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Aus der Kurve geflogen | August 2012

K(l)ippe
von Ingo Pietsch

Es war ein wunderbarer Ausblick auf das an der Atlantikküste gelegene malerische französische Fischerdörfchen.
Die Sonne war kurz davor, hinter dem Horizont zu verschwinden.
Jean-Pierre setzte seine Sonnenbrille wieder auf die Nase und genoss den schwindenden ruhevollen Moment.
Langsam entspannte sich sein Körper und er lehnte sich im Autositz zurück.
Unmittelbar auf diese Bewegung rückte automatisch das nahe Meer in sein Blickfeld.
Ein Segelboot schien mit dem Mast an den vorüberziehenden Wolken am Himmel zu kratzen.
Es lag ein salziger Geschmack in der Luft.
Mit einem Mal überkam Jean-Pierre die Erinnerung daran, warum er sich hier befand:

Das grelle Licht der Kugelschreiberlampe, tat ihm in den Augen weh.
„So, JP, du kannst dich wieder anziehen!“ Dr.Pascal Gusteau nahm die Blutprobe und verließ das Arztzimmer.
Jean-Pierre Roches zog das Designer-Hemd an und ließ die Beine vom Behandlungsbett baumeln.
Er war mit Kopfschmerzen und gelegentlichen Blackouts zu seinem ältesten Freund gekommen, damit er sich der Sache annahm.
Jean-Pierre hatte wenig Zeit mit Routine-Checks verschwendet und sich mehr auf das Partyleben, Fast-Food und Energydrinks konzentriert.
Anscheinend wollte sich sein Körper jetzt dafür rächen.
Pascal kam zurück. Still trug er zwei Röntgenbilder zum Leuchtkasten hinüber und befestigte sie.
„Du sagst gar kein Wort, ist es so schlimm?“, fragte Jean-Pierre. Aber es klang weniger scherzhaft, als es hätte werden sollen.
Pascal schaltete die linke Lampe an und drehte sich zu seinem Freund um.
„Das hier ist eine gesunde Lunge.“
Jean-Pierre sah ihn fragend an.
Dann erhellte der Arzt das andere Bild. „Und das hier ist deine.“
Fast der gesamte Brustkorb war schwarz.
„Ist das Lungenkrebs?“
Pascal nickte.
„Was haben meine Kopfschmerzen damit zu tun?“
„Sauerstoffmangel im Gehirn. Kopfschmerzen, Blackouts, große Lücken im Gedächtnis. Eigentlich dürfte ich dich nicht mal mehr alleine aus der Praxis lassen.“
„Wie lange habe ich noch?“
„Ohne Therapie: Ein halbes Jahr. Mit, keine Ahnung. Es tut mir leid, dass ich dir keine besseren Nachrichten geben kann.“ Pascal schaute traurig drein.
„Jetzt wirst du mir sicher noch sagen, dass ich auf dich hätte hören sollen, mich regelmäßig durchchecken zu lassen.“
Der Arzt legte seine Hand auf Jean-Pierres Schulter. „Als dein Freund kann ich dir nur raten, die Zeit gut zu nutzen, die dir noch bleibt.“

Eine Möwe setzte sich auf die Fronthaube des Renault Caravelle. Der Schwerpunkt des Wagens verlagerte sich wieder nach vorn.
Der Motor, der die Balance des Autos hielt, saß im Heck.
Jean-Pierre hielt sich fest. Ein flaues Gefühl breitete sich in seiner Magengegend aus. Doch nichts weiter geschah.
Eine Schachtel Zigaretten fiel vom Sonnenschutz herunter und blieb an der Scheibe liegen.
Wenn er danach griff, würde Jean-Pierre wahrscheinlich sterben. Eigentlich hatten die Glimmstengel ihn schon getötet, aber die jetzige Entscheidung lag bei ihm selbst.

Lange hatte Jean-Pierre am Mülleimer vor der Arztpraxis gestanden und überlegt, ob er seine Zigaretten wegschmeißen sollte. Im Grunde war es egal. Er warf sie weg.
Er fuhr nach Hause und wollte nur noch einen klaren Kopf bekommen.
Dort erwarteten ihn zwei gepackte Koffer. Eine overstylte Blondine kam in den Flur.
Ohne Umschweife eröffnete sie ihm: „JP, ich werde dich verlassen!“
Sie sah ihn dabei nicht einmal an, sondern tippte auf ihrem I-Phone herum.
Jean-Pierres Herz schlug wie wild. Eigentlich machte ihm das normalerweise nichts aus, aber gerade in seiner jetzigen Situation setzte ihm die Trennung doch zu.
Was er sagte, überraschte ihn selbst: „Soll ich deine Koffer runtertragen?“
Ungläubig starrte sie ihn an: „Ich hätte nicht gedacht, dass du es verstehst.“
Der Grund interessierte ihn eigentlich nicht, aber sie brabbelte schon los.
Er nickte nur.
Als sie fertig war, schnappte sie sich ihre Koffer und verließ die Wohnung.
Jean-Pierre musste eine ganze Zeit lang einfach im Flur gestanden haben, als es in ihm drinnen Klick machte.
Er ging in die Garage, setzte sich in das Sportwagencabrio und fuhr los. Als er Marseille hinter sich gelassen hatte, fuhr er immer weiter an der Mittelmeerküste Richtung Osten.
Ungeachtet des Tempolimits und der schmalen Serpentinen gab er immer weiter Gas.
Gedanken wirbelten durch seinen Kopf, während die Landschaft an ihm vorbeiflog.
Plötzlich tauchte in einer unübersichtlichen Kurve der rechteckige Umriss eines LKW vor ihm auf. Während der Lastwagen laut hupte, zog Jean-Pierre den Sportwagen nach rechts gegen die Leitplanke. Der Wagen durchbrach diese und kam über dem Abhang zum Stehen. Hätte sich der Motor nicht im Heck befunden, wäre das Auto in die Tiefe gestürzt.
Jean-Pierre schaute in die Tiefe. Dort ging es ungefähr hundert Meter nach unten.
Nur keine falsche Bewegung.

Jean-Pierre blickte die Schachtel sehnsüchtig an. Schweiß lief ihm über die Stirn, während er überlegte, ob er nicht doch noch eine Rauchen sollte. Der beruhigende Geschmack lag ihm auf der Zunge. Er streckte die Hand aus, doch schon knarrte das Bodenblech.
Er zog sie zurück, um sie gleich wieder auszustrecken.

Der Lastwagenfahrer war augenblicklich zum Stehen gekommen. Er hatte nicht ausweichen können, da auf seiner Seite die Felswand nach oben ragte.
Er sprang aus dem Führerhaus und lief zu dem Cabrio hinüber. Der Fahrer erkannte die Situation sofort und rief Jean-Pierre zu: „Monsier, nicht bewegen! Ich hole ein Abschleppseil.“
Er rannte zurück und sah sich noch einmal um, doch der Wagen war verschwunden.

Letzte Aktualisierung: 26.08.2012 - 11.07 Uhr
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