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Nachtschicht | Juli 2012

Die große Maschine
von Wolf Awert

„Ich hab einen Job für dich. Ist aber nachts.“
Gregor tat immer wichtig und gab mit seinen diversen Verbindungen an, aber er hatte mir schon häufiger geholfen, mich mit kleineren Nebenjobs über Wasser zu halten.
„Ist gutes Geld“, sagte er, als er mich zögern sah.
„Klingt danach, als wäre es entweder illegal oder gefährlich“, sagte ich. „So etwas ist nichts für mich.“
Gregor machte ein beleidigtes Gesicht.
„Wofür hältst du mich? Gutes Geld heißt, dass es sich für dich lohnt. Der einzige Haken ist, du darfst unter keinen Umständen einschlafen.“
„Mach es nicht so spannend, Gregor. Sag mir lieber, worum es geht.“
„Um eine Sache von Leben und Tod.“
„Gregor! Keine Spielchen.“
„Du solltest mich besser kennen. Als wenn ich jemals … Egal. Du sollst …“ Gregor schaute noch schnell über die Schulter, bevor er in Flüsterstimme weitersprach. „Du sollst die Maschine überwachen. Der diensthabende Maschinist leidet an einer Nervenschwäche, sein Stellvertreter hat sich unpässlich gemeldet und der leitende Ingenieur hat sich schlichtweg geweigert. Er sei für Teile der Konstruktion verantwortlich, hat er gesagt, nicht für die Überwachung. Das ist deine ganz große Chance.“
„Die Maschine? Moment, Moment.“
Das ging mir alles viel zu schnell. Die große Maschine war ein bisschen mehr als eine Ansammlung von Zahnrädern und ein paar Drähten. Sie sorgte für das Wohlergehen der ganzen Stadt. Ohne sie brach alles zusammen, und deshalb war sie geheimer als geheim. Bekannt war nur, wo sie stand. Mitten im Regierungsviertel. Aber selbst da ging das Gerücht, dass die Konstruktion aus Beton und Stahl, die alles andere überragte, nichts anderes als eine Attrappe war.
„Du machst Witze“, sagte ich endlich.
„Ich weiß gar nicht, was ein Witz ist“, sagte Gregor. „Selbstverständlich muss ich dich zum Geheimnisträger machen, aber das ist auch schon alles.“
„Und was hast du mit der Maschine zu tun?“, wollte ich wissen.
„Nichts. Aber ich arbeite zufällig für die Regierung.“
„Und was habe ich zu tun?“
„Das zeige ich dir heute Abend vor Ort. Punkt achtzehn Uhr. Ist eine Zwölf-Stunden-Schicht. Komm also bitte ausgeruht.“

Jetzt saß ich hier in einer fast leeren Kontrollzentrale, Einer gläsernen Kuppel, die an einem Stahlträger klebte wie eine vergessene Bienenwabe. Frei schwebend zwischen Himmel und Erde.
Außer mir und dem Sessel, in dem ich saß, gab es nur noch einen leeren Schreibtisch, darauf ein gläsernes Telefon und hinter mir eine Wand voller Lichter. Mitten im Raum dann noch der Grund für meine Anwesenheit – eine schlanke Metallstange, mit einer kreisrunden Anzeige, in der eine Art Kompassnadel vor sich hin schlief. Und unter der Anzeige ein wulstiger roter Knopf.
Ich schob die drei Studienbücher, die ich mir mitgebracht hatte, auf dem Schreibtisch hin und her und überlegte, womit ich mich zuerst beschäftigen sollte. Ich saß bereits seit einer geschlagenen Stunde hier rum und hatte mich noch nicht aufraffen können, auch nur ein Wort zu lesen. Stattdessen kreisten meine Gedanken nur um Gregor und seine verdammte Maschine.

