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Aus der Kurve geflogen | August 2012

Schreibtischtäter
von Susanne Ruitenberg

Sinja betrat ihr Büro und ließ beinahe die Handtasche fallen. Hatten hier übers Wochenende die Vandalen gehaust? Ihr Schreibtisch verschwand unter Aktenordnern und Umlaufmappen, die Tastatur lag unter einem Berg Klarsichthüllen und Kopiervermerken begraben. Alles garniert mit Post-Its in sämtlichen Farben des Regenbogens.
„Eilig“
„Sofort erledigen“
„Bitte Rücksprache“
„Wo ist das Original hiervon?“
Das Telefon klingelte Sturm und Frau Stadt, die Kollegin am Schreibtisch gegenüber, war noch nicht da. Komisch, sie war sonst immer die Erste im Büro.
Sinja riss den Hörer von der Gabel. „Neg...“
„Frau Negerlein“, unterbrach sie die ungeduldige Stimme der Officemanagerin, Ilona Windei. „Frau Stadt, Frau Land und Frau Fluss haben sich krank gemeldet. Sie müssen heute deren Chefs unterstützen.“
„Aber wie soll das gehen? Ist denn keine Springerin ...“
„Die sind alle bei der Beurkundung von der Bankenfusion von Arnaque & Fraude, Banque Privée, beschäftigt. Ich kann es nicht ändern.“ Klick – aufgelegt.
Sinja schaltete ihren Rechner an und loggte sich ein. Dr. Grube, ihr Chef, stürmte ins Büro. „Frau Negerlein, haben Sie meine Mail nicht gesehen? Ich brauche die Ausdrucke, der Call mit der Igel GmbH beginnt gleich.“
„Der Rechner ...“
„Beeilen Sie sich. Und besorgen Sie mir eine Einwahlnummer für zehn Uhr. Ach ja, rufen Sie Schmidt an, er soll sofort zu mir kommen und bereiten Sie das Anschreiben für die BaFin vor.“
Der Rechner fuhr in Zeitlupe hoch, wie immer, wenn man es eilig hatte. Sinja trommelte mit den Fingerspitzen auf der Tastatur herum, bis sie endlich Outlook, Word und die Mandatsumgebung geöffnet hatte. Schnell die Mail vom Chef aufrufen, Dokumente drucken.
DRING „Wo bleiben die Ausdrucke? Und kochen Sie mir einen neuen Tee.“
„Sofort.“ Sie legte auf. „Mach dies, mach das, mach jenes“, murmelte sie.
Sturm zum Drucker. Irgendjemand druckte einen Jahresbericht. Sinja tippte das Infofeld an. Dreihundert Seiten, super! Der Drucker hielt an. Papier alle. Sinja rupfte die Verpackungen von zwei Scheiben Kopierpapier ab, zog die Schublade heraus und stopfte die Papierstapel herein. Der Drucker nahm die Arbeit wieder auf.
RATSCH Papierstau.
Sinja riss die Abdeckung auf, wühlte in dem heißen Gerät herum, drehte an diversen Transporträdern und zog schließlich den zerknäulten Übeltäter heraus. Nach gefühlten drei Stunden war der Bericht endlich durchgelaufen und ihre Dokumente quälten sich aus dem Ausgabeschacht. Sie rannte damit in ihr Büro, legte die Ausdrucke in eine Unterschriftenmappe und flitzte zu Grube. Der Call lief schon und Grube blickte sie finster an. Sie legte die Mappe hin, nahm einen Riesenstapel Ablage und weitere Aufträge aus dem Ausgangskorb und floh an ihren Schreibtisch zurück.
DRING „Sinja, hier ist Anja. Bierseidel Inc. soll abgerechnet werden, kannst du sofort die ausstehenden Stunden eingeben? Danke.“
Sinja suchte in ihrem Stapel nach dem Stundenzettel und überflog ihn. Mist, Grube hatte gleich drei Einträge für Bierseidel. Sie rief das Buchhaltungsprogramm auf und begann mit dem Zeiteintrag. Als sie ihn speichern wollte, poppte ein Fehlerfenster auf. „Der Eintrag kann nicht vorgenommen werden, da eine andere Person das Mandat bearbeitet.“
„Scheiße, macht schon“, rief sie.
DRING „Frau Negerlein, können Sie mir die drei Aufsätze aus der Bib besorgen, die ich Ihnen gemailt habe?“
„Sofort, Herr Dr. Einfuß.“
