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Aus der Kurve geflogen | August 2012

Manipulativ
von Jochen Ruscheweyh

Ich hasse meine pädagogische Hilfskraft.
Ich habe keine Ahnung, warum Fr.Breuer vom Amt ausgerechnet Melanie ausgesucht hat. Melanie ist eine fette Kuh mit Nasenring, die die Welt verbessern will. Kann sie ja. In Äthiopien oder Uganda, aber nicht hier bei mir zu Hause.
„Melanie macht jetzt erstmal eine Anamnese mit dir und dann arbeitet sie ein pädagogisches Programm aus“, erklärt Fr.Breuer.
„Aber nicht die da, oder?“, sage ich und zeige betont unschön auf meine neue PHK.
Fr.Breuer trommelt mit den Fingern auf ihrer Kladde. „Wir hatten das doch schon, Oliver. Du kannst auch wieder ins Heim. Es ist deine Entscheidung.“
„Von wegen! Sie erpressen mich doch! Sie schleppen hier ständig diese Abiturientinnen an, die zu faul sind, eine Lehre zu machen und zu schlechte Noten zum Studieren haben. Und wenn ich die ablehne, stecken Sie mich wieder ins Heim!“
„Wenn du das so sehen möchtest, Oliver, bitte. Ich schlage vor, ihr beide beschnuppert euch erstmal, und du rufst mich Ende der Woche an, wie du dich entschieden hast.“

Ich bin alleine mit Melanie. Sie fragt mich Sachen und ich schweige. Sie will wissen, warum ich ihr nicht antworte, und ich schweige weiter. Sie steht auf und geht zum Fenster. „Rauchst du?“, erkundige ich mich.
Sie dreht sich um und nickt.
„Kannst du hier ruhig. Machen die Jungs und Mädels vom Pflegedienst auch. Die, die mich abends ins Bett bringen.“
Melanie steckt sich eine an. „Wie ist das passiert?“, fragt sie, und deutet auf meinen Rollstuhl.
Ich entscheide mich für meine Lieblingsstory. „Beim Bungee-Jumping in Australien. Das Seil war nicht richtig eingestellt. Ich bin voll auf den Rücken geknallt. Nichts mehr zu machen. Aber trotzdem schön im Hubschrauber ins Buschkrankenhaus.“
„Scheiße“, sagt sie, „tut mir leid.“
„Da kann ich mir auch keine neuen Wirbel für kaufen, für dein tut mir leid. Kannst du jetzt gehen? Ich bin müde.“
Sie nickt schon wieder und meint: „In Ordnung. Ist acht Uhr morgen früh okay?“
„Ja, von mir aus.“

Sie ist gerade gegangen, als ich Fr.Breuer anrufe und auf ihren Anrufbeantworter spreche, dass ich mich beschweren will, weil die fette Kuh in meiner Wohnung raucht.

„Und wie ist deine Neue?“, fragt mich Olaf, mein Abendpfleger, während er mich wieder äußerst gründlich zwischen den Beinen wäscht.
„Die bleibt nicht lange. Da mache ich jede Wette“, antworte ich.
„Gefällt sie dir denn so als Mensch?“, fragt er, während er mir meinen Hoden eincremt. „Ist wund“, meint er, als ich versuche runterzugucken.
„Sie ist fett und hat einen Nasenring“, erkläre ich ihm.
Die Creme schmatzt unter seinen Händen.
„Gibt es überhaupt einen Typ Mädchen, den du magst oder legst du dich nicht so genau fest, was deine Ausrichtung angeht?“
Ich merke, dass ich einen Steifen kriege.
„Wär doch schade“, sagt Olaf, „funktioniert doch alles gut bei dir.“
Ich konzentriere mich auf abgeschlachtete Robben. Als meine Erektion nachlässt, lasse ich laufen.
„Ey, du Sau!“, flucht Olaf, „sag doch Bescheid, wenn du pinkeln musst!“

„Ich rauch dann wohl am besten auf dem Balkon“, sagt Melanie am nächsten Morgen, während ich meine Frühstücksflocken mit meinem Therapielöffel esse.
„Nein, musst du nicht, ich hab echt nichts dagegen, wenn du hier drinnen bleibst.“
Melanie guckt mich eine Weile an und sagt dann: „Balkon ist okay für mich. Wenn du fertig gefrühstückt hast, gehen wir ein bisschen raus.“
„Gehen ist etwas schlecht bei mir, ich sitz nämlich zufällig im Rollstuhl!“, sage ich.
Sie verzieht einmal kurz die Mundwinkel und geht rauchen.