„Du hast nicht viel zu tun“, hatte Gregor mir erklärt. „Musst nur auf die Nadel aufpassen. Sollte sie fallen, drückst du den roten Alarmknopf. Das ist schon alles.“
„Und wenn sie steigt?“, fragte ich.
„Sie kann nicht steigen.“
„Und wenn sie fällt, fällt sie dann langsam oder schnell?“
Gregor zuckte mit den Schultern. „Woher soll ich das wissen. Sie ist noch nie gefallen.“
Das war mal wieder typisch Gregor. Erst Armageddon an die Wand schreiben und anschließend, wenn es drauf ankommt, die Luft wieder rauslassen.
„Denk einfach daran, dass das Wohl der Maschine über allem steht. Sie muss in jedem Fall gerettet werden. Wenn also die Nadel fällt, …“, fuhr Gregor fort.
„Dann drücke ich den Knopf?“
„Genau. Dann drückst du den Knopf. Allerdings …“ Gregor zögerte. „Du solltest noch wissen, dass die Maschine nach jedem Fehlalarm neu gestartet werden muss. Äußerst unerwünscht. Ein Fehlalarm ist in den Augen der Sicherheitspolizei ein Akt der Sabotage, und sie beginnt sofort zu ermitteln. Also überleg es dir zweimal, ob du den Knopf drückst oder nicht.“
„Habe ich dich jetzt richtig verstanden? Du überlässt mir die Wahl zwischen dem Zusammenbruch der Stadt und dem Staatsgefängnis?“
„Ach, mach dich nicht verrückt. Es ist noch nie etwas passiert. Ich muss es dir nur sagen. Verstehst du? Vorschrift für jeden, der für die Regierung arbeitet.“
„Ich arbeite nicht für die Regierung.“
„Doch, mein Lieber, das tust du.“
„Aber nur für eine Nacht.“
„Nein, nein, mein Lieber, für den Rest deines Lebens.“
„Für immer? Niemals!“ Ich wehrte mit beiden Händen alle ankommenden Worte ab. Es war vergebens.
Gregor erklärte mir kurz und knapp, dass Geheimnisträger außerhalb des Staates nicht vorgesehen seien. Das würde sich erst ändern, wenn man Erinnerungen löschen könne. Gregor fand das komisch. Von Witzen verstand er wirklich nichts.
Als er ging, schloss er hinter sich ab.
„Morgen wirst du wieder herausgelassen. Ist Vorschrift, verstehst du. Jetzt gibt es hier nur noch dich und die Maschine. Und schlaf mir um Himmels Willen nicht ein.“

