Der Cousin im Souterrain
Der Cousin im Souterrain
Der nach "Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten" zweite Streich der Dortmunder Autorinnengruppe "Undpunkt".
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Aus der Kurve geflogen | August 2012
Auf der Flucht
von Thea Derado

FĂ€hrt denn der Zug nicht endlich los!
Womöglich erkennt mich im letzten Moment noch einer von den Partei-Fritzen und alarmiert die GeStaPo. Gut, ich werde dann sagen, dass ich doch nur zum Urlaub an die See fahre. Mehr GepĂ€ck als dafĂŒr nötig, habe ich ohnehin nicht eingepackt, um keinen Verdacht zu erregen. Ein kleiner Koffer, das ist alles fĂŒr einen möglichen Neubeginn.
Ich konnte noch nie gut lĂŒgen. Mir schlĂ€gt das Herz bis zum Hals hinauf. So aufgeregt und verkrampft, wie ich hier im Abteil sitze, riecht doch jeder gleich, dass ich abhauen will. Mit falschem Pass noch dazu. Der mit allen Wassern gewaschene Paul Rosbaud hat ihn mir besorgt.
Ein paar Leute mussten wir ja einweihen; ohne die Hilfe meiner Freunde sĂ€ĂŸe ich jetzt noch nicht einmal im Zug. Ich war – und bin – ĂŒberhaupt nicht in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. FĂ€llt mir denn bei einer Kontrolle auch gleich mein falscher Name ein? Sonst fliege ich doch gleich auf.
Draußen auf dem Bahnsteig lehnt mein hollĂ€ndischer Kollege Dirk Coster an einem Pfosten. Oh, ich soll ja nicht hinschauen. Wir mĂŒssen so tun, als wĂŒrden wir uns nicht kennen.
Im Augenblick, da der Zug anfÀhrt, springt er auf.
Da kommt er und setzt sich wie unbeabsichtigt zu mir. Fragt, ob der Platz noch frei sei. A bisserl leichter wird’s mir, wenn ich in ein vertrautes Gesicht sehen kann. Zum GlĂŒck sind wir allein im Abteil. Aber mit meinem richtigen Namen sollte auch er mich lieber nicht anreden.
Als Lise Meitner habe ich ja keine BĂŒrgerrechte mehr. Seit dem Anschluss Österreichs ist mein Pass ungĂŒltig. Es gibt kein Österreich mehr; ist seit MĂ€rz Teil des Deutschen Reiches. Die Ostmark. HĂ€tte ich mir den nötigen deutschen Pass ausstellen lassen, dann wĂ€re auf jeder Seite ein dickes J gestempelt. Wie gebrandmarkt.

Dirk sieht wohl, wie schlecht es mir geht, so fĂ€ngt er an, mit mir zu fachsimpeln. Wir haben ja beide ein chemisches Element entdeckt: Ich mit Otto Hahn schon 1918 das Protactinium, Dirk fĂŒnf Jahre spĂ€ter mit einem Ungarn das Hafnium. Ob ich wĂŒsste, woher der Name kĂ€me. Hafnia sei Neu-Latein fĂŒr Kopenhagen.
Gut gemeint, aber ich bin gar nicht zum Reden aufgelegt. Ich kann nicht.

Von der vorbeigleitenden norddeutschen Landschaft bekomme ich auch so gut wie nichts mit. Mein Blick rutscht ins Leere und die Gedanken in die letzten Tage.
Coster stĂ¶ĂŸt mich an, ich solle ihm den Diamantring geben. In seiner Westentasche sei er sicherer, falls wir kontrolliert werden.
Gestern Abend hat HĂ€hnchen ihn mir geschenkt, ein ErbstĂŒck von seiner Mutter. FĂŒr den Ă€ußersten Notfall. Es wird wohl kein Tag vergehen, an dem ich nicht mit Dankbarkeit, aber nun auch mit Wehmut an unsere wunderbare Freundschaft zurĂŒckdenken werde.
Rosbaud hatte mich spĂ€t am Abend in meiner Wohnung in Dahlem abgeholt und zu Hahns gebracht. Da habe ich ĂŒbernachtet. Meine letzte Nacht in Berlin. Allein daheim hĂ€tte ich durchgedreht.
Habe ich doch so gar keine Ahnung, wie es weitergehen soll.