„Überleg mal, was du zum Mittag essen möchtest“, stellt Melanie in Aussicht, als sie mich durch den REWE schiebt.
„Äpfel.“
„Wie Äpfel? Du kannst doch nicht nur Äpfel zum Mittag essen.“
„Doch, ich will nicht so fett werden ...“
„... wie ich?“
„Genau!“

Für den Rest des Vormittags sprechen wir nicht mehr zusammen. Um halb eins fragt sie, ob ich die Äpfel roh oder gekocht will. Ich sage, ich will keine Scheiß-Äpfel, sie soll mir das Telefon bringen. Ich tippe mit meiner Zitter-Hand auf die Taxi-Station-Kurzwahl und instruiere die Leitstelle, der Fahrer soll doppelte Pommes rot-weiß aus dem Goldenen Grillimbiss holen.

Ich esse meine Pommes mit meiner Therapiegabel, während Melanie irgendwelche Bögen ausfüllt und in einen Ordner einheftet. „Hast du eigentlich einen Freund?“, frage ich.
„Das ist meine Sache.“
„Wie oft bummst ihr denn in der Woche?“
Sie gibt einen Laut wie „Tsk" von sich und schreibt weiter.

Um Zwei kommt Dülgün, meine Mittagsschwester, und legt mich hin.
Ich habe Dülgün einmal mit meiner zurückentwickelten Hand an den Busen gefasst und dermaßen eine gescheuert gekriegt, dass ich es nie wieder getan habe.
„Na, Oliver, bist du gut zu Mädchen mit Ring durch die Nase?“
Ich zucke mit der Schulter, die noch etwas funktioniert.
„Sollst du. Sieht sie nett aus.“

Nachmittags scheint die Sonne. Ich rufe, dass Melanie mich aus dem Bett holen soll. Das ist eigentlich leicht, weil ich ganz angezogen geblieben bin und nur die Tagesdecke überliegen habe. Ich mache mich extra schwer, indem ich die Muskeln, die ich noch versteifen kann, schlaff hängen lasse. Ich höre, wie es irgendwo bei ihr knackt, und als sie mich draußen hat, wischt sie sich ein paar Tränen weg. „Krankenpflegerin hättest du aber auch nicht werden können, was?“, werfe ich ihr zu.

Die meisten haben mich nicht weiter als bis zum REWE gefahren, wenn sie mit mir draußen waren. Melanie scheint einen kranken Ehrgeiz zu entwickeln, den gesamten Block gegen die Stoppuhr mit mir zu umrunden. Aber mein Plan steht.
An der Ampelkreuzung verlagere ich mein Gewicht mit Hilfe der wenigen Rumpfkontrolle, die mir noch geblieben ist, und rutsche durch den Gurt, den ich vorher in mühsamer Kleinstarbeit geöffnet habe. Natürlich nicht so, dass ich mich ernsthaft verletze. Ich bin ja schließlich nicht bescheuert.

„Mensch, da müssen sie doch aufpassen!“, brüllt ein Mann mittleren Alters Melanie an. „Sie sind viel zu schnell in die Kurve. Bei der AWO gibt’s Kurse dafür. Sollten Sie mal machen, so einen! Kommen Sie junger Mann, ich helfe Ihnen hoch!"
Er fasst mir unter die Achseln und will mich hochziehen.
„Fass mich nicht an, du Spinner! Ich werde von meiner pädagogischen Hilfskraft betreut und ich bin sehr zufrieden mit ihr!“
Er guckt verständnislos. „Aber die junge Dame hier ist doch eindeutig mit Ihrer Betreuung überfordert.“
„Das geht dich jawohl einen Scheißdreck an.“
Er versucht es nochmal, etwas von mir zu greifen kriegen. Ich drehe meinen Kopf und beiße zu, mitten in seinen faltigen Handballen, der nach Billig-Rasierschaum schmeckt. Er taumelt ein paar Schritte zurück, als ich seine Hand freigebe.
„Sie gehören ja in die Psychiatrie!“, stammelt er im Weggehen.
„Was meinst du, wo ich herkomme, du Idiot?“, schreie ich ihm hinterher, „und denk dran: AIDS-Test nicht vergessen!“