Sie druckte die Mail und versuchte noch einmal, den Bierseidel-Eintrag zu speichern. Ha, drin! Schnell tippte sie die beiden anderen Zeiteinträge ein und meldete Vollzug.
In der Bib waren zwei Kopierer besetzt. Sie schnappte sich die drei Zeitschriften, aus denen sie etwas kopieren sollte, und rannte herüber ins Notariat. Es war zwar streng verboten, die Fachzeitschriften aus der Bib zu entfernen, aber hier handelte es sich eindeutig um einen Notfall.
Natürlich hatte der Kopierer im Notariat kein Papier. Nachdem sie ihn aufgefüllt hatte, kopierte sie das Gewünschte, klammerte die Doks und brachte die Zeitschriften zurück. Einfuß war nicht am Platz, also legte sie ihm den Kram auf die Tastatur.
DRING, empfing sie ihr Lieblingsgerät. Ein Blick aufs Display – Mist, Dr. Mausezahn. Der war so furchtbar umständlich.
„Frau Negerlein, ich habe Ihnen drei Diktate geschickt. Bitte schreiben Sie sie nicht in der Reihenfolge, die ich in der Mail angegeben habe. Ich brauche zuerst das Dritte. Nein, das ist unpraktisch. Geben Sie mir erst das Zweite, dann das Dritte und zum Schluss – oder machen wir es umgekehrt. Zwei – Eins – Drei. Ja genau so.“
Sie startete das Diktatprogramm, setzte die Kopfhörer auf und begann zu tippen. Erst nach fünf Minuten Text erwähnte der Alte, dass es kein Brief, sondern ein Emailentwurf sein sollte. Aber bei Mausezahn wusste man nie, er änderte das meistens noch zig Mal. Lieber als Word speichern, rauskopieren könnte sie es immer noch.
Ihr Rechner zeigte eine neue Mail an. „Doch lieber die Reihenfolge Eins – Zwei – Drei, danke.“
Sie tippte alles zu Ende und schickte es ihm.
DRING Der Empfang. „Frau Negerlein, der Besuch für Dr. Wolke ist da, sagen Sie ihm Bescheid? Ich führe die Herrschaften ins Konfi F.“
Sinja ging zu Dr. Wolke herüber. „Ihre Besucher sind da. Konfi F.“
„Die von der Hell AG oder auch schon die Dunkel GmbH?“
„Das hat Frau Schmidt nicht gesagt, sie ...“
„Ach, lassen Sie, ich gehe hoch. Fragen Sie mal im Copyshop nach, ob die Präsentationen fertig sind, die brauchen wir. Konfi E, sagten Sie?“
„F, wie Friedrich.“ Oder wie fuck you, dachte sie, und musste sich beherrschen, es nicht laut zu sagen.
Sie fuhr hinunter zu den Kopiersklaven. Sämtliche Geräte ratterten und die Luft war zum Schneiden. „Die Ausdrucke für Dr. Wolke?“, rief sie in den Raum.
Thorsten, einer der studentischen Aushilfen deutete auf einen Aktenwagen. Sinja schnappte sich den Stapel gebundener Power Point-Präsentationen, fuhr in die Konferenzetage, klopfte pro forma an die Tür von Konfi F und betrat den Raum. Dr. Wolke saß am Kopfende vor einer Tastatur, die Präsentation auf einer Leinwand. Seine Gäste saßen unbeweglich auf ihren Plätzen, BlackBerrys in den Händen. Keiner sah Wolke an. Wenn er die Herren erreichen wollte, müsste er ihnen eine Mail schreiben. Sinja verteilte die Handouts und kehrte an ihren Platz zurück. Grube stand da mit einem Aktenordner in der Hand. „Wo ist denn der Antrag, diese Akte ist nicht vollständig. Und denken Sie noch an meinen Tee?“ Sinja kramte in der alphabetischen Vorablage. „Moment.“ Sie fischte eine Hülle heraus, heftete sie in den Ordner und gab diesen zurück.
„Sie müssen die Ablage stets up to date halten“, raunzte Grube, und stürmte hinaus.
Ja, klar, wenn du immer auf den Ordnern hockst und mich scheel ansiehst, wenn ich zwischendrin ins Büro komme, dachte Sinja.
Ihr Magen knurrte. Keine Zeit für eine Pause. Sie fischte ein Knäckebrot aus ihrer Schublade und holte sich einen Saft aus der Teeküche, dabei kochte sie den Cheftee.

