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Nachtschicht | Juli 2012

Ein neuer Anfang
von Angie Pfeiffer

Sie summte vor sich hin, während sie ihm die Butterbrote zurechtmachte, welche sie anschließend liebevoll in seine spezielle Tupperdose packte. Noch ein Apfel dazu und Kaffee in die Thermoskanne, wie jeden Abend. Er ging schon seit Jahren nachts arbeiten, daran hatte sie sich gewöhnt, war froh, immer allein über das Fernsehprogramm entscheiden zu können. Früher war es ihr manchmal schwergefallen die Abende ganz allein zu verbringen, doch das schliff sich schnell ab. Schließlich brachte die Nachtschicht Zulagen, man konnte sich einiges leisten, was sonst nicht möglich gewesen wäre.
Doch heute schien alles anders zu sein. Er packte seine Tasche wortlos, sah sie kaum an und verabschiedete sich, ohne sie noch einmal in den Arm genommen zu haben. Ging ohne ein liebes Wort, ohne ein Lächeln und sein obligatorisches ,bis gleich‘. Verwundert starrte sie die Tür an, die er leise, fast zaghaft hinter sich ins Schloss gezog. Sie schüttelte energisch den Kopf, sicher bildete sie sich da etwas ein. Warum sollte ausgerechnet heute etwas anders sein als sonst? Sie würde es sich jetzt auf der Couch bequem machen und den schon sehnlichst erwarteten Freitagskrimi anschauen. Doch während der Mord aus Leidenschaft auf dem Bildschirm problemlos geklärt wurde, fuhren ihre Gedanken Karussell, drehten sich immer wieder um ihren Mann und sein merkwürdiges Verhalten. Wenn sie es recht bedachte, so benahm er sich in der letzten Zeit überhaupt komisch, war unkonzentriert, permanent reizbar und schlecht gelaunt. Ließ sie links liegen, sprach möglichst nicht mit ihr. Ja, er mied sie geradezu. Selbst ihre Annäherungsversuche am Mittwochmittag hatte er ignoriert, obwohl das doch ihr traditioneller Tag war. Sie runzelte die Stirn. Könnte es denn möglich sein? Untreue - bisher hatte sie nie einen Gedanken daran verschwendet, konnte sich so etwas nicht vorstellen, doch sein Verhalten erschien ihr plötzlich sehr verdächtig. Gestern war er sogar früher als gewöhnlich nach Hause gekommen. Vielleicht hatte er sich heimlich einen Urlaubstag genommen und sich mit seiner Geliebten getroffen. Ganz gegen ihre Gewohnheit schüttete sie sich ein Glas Wein ein, nahm einen großen Schluck. Man hörte und las es ja immer wieder: Männer im mittleren Alter, die jahrelang treu waren, schlugen plötzlich über die Stränge, betrogen ihre Ehefrauen mit irgendwelchen jüngeren Flittchen. Hatten mit einem Mal keinen Sinn für Verantwortung und eheliche Treue mehr. Merkwürdig, ihr Glas war schon leer, kaum dass sie daraus getrunken hatte. Sie schenkte sich nach, trank in einem Zug. Andererseits konnte sie sich das bei ihm nicht vorstellen, er war doch immer so ruhig und besonnen. Doch wie hieß es schon in dem Sprichwort: Stille Wasser sind tief! Inzwischen war der Mörder gefasst, sogar die nachfolgende Sendung fast zu Ende. Sie griff sich an den Kopf. „Und ich schmiere ihm auch noch seine Brote, wahrscheinlich mache ich mich total zum Trottel!“ Nein, das würde sie in Zukunft ganz bestimmt nicht mehr tun.
Bestimmt war er auch heute bei IHR. Sie griff zum Telefon, begann seine Handynummer zu wählen, legte den Hörer abrupt auf. Was, wenn er sich meldete und ihren Verdacht bestätigte? Wie sollte sie reagieren? Immerhin hatten sie im letzten Jahr ihre Silberne Hochzeit gefeiert. Sie griff zur Weinflasche, aber die war tatsächlich schon leer. Nun, sie würde sich noch einen Schluck gönnen, heute war das ganz in Ordnung. In Gedanken versunken öffnete sie eine weitere Flasche, trank, ohne etwas zu schmecken. Jetzt erschienen ihr seine Launenhaftigkeit, die jähen Stimmungsschwankungen und das stundenlange Schweigen logisch. Sicherlich sehnte er sich danach, bei der Anderen zu sein. Vielleicht plante er schon seinen Auszug, wer konnte das wissen? Wut stieg in ihr hoch und sie schlug auf den Tisch, sodass ihr Weinglas einen Hopser machte, umzukippen drohte. Im letzten Moment fing sie es auf, trank es leer, um sich gleich wieder einzuschenken. Sie straffte die Schultern, hatte einen Entschluss gefasst: Sie würde bis zum Morgen auf ihn warten, ihn zur Rede stellen. Würde ihn nicht kampflos aufgeben, schließlich waren sie schon mehr als 25 Jahre zusammen, hatten alles geteilt, die guten genau so wie die schlechten Zeiten. Mit diesem Gedanken schlummerte sie ein.
