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Nachtschicht | Juli 2012

Die Nacht, in der ich Sherlock traf
von Elmar Aweiawa

Vom Schreiben kann man leben, wenn man erstens talentiert ist, zweitens Glück und drittens einen guten Verleger hat. Mir war das nicht beschieden, und so musste ich mir eine andere Verdienstquelle suchen. In Anbetracht meiner insgesamt eher bescheiden zu nennenden Fähigkeiten bewarb ich mich um den Posten eines Nachtwächters in der größten Bibliothek unserer Stadt.
Besonders interessant fand ich den Raum mit Erstausgaben berühmter Bücher. Dort hielt ich mich oft auf und blätterte in den wertvollen Folianten. Zeit hatte ich genug. Nur einschlafen durfte ich nicht, sonst verlor ich meinen Job.

Eines Nachts schreckte ein seltsames Geräusch mich auf. Doch bevor ich reagieren konnte, spürte ich eine scharfe Klinge an meinem Hals.
„Wo ist dieser Schurke?“, schrie mich der Besitzer des Halsabschneidegerätes an.
„Wer? Was? Wie?“
„Stell dich nicht dumm! Wo ist Peter?“
„Welcher Peter? Ich kenne mindestens drei.“
„Noch so eine Antwort und du bist einen Kopf kürzer!“
Langsam wurde mir mulmig, obwohl die Situation so skurril war, dass ich vermutete, mich in einem Traum zu befinden. Doch die Schneide des Messers war verdammt scharf und real. Der Blutstropfen, der mir den Hals herunterlief, fühlte sich unglaublich echt an.

„Ich weiß nicht, welchen Peter Sie meinen.“
„Es gibt nur einen Peter. Wo ist Peter Pan?“
Nein, das konnte nicht sein. Das war unmöglich! Der Mann, der seinen Säbel gegen meine Kehle drückte, konnte nicht ...
„Hook ...?“
„Ha, du kennst mich? Dann kennst du auch Peter. Wo ist er?“
Ich wandte den Kopf, um meinen Widersacher in Augenschein zu nehmen. Die Wut in seinen Augen war glaubwürdig, und es war eindeutig nicht gut Kirschenessen mit ihm.
„Ja, ähem, wie soll ich es sagen ...? Peter und du, ihr seid nur Romanfiguren.“
„Ach, was du nicht sagst? Und mein Säbel stammt auch nur aus einem Buch, was?“
Der Druck am Hals wurde größer und ein weiterer Blutstropfen suchte sich einen Weg nach unten.
Verdammt, der Mann hatte recht. Der bestialische Gestank, der von ihm ausging, war zu real, um eingebildet zu sein. Zwischen Hook und Seife musste Todfeindschaft herrschen oder eine Inkompatibilität grundsätzlicher Art vorliegen.

Doch nein! Wie konnte ich so etwas auch nur denken. Hook gab es nicht wirklich!

„Belästigt dich dieser Mann?“, unterbrach eine helle Stimme meine Überlegungen.
„Meinen Sie mich?“, fragte ich zurück.
„Siehst du sonst noch einen Typen, an dessen Hals gerade herumgeschnippelt wird?“
Das dunkelhäutige Bürschchen, das mit seinen altklugen Bemerkungen nicht gerade zur Entschärfung der Situation beitrug, war höchstens 16 und dünn wie ein Hungerhaken. Keine Hilfe also in meiner Lage.
Doch Hook interessierte sich plötzlich mehr für ihn als für mich und ließ mich los, um sich auf den Knaben zu werfen. Kaum war er einen Schritt auf ihn zugetreten, stürzte sich ein anderer Junge von hinten mit einem dicken Knüppel auf den bärtigen Seeräuber und schlug ihm mit voller Wucht gegen die Beine. Hook sank in die Knie und stürzte vornüber.