In der nächsten Stunde buchte sie einen Flug für Dr. Lahm, druckte mehrere Emails für Dr. Einfuß, stornierte den Flug für Dr. Lahm, buchte ihm ein Zugticket, tippte eine Rechnung für Dr. Mausezahn, buchte das Zugticket für Dr. Lahm in eine andere Klasse, an einem anderen Tag und in eine andere Stadt; reservierte noch ein Hotel dazu, druckte von drei Mandaten die erfassten Stunden aus, buchte sämtliche Stunden der Praktikanten auf „Akquisition“ um und verteilte gefühlte einhundert Telefonate an die Herren.
Ihre Blase drückte. Sie huschte in den Waschraum.
Als sie zurück kam, standen Grube, Mausezahn, Lahm und Einfuß in ihrem Büro.
„Ich brauche einen Breakdown für die Eierbecher & Co. KG.“
„Können Sie das Zugticket wieder stornieren? Wir nehmen doch das Auto.“
„Wo sind denn die Kopien aus dem HGB-Kommentar, die ich haben wollte?“
„Hirsebrei & Cie. haben angerufen, die Rechnung muss gesplittet werden. Der ganze Prospektanteil geht auf die Roggenmus GmbH.“
„Ich brauche in fünf Minuten eine Einwahlnummer und rufen Sie Hinz und Kunz hinzu.“
DRING
Auf einmal legte sich ein roter Schleier über Sinjas Augen. Sie kreischte los, rannte zu ihrem Schreibtisch, fegte alles, was sich darauf befand, zu Boden, warf das Telefon hinterher, schüttete ihren Saft darüber, schrieb „Scheiße“ mit Edding auf den Bildschirm, riss wahllos ein paar Aktenordner aus dem Schrank, warf einen davon Grube an den Kopf, den anderen Lahm; kramte eine Packung Streichhölzer aus ihrer Schublade, fuchtelte eine Handvoll Hölzchen heraus, zündete sie an, warf sie auf den Papierstapel, fischte ihre Handtasche vom Sideboard und stürmte an den verdutzen Herren vorbei zur Tür hinaus. Auf dem Weg zum Aufzug rannte sie Ali aus dem Postzimmer um, in einem Regen aus Umschlägen und Umlaufmappen ging er fluchend zu Boden. Bei Feuer soll man nicht den Aufzug nehmen, fiel ihr ein, so rannte sie ins Treppenhaus und im Sturm die zehn Stockwerke nach unten. Raus aus dem Gebäude.
Rein in die U-Bahn.
Auf den Sitz fallen lassen.
Augen schließen. Sie sah nur noch Aktenordner, Mails und fliegende Papiere.
Zittern unterdrücken.
Jemand setzte sich auf den Sitzplatz gegenüber.
DRING
Sinja riss die Augen auf, nahm dem verdutzten Studenten das Handy ab, warf es auf den Boden der Bahn und sprang darauf herum, bis jemand sie vorsichtig wegzog.
Ein Pieks in ihrem Oberarm und es wurde Nacht.


©Susanne Ruitenberg
Version 2

Letzte Aktualisierung: 27.08.2012 - 14.53 Uhr
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