Gab es wirklich keinen anderen Weg, als alle Zelte abzubrechen?
Es wurde brenzlig, als die Nazis laut verkĂŒndeten, die JĂŒdin Meitner gefĂ€hrde das Institut. Viele meiner Freunde und Bekannte wurden schon abgeholt.
Zu viele Ministerien waren durch die Petitionen von Planck und anderen Wissenschaftlern schon auf mich aufmerksam geworden. Die Antwort war: fĂŒr dreckige Juden dĂŒrften keine Petitionen eingereicht werden.
Juden! Daheim haben wir kein Judentum praktiziert. Papa war so ein toleranter, liberaler Mensch. Ich fand es stets albern, Menschen nach ihrer Religionszugehörigkeit einzuteilen. Da Preußen evangelisch ist, habe ich mich taufen lassen. So konnte ich auch die Patentante von Hahns einzigem Kind, Hanno, werden.
Aber im April 1933 in dem Fragebogen zum Berufsbeamten-Gesetz, da wollten sie wissen, ob die Großeltern ‚arisch‘ oder ‚nichtarisch‘ gewesen sind. Die Großeltern! Gott hab sie selig!
FĂŒnf Jahre ist es her. Damals zerfiel bereits der Dahlemer Kreis, das deutsche Oxford, wie unsere Forschungseinrichtungen international gepriesen wurden.
Albert Einstein haben die Nazis an der Grenze gar nicht erst wieder ins Land gelassen. Albert, er sagte oft ĂŒber mich ‚unsere Madame Curie! Aber die Lise ist viel klĂŒger.‘
Viele meiner besten Freunde sind gleich in die USA ausgewandert. James Franck und Albert haben mir schon beizeiten geraten, auch in die Staaten zu kommen. Aber ich war blind. GutglÀubig vor allem.
Weil ich Österreicherin war, glaubte ich, der bittere Kelch ginge an mir vorĂŒber. Ich hatte es mich ja all die Jahre viel kosten lassen, immer wieder den österreichischen Pass zu erneuern. Nun war alles fĂŒr die Katz!

Ist schon wieder eine Zigarettenpackung leer? Geraucht habe ich schon immer recht viel. Doch nun, es lÀsst sich nicht leugnen, bin ich zur Kettenraucherin geworden.

Nein, ich wollte nicht weg, hatte Angst, nochmals von vorn anfangen zu mĂŒssen. Schon gar nicht in die USA. Das erschien mir als eine fremde Welt. Viel zu weit von meinen geliebten österreichischen Bergen und meinen Geschwistern in Wien.
Wie erfahre ich nun, ob sie auch in Gefahr sind? Unsere Post wird ja gewiss kontrolliert.
Nun bin ich völlig entgleist. Ich habe und bin ich gar nichts mehr. Meine BĂŒcher, Mutters schöne Möbel, alles musste ich zurĂŒck lassen.
Ganze fĂŒnf Reichsmark durfte ich einstecken. Meine Sparkonten sind gesperrt.

Am bittersten ist, wenn ich an meine Arbeitsgruppe denke.
Viel mĂŒhsamer als die mĂ€nnlichen Kollegen musste ich mich nach oben arbeiten. Da galten nur Leistungen. Ich war in Preußen der erste weibliche UniversitĂ€ts-Assistent, damals 1912 bei Max Planck. Otto und ich waren in Fachkreisen weltbekannt. Viele ahnten nicht einmal, dass hinter L. Meitner eine Frau steckt. Das war so etwas Außergewöhnliches, ein Team aus einem Atom-Chemiker und einem weiblichen Atom-Physiker. Wie erfolgreich wir waren!
Das alles soll nun nichts mehr zÀhlen?
Nach dem Weltkrieg meine erste eigene radio-physikalische Abteilung im Kaiser-Wilhelm-Institut. Viele auslÀndische Doktoranten kamen in meine Gruppe.
Das alles ist nichts mehr wert?
Max Planck hat sich rĂŒhrend fĂŒr mich wie auch fĂŒr andere Wissenschaftler eingesetzt. Sogar zu Hitler ist er gegangen, wie ein Bittsteller nach Canossa. Nur um sich anbrĂŒllen zu lassen, der liebe alte vĂ€terliche Freund. Aber auch Planck hatte geglaubt, mir könne nichts Ernsthaftes passieren. Ich wollte das ja auch so gerne glauben!