„Ich frag’ mich, wie du so geworden bist“, sagt Melanie, wohl mehr zu sich selbst als zu mir, während sie mich in gemäßigterem Tempo zurückschiebt.
„Ich glaube, ich war schon immer so, auch vorher. Ich hatte übrigens keinen Bungee-Unfall.“
„Weiß ich von Frau Breuer, aber nett, dass du es mir von selbst erzählst.“
„Ich hasse dich auch nicht. Ich hasse mich selber. Und spar dir jetzt bitte den Tipp, dass man sich selber lieben muss, um andere mögen oder respektieren zu können. Das ist nämlich ziemlicher Blödsinn.“
Melanie lupft meinen Rollstuhl etwas an, und ich gleite ohne Ruckeln den Bordstein hoch. Sie stellt die Bremsen fest, kommt rum, geht vor mir in die Hocke und guckt mich an. „Ich glaub, ich kann das nicht, Oliver. Ich werde Fr.Breuer sagen, dass ich deine Begleitung abgeben möchte.“
Ich habe das Gefühl, als würde mir jemand den Boden unter dem Rollstuhl wegziehen. Ich will nicht wieder zurück ins Heim!
„Aber“, sage ich, „es läuft doch gerade so gut mit uns beiden. Ich habe mich doch auch schon ein ganzes stückweit geöffnet.“ - Ich sage stückweit, weil ich weiß, dass Pädagogen das Wort gerne hören, weil sie es selbst ständig benutzen – „Außerdem dachte ich, wir könnten Freunde werden ...“
„Freunde? Wir beide? Du hast doch wohl einen gigantischen Knall!“
Ich muss Boden gut machen. „Aber es kann doch auch ganz lustig mit mir sein. So wie gerade, mit dem Typen.“
„Ja, extrem witzig. Vielen Dank auch dafür!“
Dann muss ich die moralische Keule auspacken. „Kannst du dir eigentlich vorstellen, wie das ist, wenn man vollkommen auf fremde Hilfe angewiesen ist und nichts dagegen machen kann, dass man ständig einen hoch kriegt, wenn ein halbschwuler Krankenpfleger einen zwischen den Beinen wäscht?“
„Wäre es eigentlich genauso schlimm, wenn Carmen Elektra oder Pamela Anderson dich zwischen den Beinen waschen würden?“
„Ja, natürlich!“, behaupte ich.
„Weißt du was? Ich denke, du bist ein ganz großer Schwätzer, der einen gigantischen Knall hat.“
„Und was ist mit dir?“, frage ich und beuge mich ein Stück vor.
Sie verdeckt ihren Ausschnitt mit der Hand. „Was soll mit mir sein?“
„Na, du hast doch auch nicht alle stramm. Wer lässt sich denn einen Ring durch die Nase ziehen? Und außerdem, dein Therapieplan hinkt ja wohl hinten und vorne.“
Ich sehe, wie sie ins Grübeln kommt und setze noch einen drauf: „Soviel ich weiß, willst du mal Pädagogik studieren. Da macht sich ein gut gelaufenes Projekt immer gut, habe ich gehört. Ich kann dir dabei helfen, indem ich kooperativ bin. Lass mich dein Projekt sein!“
Melanie schließt die Augen, schüttelt den Kopf und verzieht den Mund. „Das kann ich jetzt nicht so entscheiden, so auf die Schnelle.“

„Bitte, gib mir noch eine Chance“, lasse ich meine Stimme flehentlich klingen, als wir wieder oben in meiner Wohnung sind.
„In Ordnung“, sagt sie schließlich, „eine Chance noch.“
„Super, das sollten wir feiern! Baust du uns einen?“
„Wie meinst du das?“
„Na, du hast doch bestimmt etwas Gras dabei, oder?“
Melanie lächelt so verschämt, wie wenn man Zehnjährige fragt, ob sie die Aufklärungsseiten in der Bravo lesen, holt ihren Tabak raus und klebt zwei Blättchen zusammen.

Die Fliehkräfte sind eine Sache, die man nicht unterschätzen sollte. Aber ich habe sie mal wieder überwunden.

Letzte Aktualisierung: 01.08.2012 - 13.11 Uhr
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