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Aus der Kurve geflogen | August 2012

Der Siebzehndreiundzwanziger
von Wolf Awert

„Guten Tag, Herr Körner, na, wie geht es uns denn heute, darf ich Ihnen meinen Kollegen Dr. Siegel vorstellen, mit seiner, ha, ha, ha, Verstärkung, werden wir schon auf den Grund Ihres Geheimnisses kommen, aber setzen Sie sich doch, Herr Körner.“

Dr. Freund, Psychotherapeut mit einem festen Bein in der Psychoanalyse, blätterte einmal kurz durch Körners umfangreiche Akte.

„Ich rekapituliere noch einmal: Ein Leben nach der Uhr. Waschzwang, Ordnungsdrang verbunden mit dysmorphen Störungen und stark fixierte Traummuster.“

Das Wort „rekapituliere“ wurde von einigen Speichelsprühtröpfchen begleitet.

„Neueste Technik“, sagte Dr. Siegel und klappte seinen Laptop auf. „Traumanalysensoftware, Mustererkennungsalgorithmen und moderne Bildverarbeitung. Datenbankgestützt, versteht sich. Das bringt die Psychoanalyse endlich mal auf eine naturwissenschaftliche Grundlage. Welches war denn ihr letzter Traum, Herr Körner? Bestimmt etwas Sexuelles.“

Körner blickte verwirrt umher. Er konnte nicht sagen, welcher von den beiden Ärzte hier das Sagen hatte. Deshalb zog er sich zunächst einmal in sich zurück, schaukelte ein wenig auf seinem Sitz hin und her und antwortete endlich mit monotoner Stimme:

„Es ist eigentlich immer derselbe Traum. Ich steige nach Dienstschluss in den Bus am alten Depot und fahre dann nach Hause.
Eulenwald und Sanddornweg, Siebenweiler, Großkirchplatz.
Da staut es sich dann ein wenig. Weiter geht’s nach
Oberkahlberg, Unterkahlberg, Niederhainsheim, harte Au.
Dort zeigt die Ampel immer Rot. Aber man kann ihn von dort aus schon sehen.“

„Wen sehen?“, fragte Dr. Siegel.

„Na, den Zentralfriedhof. Dann noch das kurze Stück zur Endstation Ossenheim und von da aus wieder zurück.“

„Aber das ist doch ihr ganz normaler Weg von der Arbeit nach Hause. Das verfolgt sie also auch im Schlaf?“

„Nicht ganz. Nach der Arbeit nehme ich immer den Siebzehndreiundzwanziger. Das ist mein Bus. Der bringt mich nach Hause.“

„Und im Schlaf?“

Körner beugte sich vor und setzte eine Verschwörermiene auf.

„Ein Bus, der nur so aussieht wie der Siebzehndreiundzwanziger.“

„Man kann Ihnen wirklich nichts vormachen, Herr Körner. Meinen Respekt. Sie erkennen die Unterschiede.“

Körner lehnte sich wieder zurück. Nun wieder ganz der Experte.

„Selbstverständlich, meine Herren. Das stimmt alles hinten und vorne nicht. Zunächst einmal ist der Fahrer nicht der Walter Peters. Auf jeden Fall antwortet er nicht, wenn ich ihm ein ‚Grüß Gott’ zurufe. Dann ist der Bus überfüllt mit Leuten in dunklen Anzügen und nicht mit Arbeitern, wie es sein sollte. Aber das Schlimmste ist, dass er an keiner Station hält. Erst wieder am Zentralfriedhof.“

Dr. Siegel tippte ein paar Notizen in seinen Laptop.

„Und das mit dem Zentralfriedhof ängstigt Sie?“, fragte er noch einmal nach, denn er sieht nun eine klare Spur vor sich.

„Sie verstehen nicht, nicht wahr?“, sagte Körner. „Wenn ein vollbesetzter Bus nicht hält und seine Türen nicht regelmäßig öffnet und schließt, dann wird die Luft immer schlechter. Aber noch schlimmer ist, dass er seinen Fahrplan verlässt. Nun sagen Sie bloß, dass Sie das nicht sehen. Wenn der Bus bei einer Station nicht anhält, dann kommt er bei der nächsten Station zu früh an. Und je mehr Stationen er durchfährt, desto schlimmer wird es.“

„Ja, das ist ein Problem“, sagte Dr. Siegel und zog erneut seinen Laptop zurate, bevor er sich wieder Herrn Körner zuwandte.

