seinem langen Mantel. Er stützte sich auf eine Schaufel.

Immer wieder zuckten Blitze vom Himmel und Donner hallte über den Hof.
Hinter dem alten Grote lag ein großer Sack. Eine Schleifspur führte vom Leichenwagen dorthin. Beim nächsten Blitzen konnten Sebastian und Marcel einen Arm erkennen, der daraus hervorlugte.
„Haha, drei auf einen Streich!“ Mit einem Satz war der Glöckner nahe genug und holte mit der Schaufel aus.
Sie ging nur Zentimeter daneben, das Blatt traf eine der Rückleuchten des Mercedes.
Gleichzeitig donnerte es.
Jetzt rannten beide endlich los.
„Lauft nur!“, schrie der Glöckner hinterher. „Euch wird sowieso keiner glauben!“ Etwas leiser und nicht mehr so selbstsicher murmelte er dann vor sich hin: „Euch wird sowieso keiner glauben.“

Als Sebastian und Marcel in ihrer Straße ankamen, wurden sie von der Polizei erwartet. Im strömenden Regen durchsuchte sie die Gärten.
Völlig durchnässt wurden sie zu ihren Eltern gebracht.
„Wo seid ihr gewesen? Was habt ihr gemacht? Was habt ihr euch nur dabei gedacht?“, prasselten die Fragen auf sie ein. Und dann kam die schlimmste aller Fragen: „Wo ist euer Freund Thomas?“

Letzte Aktualisierung: 27.07.2012 - 15.24 Uhr
Dieser Text enthält 9253 Zeichen.


www.schreib-lust.de