Das Geräusch der sich öffnenden Tür ließ sie aufschrecken. Er stand im Rahmen, kam ihr blasser und verhärmter als sonst vor.
„Wieso liegst du hier völlig angezogen? Ist etwas passiert?“, fragte er seltsam bedrückt, während er sich vorsichtig näherte, sich auf die Sofakante hockte. Sie blinzelte. Ihre Zunge fühlte sich pelzig an, der Schädel brummte und sie räusperte sich. „Nein, eigentlich nicht. Ich muss wohl eingeschlafen sein.“
„Du hast getrunken“, stellte er verwundert fest. „Was soll das denn? Das ist doch sonst nicht deine Art.“ „Es ist auch nicht deine Art einfach aus dem Haus zu gehen, ohne mir ,Tschüß‘ gesagt zu haben“, brach es aus ihr heraus. „Überhaupt bist du in letzter Zeit so komisch. Wenn etwas passiert ist, du nichts mehr von mir wissen willst, so kannst du mir das ruhig sagen.“ Er strich ihr hilflos über den Arm. „Wie kommst du denn auf die Idee? Warum sollte ich nichts mehr von dir wissen wollen? Ich bin ja froh, dass ich dich habe. Es tut mir Leid, wenn ich gestern Abend so aus dem Haus gegangen bin, ich war wohl ganz in Gedanken.“ „Eben, wo bist du in letzter Zeit? Jedenfalls nicht hier bei mir“, sie holte tief Luft, packte den Stier bei den Hörnern. „Du hast eine Andere kennen gelernt, stimmt‘s? Bestimmt ist sie jünger als ich und du willst mich verlassen.“ Tränen kollerten ganz von selbst aus ihren Augen. Er starrte sie einen Moment verblüfft an, hob dann die Hand und wischte behutsam über ihre feuchte Wange. „Was du dir einbildest“, murmelte er undeutlich, während er sie in den Arm nahm. „Du bist und bleibst meine einzige Liebe, weißt du. Aber ich habe eine solche Angst, dich zu verlieren, alles zu verlieren.“ „Dann hast du also nicht ...? Aber warum bist du dann seit Wochen so komisch? Ich kenn‘ mich gar nicht mehr aus mit dir, weiß nicht, wo ich dran bin. Sag schon, irgendetwas ist doch los.“
Er seufzte tief, nahm sie wieder in den Arm, fast kam es ihr vor, als wolle er ihr nicht in die Augen sehen. „Nun“, begann er zögernd, „wir werden uns umstellen müssen. Ich habe vor fünf Wochen die Kündigung bekommen, werde nicht mehr gebraucht, denn die Nachtschicht ist gestrichen worden.“ Jetzt sprudelten die Worte nur so aus ihm heraus. „Der Firma geht es plötzlich nicht gut, das Personal muss reduziert werden und mich hat es eben auch getroffen. Einen Betriebsrat gibt es ja nicht, ich bin so hilflos.“ Sie befreite sich, sah ihn erstaunt an. „Und du hast mir davon gar nichts erzählt? Das gibt es doch nicht ...“, ihr fehlten die Worte, was nicht oft vorkam. „Ich habe mich so geschämt dir das zu erzählen. Was soll denn nur werden? In meinem Alter ist es nicht leicht etwas Neues zu finden“, er ließ resigniert den Kopf hängen. „So gehe ich seit einer Woche zur gewohnten Zeit aus dem Haus, setzte mich ins Bahnhofsrestaurant, bis es Zeit ist nach Hause zu gehen. Ich sitze da, überlege krampfhaft, wie ich dir die schlechte Nachricht am besten beibringe und wie es weiter gehen soll.“ „Und ich dachte, du hast ne Andere“, seltsamerweise spürte sie nichts als Erleichterung. Jetzt war es an ihr ihn in den Arm zu nehmen. „Ich muss mich schämen. Statt dir zu vertrauen, denke ich so einen Blödsinn. Du bist ganz schön dumm, wenn du denkst, dass du nicht auf mich zählen kannst. Weißt du was, ich springe unter die Dusche und dann mache ich uns erst einmal etwas zu essen. Anschließend werde ich die Zeitung besorgen und dann schauen wir uns die Stellenanzeigen gemeinsam an.“ Sie stand auf, um ins Bad zu gehen. Im Türrahmen drehte sie sich zu ihm um. „Weißt du was, das kriegen wir gemeinsam hin, solange wir zusammen halten, kann uns so schnell nix umhauen.“ Während sie unter der Dusche stand, deckte er den Tisch, stellte das Radio an. „Hinter‘m Horizont geht‘s weiter“, sang Udo Lindenberg. Er summte die Melodie mit, nickte. Ja, es würde weitergehen.

Letzte Aktualisierung: 17.07.2012 - 11.37 Uhr
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