„Ich schlage Ihnen etwas vor. Ich möchte Sie jetzt in eine leichte Trance versetzen, und Sie sagen mir, was Sie sehen, hören und fühlen. Und im Laufe der Zeit gehen wir immer weiter in die Vergangenheit zurück, bis in ihre Kindheit. Wäre doch gelacht, wenn wir nicht herausfinden würden, wie das alles angefangen hat. Bereit?“

Körner nickte und Dr. Siegel hob seinen blitzenden Kugelschreiber empor und bewegte ihn spielerisch vor Körners Augen hin und her.

„Entspannen Sie sich. Sie werden müde. Wir gehen gemeinsam einen Teil Ihres Lebens zurück bis zu jenem Tag, an dem Ihre Frau beerdigt wurde. Woran erinnern Sie sich?“

Ein Zucken ging durch Körners Körper, und seine geschlossenen Lider flatterten.

„Ich fuhr mit dem Bus zum Zentralfriedhof.“

„Wohnten Sie denn nicht ganz in der Nähe?“

„Eine ganze Station weit entfernt.“

„Wir gehen noch weiter zurück. Sie werden eingeschult, haben die große Schultüte in der Hand. Was sehen Sie?“

„Mama holt mich von der Schule ab. Wir fahren mit dem Bus am Zentralfriedhof vorbei nach Hause.“

„Sie schlafen ruhig und entspannt weiter, Herr Körner“, sagte Dr. Siegel, den sein Kollege Dr. Freund plötzlich hektisch am Ärmel zupfte.

„Gehen Sie noch weiter zurück, Herr Kollege, lassen Sie ihn in ein früheres Leben zurückkehren. In besonders schlimmen Fällen ist es möglich, dass ein früheres Leben sich Bahn bricht und das Heute und Jetzt in eine völlige Unordnung bringt.“

Dr. Siegel schaute skeptisch. „Sie meinen …?“

„Ja, ich meine. So wie das „Es“ Körper und Seele als Einheit betrachtet, so halte ich es für möglich, dass ein zentrales Wesen über alle Zeiten hinweg existent sein mag.“

„Wenig wissenschaftlich. In meinen Augen. Aber wir können es versuchen. Auf ihre Verantwortung, Herr Kollege.“

„Selbstverständlich. Er ist schließlich mein Patient.“

Dr. Siegel wandte sich wieder Herrn Körner zu.

„Sie schlafen. Für einen Augenblick wird es dunkel werden. Aber Sie fühlen keine Angst. Es ist warm und feucht, und Sie fühlen sich satt und geliebt. Und wir gehen weiter zurück in eine Zeit vor dieser Dunkelheit. Können Sie etwas sehen?“

„Ja, ich sehe Dunkelheit, und Licht in dieser Dunkelheit. Ich muss gut aufpassen.“

„Was tun Sie im Augenblick?“

„Ich fahre vom Depot zum Eulenwald. Bei diesem Schneegestöber ist keine Sau unterwegs. Es geht gleich weiter zum Sanddornweg.“

Dr. Siegel seufzte leise vor sich hin. „Ja, ja, ich weiß, und dann weiter zum Zentralfriedhof.“
Und dann, wieder mit fester Stimme:
„Und was passiert nun?“

„Wieso schaltet der Fahrer nicht runter? Die Straße ist abschüssig, ich werde zu schnell. Da.“

Körner machte ein paar Geräusche mit Lippen, Gaumen und Zunge, die entfernt an sich verbiegendes Blech und splitterndes Glas erinnerten.

„Jetzt haben wir den Salat. Ich habe die Ampel mitgenommen.“

„Ganz ruhig, Herr Körner, wir beschützen Sie. Sie sind in Sicherheit. Ist Ihnen was passiert?“

„Ich habe mein rechtes Auge verloren. Da ist jetzt alles dunkel.“

„Das bekommen wir wieder hin. Sagen Sie mir einfach noch, wer Sie sind oder wie Sie heißen. Ist nur für das Protokoll, wissen Sie.“

„Ich bin der Siebzehndreiundzwanziger, Herr Schutzmann.“

Die beiden Psychotherapeuten schauten sich betreten an.

„Es besteht kein Zweifel“, sagte endlich Dr. Siegel nach langer Überlegung und nachdem er das Analyseprogramm seines Laptops bereits zweimal hatte durchlaufen lassen.

„Herr Körner war in seinem früheren Leben ganz zweifelsfrei ein Linienbus.“

Letzte Aktualisierung: 16.08.2012 - 14.12 Uhr
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