„Nichts wie weg!“, brüllten die beiden Jungs, und ohne lange zu überlegen, rannte ich hinter ihnen her, während Hooks ohnmächtiges Gebrüll uns durch die Gänge der Bibliothek verfolgte.
„Klasse, Tom, das haben wir prima hinbekommen“, klatschten sich die beiden ab, als wir endlich stehen blieben. Ich war völlig außer Atem, ganz im Gegensatz zu meinen neuen Freunden, die sich munter unterhielten und begeistert von ihrem Streich waren.
„Danke, ohne euch wäre ich verloren gewesen“, schaltete ich mich ins Gespräch ein.
„Was wollte der alte Hook von dir?“, fragte der, den ich schon als Tom kannte.
„Garantiert wollte er wissen, wo er Peter findet“, kam mir sein Freund zuvor. „Er ist ständig hinter ihm her, doch er erwischt ihn nie. Peter ist viel zu clever für den alten Käpt‘n. Er ist so grenzenlos dumm.“ Er kicherte. „Der hat immer noch nicht geschnallt, dass Tom und Huck nur im Doppelpack auftreten.“

Tom und Huck! Natürlich. Wie konnte ich das erst jetzt bemerken?
„Kann es sein, dass du in Wirklichkeit Huckleberry heißt?“, wollte ich mich vergewissern, und Hucks Nicken bestätigte mir, was ich bereits wusste. Ich war in eine abgedrehte und aberwitzige Geschichte geraten.
„Habt ihr wirklich keine Angst vor Hook?“, wollte ich wissen. „Er sah gefährlich aus.“
„Es gibt nur einen hier, den man fürchten muss“, antwortete Tom.
„Und wer ist das?“
„Du wirst ihn an seinem Holzbein erkennen.“
Kaum hatte er seinen Satz beendet, erklang ein ‚Tock, Tock, Tock’, das langsam näher kam.
„Wenn man vom Teufel redet“, wandte sich Huck missbilligend an seinen Freund.
„Verflucht, das ist John. Am besten, wir verschwinden.“
Mittlerweile vertraute ich den beiden und nahm mit ihnen Reißaus.
„Wer war der Kerl?“, wollte ich wissen.
„Long John Silver.“
„Irre! Sucht er immer noch die Schatzinsel?“
„Klar, ist so eine Art Hobby von ihm. Aber woher weißt du das? Kennst du ihn? Ich sehe dich heute zum ersten Mal hier.“ Tom schaute mich misstrauisch an.
„Ja, ich bin neu hier. Und will auch schleunigst wieder weg. Hab nur keine Ahnung, wie ich das anstellen soll.“
„Ist es ein vertracktes Problem?“, wollte Huck wissen.
„Yepp!“
„Ein sehr vertracktes?“
„Ich denke.“
„Dann ist es ein Fall für Sherlock.“
„Was?! Der ist auch hier? Den will ich unbedingt kennenlernen. Er kann mir bestimmt helfen“, gab ich mich zuversichtlicher, als ich war.

Die Suche nach Sherlock Holmes war aufwändig. Wir begegneten unterwegs dem Großinquisitor (gefährlich), Jim und Lukas (samt Emma), Lady Macbeth (sehr gefährlich) und endlich Mr. Watson, der uns zum größten Detektiv der Literaturgeschichte brachte.

„Ein interessantes Problem“, kommentierte der meine ausführliche Schilderung. „Natürlich ist Ihre Prämisse nicht real, denn dass wir hier alle Romanfiguren sind, ist blühender Unsinn.“
„Nein! ...“, wollte ich protestieren, doch mit einer herrischen Armbewegung wischte er meinen Einwand beiseite.
„Doch ich liebe Rätsel und wir tun mal so, als wäre die Prämisse korrekt. Jetzt kommt es darauf an, von dieser gegebenen Grundlage aus richtige Schlüsse zu ziehen. Denn Schlüsse sind wie Küsse, sodass je zwei zusammen einen ergeben.“
Sein heiseres Lachen erfüllte den Raum, und ich staunte nicht schlecht, dass eine Romanfigur Shakespeare zitieren konnte.

