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Aus der Kurve geflogen | August 2012

Wortlos
von Eva Fischer

Ist es wichtig dieses Wort?
Es liegt mir auf der Zunge.
Etwas mit A oder vielleicht doch O?
Diese neumodischen Wörter. Kein Wunder, dass ich die nicht behalten kann.
Dabei ist Erinnern doch gar nicht schwer.
Ich muss mich nur konzentrieren.


Sie war Papas Liebling. Heimlich steckte er ihr einen Lutscher aus dem heimischen Sortiment zu.
Die roten Lutscher schmeckten am besten, nach Kirsche.
Kirsche ist ein schönes Wort. Das kann sie behalten.
Süß und klebrig war der Lutscher. Solche Lutscher gibt es heutzutage nicht mehr.
Er machte ihre Lippen rot. Sie strich ihn immer wieder über ihren Mund.
Der Vater lachte. „Meine kleine Prinzessin.“
Die Mutter nicht. Immer nur gab sie ihr Arbeit im Haus. Sie selbst stand von morgens bis abends hinter der Theke des Kolonialwarenladens.

Nicht aufgeben!
Ich muss mir nur Zeit nehmen. Zeit habe ich. Hier ist eine Bank frei. Da werde ich mich hinsetzen und warten, bis das Wort kommt.
Worte treiben manchmal ein neckisches Spiel. Sie verstecken sich irgendwo wie kleine Kinder, aber wenn man sie nicht beachtet, tauchen sie von alleine wieder auf.


Die Prinzessin fand den Prinzen. Er sah schneidig aus, groß, mit dunklem, glattem Haar. Sie zogen in ein Haus mit Garten. Dort wuchsen Kirschbäume. Sie pflanzte Gemüse an.
Möhren und Zwiebeln, auch Kartoffeln. So gab es immer etwas Frisches auf dem Tisch. Die Zeiten waren nicht immer so üppig wie heute.
Möhren ist ein schweres Wort, aber sie hat es behalten. Sie formt ihre Lippen, lässt das Ö wie eine Seifenblase entweichen. Ganz leicht geht das.

Doch es ist nicht das Wort, das ich suche. Es hieß anders. Schmeckte nach Anis. Ich komme schon noch drauf. Es ist erst früher Nachmittag.
Die Kinder kommen aus der Schule. Sie tragen schwarze Rucksäcke aus Kunststoff, früher hatte man Tornister aus Leder.
Sind doch nicht mehr so üppig die Zeiten.


Und dann bekam sie eine Tochter. Der Vater hätte lieber einen Sohn gewollt. Aber sie war glücklich. Wie eine Puppe sah sie aus. Sie nannte sie Klara. Zwei A. Das klang weiblich, hell und freundlich wie eine Melodie in A-Dur.
Klara wuchs heran. Sie war ein hübsches Kind mit blonden Löckchen. Drollig, wie sie sprechen lernte. Mama. Papa.

Du verdammter Köter! Guck mich nicht so blöd an! Du kannst mir nicht helfen, mein Wort zu finden. Du hattest nie ein Wort, das du vergessen hast, nach dem du kramst wie in einer Handtasche nach dem Schlüssel.
Du musst dich noch gedulden. Wir gehen erst weiter, wenn ich auf das Wort komme.
Hör auf zu bellen! Was sollen die Leute denken?


Ihr Mann taugte nichts. Sie hatte nur eine schöne Fassade geheiratet. An nichts hatte er Interesse. Immer häufiger versackte er in der Kneipe, dieser Schwächling!
Da war sie anders. Sie machte Kurse in Stenographie und Schreibmaschine, bekam einen guten Job als Chefsekretärin, verdiente viel Geld.
Sie brauchte ihn nicht mehr, folgte ihrem Chef in eine neue Stadt, mietete sich eine hübsche Wohnung. Klara nahm sie mit.

Wenn du nicht aufhörst zu kläffen, ziehe ich dir einen mit der Leine drüber!
Du willst es nicht anders. Halts Maul! Wie soll ich mich da konzentrieren. Sitz!!!


Klara sollte es mal besser haben als sie, gleich zum Gymnasium gehen. Sie hatte ihr hübsches Äußeres geerbt, sie würde Karriere machen.
Irgendwann kam aus der Schule ein Anruf. Klara hatte die Schule geschwänzt.
Sie hatte ihre Tochter zur Rede gestellt. Keine schönen Worte hatten sie miteinander ausgetauscht. Am Ende hatte sie ihr eine Ohrfeige gegeben. Heulend war sie in ihrem Zimmer verschwunden. Diese dumme Kuh hatte ihre Chance vertan. Am Ende musste sie zur Hauptschule wechseln.

Jetzt fängt es noch an zu regnen. Was ist das für ein Sommer? Aber ich lasse mich nicht von den paar Tropfen unterkriegen. Der blöde Hund hält auch endlich die Schnauze. Irgendwie ist es sehr friedlich in diesem Park. Die Leute sind alle weg. Zum Glück!
Nun kann ich in Ruhe nachdenken, bin schon ganz nah dran. Das spüre ich.
Es war etwas mit L, aber keine Zwiebeln.


Klara wurde Verkäuferin in einer Boutique. Wenigstens das machte sie gut.
Warum muss sich alles im Leben wiederholen?
Warum können Kinder nicht aus den Erfahrungen ihrer Eltern lernen?
Warum müssen sie die gleichen Fehler machen?
Sie hätte auch nicht gedacht, dass ihr Schwiegersohn nichts taugt. Er sah so gut aus, zu gut, rannte immer anderen Röcken hinterher. Ihre Tochter hat es auf die Dauer nicht verkraftet.
Mit einer Überdosis Schlaftabletten hat man sie gefunden. Zu spät!
Eine Tochter hat nicht vor der Mutter zu sterben.
Wie konnte sie ihr das nur antun, wo sie so viel in sie investiert hat? Wer soll sich jetzt um sie kümmern?

„Frau Kukulies, wollen Sie nicht endlich nach Hause gehen. Sie sind ja schon ganz nass. Sie können sich den Tod holen! Und schauen Sie, ihr armes Hündchen zittert schon.“

„Jetzt weiß ich wieder, was ich zu Mittag gegessen habe.
Fenchel. Mit L, aber ohne A und O.
Mögen Sie dieses neumodische Gemüse, Frau Lerche?
Ich finde ja, Möhren schmecken viel besser.
Habe ich Ihnen schon erzählt, dass ich früher einen Garten hatte, wo ich Möhren und Zwiebeln angebaut habe.“

„Ja, ja, des Öfteren Frau Kukulies. Nun kommen Sie schon! Ich mache uns eine heiße Tasse Tee.“

Letzte Aktualisierung: 12.08.2012 - 14.39 Uhr
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