Ich schaute um mich. Noch nicht einmal Wasser gab es hier. Geschweige denn eine Kaffeemaschine. Außerdem musste ich aufs Klo.
Es ist schon merkwürdig, welche Gedanken in welchen Situationen die Herrschaft über das Denken übernehmen. Ich schüttelte unwillig den Kopf und schlug wahllos eines meiner Bücher auf. Erst das Rascheln der Seiten machte mir deutlich, wie still es hier war. Bedrückend still. Ich lauschte in die Stille hinein und entdeckte in ihr das leise Knistern des Stahls, der sich unter der Kühle des Abends zusammenzuziehen begann. Und halb verborgen unter diesem Knistern spürte ich einen regelmäßigen Rhythmus. So als ob die Maschine atmete.
Und ich spürte ihren prüfenden Blick. Sie wusste, dass ich hier war, denn die Stille um mich herum war keine Stille der Leere. Alles war gefüllt mit Bedeutung.
Ich stand auf, trat an den Rand der Glaskuppel und legte den Kopf in den Nacken. Über mir zogen Stahlträger bis in die Höhen des nächtlichen Himmels hinauf, wo sie sich im Dunkel verloren. Erschrocken vor der Unendlichkeit schaute ich nach unten. Eine üble Idee, denn dort ging es in Tiefen hinab, die mir jeden Halt raubten. Ich verlor jegliche Orientierung und hielt mich an der Metallstange fest, als wäre sie meine letzte Verbindung mit der Welt.
Ich bewunderte den Zeiger. Er stand wie festgeleimt und war ein Wunder an Zuverlässigkeit.
Ich musste niesen.
Der Zeiger zitterte.
Erschrocken hielt ich den Atem an, und der Zeiger beruhigte sich wieder. Was war das für ein Mechanismus, den ein Niesen zum Erzittern brachte?
Ich bekämpfte die Panik, die dieser irrwitzige Gedanke aufsteigen ließ. Als wenn das Zittern der Nadel etwas mit meinem Niesen zu tun haben könnte. Ein zufälliges Zusammentreffen zweier Ereignisse. Ließ sich ja schnell beweisen. Ich brauchte nur ein zweites Mal zu niesen.
Ich zog die trockene Raumluft ein und spürte ein vielversprechendes Kitzeln, als sich ein paar Staubpartikel in meiner Nase ausbreiteten. Das Kitzeln verstärkte sich und bewegte sich auf die endgültige Explosion zu, als mich in letztem Augenblick der Mut verließ, ich mir die Nase zuhielt und mit allem, was ich besaß, gegen den Juckreiz ankämpfte.
Was war, fragte ich mich, wenn das mit dem Zittern der Nadel doch kein Zufall war? Es gab keinen Grund, das Schicksal unnötigerweise herauszufordern.
Ich wollte mich gerade abwenden und zu meinen Büchern zurückkehren, als die Nadel erneut zu zittern begann. Und noch bevor ich etwas tun konnte, schlug sie so wild um sich, als wolle sie sich losreißen und alles zerschlagen, was sie einsperrte. Doch gerade, als ich den Knopf drücken wollte, fiel sie ermattet in ihre Ausgangsstellung zurück und zitterte nur noch furchtsam vor sich hin.
Ich stürzte zum Telefon. Wer immer da am anderen Ende saß, musste mir helfen. Ich hob den altertümlichen Hörer aus der Gabel. Ein Knacken, dann ein Rauschen. „Hallo“, schrie ich in das Rauschen hinein. „Hallo, hallo! Die Nadel spielt verrückt, sie ist … Was?“ In dem Rauschen hörte ich Wortfetzen. Ein „al“, ein „aii“, ein klagendes „oooh“. Das folgende „rasch“ konnte auch ein Teil des Rauschens sein. Da war ich mir nicht sicher. „Hallo“, schrie ich. „Kann mich jemand hören?“ Und dann, mitten in mein hastiges Einatmen hinein, ein endgültiges Knacken. Und Totenstille.
Ich stürzte zurück zur Anzeige. Sollte ich jetzt den Knopf drücken? Nur wenn die Nadel fällt, hatte es geheißen. Für Zittern und um sich schlagen gab es keine Handlungsanweisung. Ich fasste den Knopf an, zog die Hand wieder zurück. Mein Atem wurde flacher und begann dem Puls hinterher zu rasen. Ich wollte nicht die Verantwortung für die Stadt übernehmen. Ich musste den Knopf drücken. Ich musste …. In diesem Moment verkrampfte sich etwas in mir, und mir wurde schwarz vor Augen.
Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf dem Rücken und sah über mir den blassen Himmel eines jungen Morgens. Ich wälzte mich auf die Knie, zog mich hoch und suchte die Nadel. Sie stand wie ein Wachmann unter den Augen seines Vorgesetzten. Vorbildlich. Ich wischte mir erleichtert über die Stirn. Es war noch einmal gut gegangen.
Ich hörte das Klacken von Schritten, das Knirschen eines Schlüssels im Schloss, das mich an eine Zellentür erinnerte, und spürte einen Hauch frischer Luft.
„Schichtende“, sagte Gregor. „Kannst wieder nach Hause. Irgendetwas Besonderes passiert?“
„Keine besonderen Vorkommnisse“ meldete ich. „Aber was mich interessieren würde, Gregor, wer sitzt am anderen Ende der Leitung dieses altertümlichen Telefons.“
Gregor starrte mich aus entsetzten Augen an. Endlich sagte er: „Das ist ein Geheimnis der Maschine. Kein Mensch würde so tollkühn sein und es wagen, den Hörer abzunehmen.“

Letzte Aktualisierung: 11.07.2012 - 18.10 Uhr
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