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Aus der Kurve geflogen | August 2012

Guten Tag auf Algebra
von Robert Pfeffer

(Dies ist keine Geschichte, sondern die mehr als überfällige Aufarbeitung eines Traumas!)

Mein Verhältnis zur Mathematik als getrübt zu bezeichnen ... es wäre eine schlimme Untertreibung. Obwohl angeblich eine Naturwissenschaft, fehlt es ihr an einer echten Definition und damit mir, der ich sie vor langer Zeit einmal lernen sollte, an einer fundamentalen Orientierung. Die Biologie ist die Lehre vom Lebendigen, die Physik die der Naturerscheinungen, die Chemie schließlich die der Eigenschaften von Substanzen. Und Mathe?

„Robert, aus welchen beiden Komponenten besteht die Infinitesimalrechnung?“
„Die was?“
„Du hast mich genau verstanden!“
„Ich bitte um einen Eintrag ins Klassenbuch und mache von meinem Recht auf Aussageverweigerung Gebrauch.“


An so einer Stelle fiel meine Entscheidung, darüber nachzudenken, wie man im Leben ohne dergleichen auskommt. Obwohl der Start vor reichlich Jahren doch so schön gelungen war. Da tauchte ich als I-Dötzchen ein in die Welt der Zahlen. Eins, zwei, drei ... viele. Mir erschien alles ganz natürlich ... bis später jemand meinte, es gäbe natürliche Zahlen. Was die Frage auslöste, woraus unnatürliche bestehen? Und wie sie wohl aussehen.

Mit dem ersten Auftreten rationaler Zahlen wurden die Dinge endgültig irrational. Flackerlichter einer Vorstellung von Logik boten mir kurzfristig die so erfrischend nachvollziehbare Prozentrechnung und die eine oder andere Textaufgabe, in der es auf Brüche hinauslief. Einen gemeinsamen Nenner zu suchen, das fand ich lebensnah und nicht umsonst lässt sich mit dieser Formulierung auch außerhalb der Mathematik etwas erreichen.

„Eine Ableitung ist der Proportionalitätsfaktor zwischen verschwindend kleinen Änderungen des Eingabewertes und den daraus resultierenden, ebenfalls infinitesimalen Änderungen des Funktionswertes. Bildet nun bitte die Ableitung f von x.“
(Fünf Minuten später)
„Robert, warum fängst du nicht an?“
„Womit?“
„Du weißt genau womit! Die Ableitung!“
„Mir ist nicht gut.“


Das war wirklich so. Bis heute bereitet es mir Schwierigkeiten, bei fehlender Marschrichtung wahre Hingabe zu entwickeln. Etwa so, als wenn jemand mich bittet, auf einen Schlag drei Kilo Bananen zu essen. Wer fragte da nicht: Weshalb? Andererseits müssen Fußballer Gras fressen, um etwas zu erreichen, das jedenfalls behaupten Trainer, Journalisten, selbst ernannte TV-Experten und gelegentlich auch Sportpsychologen. Warum ich also nicht die länglich-gelblichen Südfrüchte? Trotzdem lägen sie schwer im Magen. Und abgeleitet würden sie ins Klo. So schließt sich der Kreis, denn genau diesen Weg sah ich vor meinem geistigen Auge für die Differenzialrechnung.

Der Zahn der Schulzeit nagt am schnellsten an zartem Schmelz und wann immer es nach einer Annäherung zwischen mir und karierten Blättern mit Ziffern und Linien aussah, gab es unvermittelt eine aufs Maul. Anschließendes Ausspucken der Beißer inklusive. Wobei ich für das Wurzelziehen sogar noch eine gewisse Sympathie aufbrachte. So gekonnt ich ein Dreieck als solches begrüßen kann, wenn ich es sehe, so aussichtslos empfand ich das Winkelspiel mit ihm.