Die AbteiltĂŒr geht auf. Ein Mann, oh Gott, mit Bonbon am Revers setzt sich mir gegenĂŒber. Wie er mich mustert. Das Taschentuch in meiner Hand ist schon ganz feucht. Ich sollte ihn nicht so Ă€ngstlich anstarren.
Am besten ich gehe raus – aufs Klo. Dann bleibe ich auf dem Gang am offenen Fenster.
Das war frĂŒher nie so, dass ich in jedem Fremden - besonders mit Parteiabzeichen –
gleich einen potentiellen Feind sah. Das GefĂŒhl des Ausgestoßen-Seins macht so misstrauisch.

Nach Jahren arbeite ich mit Otto mal wieder an einem gemeinsamen interessanten Projekt. Keiner weiß, was da passiert beim Beschuss von Uran mit langsamen Neutronen. Die Pariser, IrĂšne Curie und ihr Mann sind genau so ratlos. Das reinste Kuriosum ist das. Ausgerechnet da muss ich weg! Zum VerrĂŒcktwerden ist das alles.

Entwarnung, der Mann aus meinem Abteil ist soeben wieder ausgestiegen.

Berlin war mir zur Heimat geworden, da hatte ich meine Freunde. In Dahlem war meine Arbeit, meine Wohnung. Nun konnte ich mich nicht einmal von meinen Mitarbeitern verabschieden! Was mĂŒssen die von mir denken! Gestern Abend saß ich noch an meinem Schreibtisch und habe Arbeiten korrigiert, damit keiner Verdacht schöpft.
‚Also, dann bis morgen!‘, habe ich gesagt, als ich meinen Laborkittel an den Haken hĂ€ngte. Wohl wissend, dass es kein Morgen im Institut geben wird.
Der Chemiker Hess, ein strammer Nazi, wohnt in der ‚Villa‘ gleich neben mir. Der hört und sieht alles, wer zu mir kommt, ob ich wegfahre. Dem entgeht nichts! Der freut sich, wenn er mir einen Strick drehen kann. Jemand hat mir gesteckt, er habe mich bereits denunziert, wohl ahnend, dass ich fliehen wollte.
Auch wartet der Neider schon auf Otto Hahns Stuhl als Institutsdirektor und lauert, dass HÀhnchen ein politischer Fehler unterlÀuft.

In drei Monaten werde ich sechzig. Da wĂŒrde normalerweise das Rentenalter beginnen. NatĂŒrlich hĂ€tte ich weiterhin gearbeitet. Aber ich hĂ€tte ausgesorgt.
Und nun? Weil ich das Land verlasse, steht mir keine Rente zu.
Auf die Hilfe fremder Menschen angewiesen.
Wer wird mir Arbeit geben, wo doch in den wohlwollenden Forschergruppen schon so viele jĂŒngere deutsche Wissenschaftler untergeschlĂŒpft sind. Die haben natĂŒrlich Vorrang.

Wie weit sind wir eigentlich? Immer wieder werden Menschen aus den AuslandszĂŒgen herausgeholt.
Wenn wir nur erst in Holland wĂ€ren! An der Grenzstation mĂŒssen wir wohl aussteigen und zu Fuß weitergehen. Dirk wird es wissen. Der GrenzĂŒbergang wird ja noch ein Abenteuer! Ohne Visum!
Drei niederlÀndische Professoren haben von ihrer Regierung die Zusage erwirkt, dass ich ohne Visum ins Land gelassen werden soll. Wenn das mal gut geht!

FĂŒnf Mark! Das reicht gerade fĂŒr das Telegramm, in dem ich HĂ€hnchen ‚die Geburt einer gesunden Tochter‘ mitteilen werde. Unser verabredetes Zeichen, dass alles gut verlaufen ist.
Dann mĂŒssen wohl Freunde fĂŒr mich sammeln gehen.
Und wenn der Winter kommt, dann stehe ich da mit meinem Köfferchen mit Sommersachen.
Ob mir jemand etwas von meinen Sachen nachschicken kann? Oder wird die Wohnung gleich versiegelt?

Mir ist ganz elend: Ich darf nicht zurĂŒckschauen; und ich kann vor mir nichts sehen, außer Ungewissheit und Hoffnungslosigkeit.

Letzte Aktualisierung: 27.08.2012 - 19.57 Uhr
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