„Wenn alle Menschen in diesem Gebäude Romanfiguren sind, die aus einem der Bücher in der Bibliothek des Museums stammen, dann ergibt sich zwingend ... na, was wohl?“
„Ähem, keine Ahnung“, gab ich zur Antwort. Auch Tom und Huck schüttelten den Kopf.
„Dass auch Mr. Aweiawa eine Romanfigur ist“, bewies Watson seinen geschulten Verstand, „und das Buch, dem er entsprungen ist, steht in dieser Bibliothek.“
„Richtig! Prima, Mr. Watson. Und welche Frage müssen wir uns als nächste stellen?”
„Dafür sind Sie zuständig, Mr. Holmes“, zog sich der Musterschüler aus der Affäre.
„Dann wollen wir gemeinsam überlegen, wer als Autor dieses Buches infrage kommt. Wie uns Herr Aweiawa erzählt hat, schreibt er selbst Geschichten und veröffentlicht sie bei Schreib-Lust. Kann es nicht sein, dass er eine Geschichte geschrieben hat, in der er selber vorkommt?“
„Natürlich, das habe ich. Schon öfters. Aber wie soll uns das weiterbringen?“
„In der Bibliothek stehen nur Bücher berühmter Autoren, und keiner von denen kann über den doch ziemlich unbedeutenden Mr. Aweiawa geschrieben haben. Das können wir mit einer vernachlässigbaren Fehlerwahrscheinlichkeit annehmen.“
Tja, da musste ich ihm recht geben.

„Nichtsdestotrotz befindet sich ein Buch in dieser Bibliothek, in dem Herr Aweiawa eine Rolle spielt. Es kann erst kürzlich dort hingelangt sein, sonst wäre er früher bei uns aufgetaucht. Wenn ich dann noch die Tatsache ins Kalkül ziehe, dass ein gewisser Nachtwächter Zutritt zur Bibliothek hat, der Geschichten schreibt, und zwar, wie er eben zugegeben hat, auch solche über sich selbst, ergibt sich zweifelsfrei folgender Schluss: ...“
Er verstummte und wir alle hielten die Luft an.
„Na, Mr. Watson?”
„Dass er selber ...“
„Haargenau!“ Sherlock klatschte in die Hände und strahlte über beide Backen.
„Mr. Aweiawa hat ein Buch dort deponiert, in dem er selber vorkommt.“

„Äußerst klug kombiniert, Mr. Holmes. Doch leider weiß ich nichts davon, und das widerlegt Ihre Schlussfolgerung.“
„Keineswegs. Wenn Sie eine Romanfigur sind, haben Sie den Wissensstand der Person, die Sie zur Zeit der Niederschrift waren. Das Buch aber haben Sie erst deponieren können, nachdem es geschrieben war. Ergo ...“
Seiner Logik war ich nicht gewachsen. Direkt unheimlich!
„Gut, Sie haben recht. Doch wie mir diese Schlussfolgerungen helfen sollen, von hier zurück in die Wirklichkeit zu kommen, ist mir immer noch schleierhaft“, gab ich zu bedenken.

„Ist doch ganz einfach. Wir suchen das Buch, verbrennen es, und schon sind Sie verschwunden. Zurück in der Realität.“
„Klar, warum bin ich nicht selbst darauf gekommen? Auf, suchen wir das Buch!“
Gemeinsam stürmten wir durch die Bibliothek. Sie war riesig und es schien ein hoffnungsloses Unterfangen, besagtes Buch in absehbarer Zeit zu finden, denn die Bücher waren nicht nach dem Alphabet sortiert.
„Das Alphabet würde uns sowieso nicht weiterhelfen“, kommentierte Sherlock meine Niedergeschlagenheit angesichts des ersten Misserfolgs.
„Wieso?“, wollte ich ungläubig wissen.
„Weil Sie, Mr. Aweiawa, das Buch mit Sicherheit nicht irgendwo so hingestellt haben, dass es in absehbarer Zeit gefunden werden kann. Überlegen Sie sich mal den Skandal, wenn herauskäme, dass ein Buch von minderwertiger Qualität hier deponiert worden ist.“
Langsam ging mir Herr Holmes mit seinen Überlegungen auf den Wecker.

„Sie haben es versteckt, und was bietet sich da mehr an als ...“
Beherzt griff er in eine Lücke hinter der Heizung und zog ein Heft hervor.
„Die Nacht, in der ich Sherlock traf“, las er den Titel vor. „Und der Autor: Elmar Aweiawa.“
Seine triumphierende Stimme erhöhte keineswegs meine Sympathie für den alten Knaben.
Schon zückte er ein Feuerzeug, blätterte das Heft auf, und die Seiten fingen Feuer. Sollte er am Ende recht behalten und ich verschw...


© by aweiawa
Version 3

Letzte Aktualisierung: 12.07.2012 - 16.50 Uhr
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