„Robert, erläutere mir den Sinus.“
„Sinus ist Lateinisch und bedeutet Busen.“
(Gelächter und Verwunderung um mich herum)
„Lenk nicht ab, darum geht es hier nicht.“
„Worum dann?“


Seltsamerweise erhielt ich nie eine Antwort auf diese letzte Frage. Gerade als Mann mit stark begrenztem mathematischen Verständnis vermittelt die wörtliche Bedeutung des Sinus die so dringend benötigte Nestwärme. Wer wollte, angelehnt an beruhigende Rundungen, sich nicht anschließend auch überlegen, was der Cosinus sei? Aber, ... das deutsche Schulsystem gab mir keine Gelegenheit, mich dem Verstehen über diesen Ansatz zu nähern. Stattdessen gab es mir eine Fünf.

Es ist nicht so, als wären Legionen von Mathematiklehrern an mir verzweifelt. Das können sie schon deshalb nicht, weil sie der anderen Schüler Tempi berücksichtigen mussten. Also blieb der, dem sich die Fallstricke der Analysis um die Füße legten, ganz einfach zurück. Winkte den Artgenossen noch freundlich zum Abschied und sagte leise Servus. Zum Glück gab es Ausgleichsmöglichkeiten und hämisch grinsenden Klassenkameraden zischte ich ein „Wir sprechen uns in Englisch!“ zu. Genützt hat es aber für Mathe erst einmal wenig.

„Eine Parabel ist der geometrische Ort aller Punkte X, deren Abstand zum festen Punkt F gleich dem zur Leitgeraden L ist. Robert, klar bis hierher?“
„Was ein Punkt ist, weiß ich.“
„Und wird ein Strahl, der parallel zur Achse einfällt, an der Parabel beziehungsweise an ihrer Tangente gespiegelt, so geht der resultierende Strahl durch den Brennpunkt und umgekehrt. Ist das soweit verständlich?“
„Wussten Sie, Herr ..., dass Derrick total auf eine Rolle festgelegt ist?“


Für mich war der Tiefpunkt der Parabel erreicht. An dieser Stelle flog ich endgültig aus der Diskussion rund um alle Kurven. Die Erkenntnis dieses Tages bestand für mich darin, mir Kommentare oder möglicherweise ungeeignete Rückfragen künftig zu komplett zu ersparen und die Fünf wie ein werdender Mann hinzunehmen.

Brachte ich es mit viel Glück, schierem Auswendiglernen, einigen kleinen Zettelchen und vorgetäuscht gefüllter Blase bis zum Ende der zwölften Klasse noch auf ein ‚Ausreichend‘, änderte sich das im letzten Schuljahr. Es war an der Zeit, zu vollenden, was 1977 seinen Anfang nahm. Aus dem Sport und zahllosen Wettkämpfen hatte ich gelernt: ‚Du kannst verlieren, du darfst verlieren. Aber nur, wenn du alles in die Waagschale geworfen hast, was rein geht.‘ Zur Abiturprüfung warf ich meine Mathe-Zellen aus dem Kopf ... und verfehlte das Behältnis. Deutlich.

Das ist so lange her, dass ich heute darüber zu schreiben vermag, ohne die Besinnung einzubüßen oder Unmengen an Tränenflüssigkeit. Siebenundzwanzig mathematiklose Jahre sind seither vergangen. Noch in der Pennäler-Zeit hörte ich einen Kinderwitz, der für mich damals wie heute Wirklichkeit sein könnte:

„Mutti, Mutti, wir lernen jetzt in der Schule Algebra.“
„Und? Lass mal hören. Was heißt denn ‚Guten Tag‘ auf Algebra?“


Diese wundervoll spielerische Art des Umgangs mit dem Thema imponiert mir. Sie war eine Art Leitlinie, wenn mein Defizit nicht länger zu verbergen war. Jene Leitlinie wurde mittlerweile abgelöst. Einerseits von einer grandiosen Rechnung, nach der 28 durch 7 immer 13 ergibt, andererseits von einem Zitat von Hermann Josef Abs, einem ehemaligen deutschen Bankier.

„Die Statistik ist wie eine Laterne im Hafen. Sie dient dem betrunkenen Seemann mehr zum Halt als zur Erleuchtung!“

Und so erhebe ich mein Glas, schmunzele und schweige.
Sobald ich eine größere Waagschale finde, melde ich mich noch mal.

(Version 1)

Letzte Aktualisierung: 01.08.2012 - 11.57 Uhr
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