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Aus der Kurve geflogen | August 2012

Dünnes Eis
von Lajos Herpay

Die Küchenuhr.
Seltsam, er hatte sie noch nie ticken hören.

Draußen schien die Sonne, ein milder Frühlingstag und ein ziemlich ärgerliches Problem, deshalb saß er da, in der Küche, schweigend. Totalschaden.

In die Leere, scharf und unvermittelt dieses heftige Luftholen.
"Nein!" Er schaute sie kampfbereit an, dem erwarteten Vorwurf zuvorkommend,
"Nein! Ich war NICHT unaufmerksam. Und Nein! Ich habe nicht an Charlotte gedacht."

Es gab kein anderes Thema mehr seit Wochen, und es war völlig egal zu welchem Anlass, immer gelang es ihr, ein Schlupfloch zu finden zu jenem Augenblick, den er inzwischen zutiefst bereute.

Die Küchenuhr bemühte sich um Gleichklang.

"Das habe ich gar nicht sagen wollen", Heike spürte die aufkommende Spannung wie ein enges Band, das alles um sie herum in die Starre zwang und knebelte, konzentriert und unentrinnbar, "aber wenn Du es schon vorwegnimmst..."
Sie hatte es nicht sagen wollen, hätte das nicht sagen sollen, so giftig, so lauernd und ihr Herzklopfen zeugte von der Angst, die seit Wochen von ihr Besitz ergriffen hatte, all ihre Gedanken besetzte wie hartnäckiges Unkraut.

"...ich weiß es tatsächlich nicht, wo du seit Wochen mit Deinen Gedenken bist!" Seine hochgezogenen Augenbrauen, die verdrehten Augen, wie sehr sie das hasste. Und wie sehr sie es hasste, unterlegen zu sein.

"Ich glaub' es nicht!", er sprach es aus, als sei ein dritter im Raum, "ich glaub' es einfach nicht! Es kann passieren was will. Der Mond...", er bemühte sich ruhig zu bleiben, „der Mond könnte glatt auf die Erde fallen, du kämst auf dieses gottverdammte Thema!" Spätestens bei "Gottverdammt", das laut durch das Haus schallte, waren sie wieder mitten drin. Wie jeden Tag, seit drei Wochen, nachdem er sich hatte hinreißen lassen, der plötzlich aus dem Nichts aufgetauchten ehemaligen Schulfreundin in vernebelter Bierlaune mehr als nur einen Freundschaftskuss zu geben.

"Ja ich weiß, du möchtest, dass wir das alles unter den Teppich fegen. Aber das geht nicht und das will ich auch nicht!"
Wut ist besser als Ohnmacht, dachte sie und schaltete die leise Stimme des Verstandes aus, die flüsterte, es sei genug. Sie dachte an die schlaflosen Nächte, den Blick in den Spiegel am Morgen und das gnadenlose Bild, das ihr da entgegenschlug. Die Ringe unter den Augen, die zu kleinen Brüste, die schlaffen Arme...
Seit dem Moment, als sie vom Buffet der Betriebsfeier zurückgekommen war, den Teller zu voll geladen, und den Wunsch im Herzen nach Hause zu gehen, seit dem Moment, als sie Claus und Charlotte, die vielbeachtete Neue, eng umschlungen in der Ecke hatte stehen sehen, war sie um 20 Jahre gealtert. Mindestens.

"Es ist doch gar nichts passiert. Ich habe mich doch schon hundertmal mal bei Dir entschuldigt, warum kannst du nicht endlich loslassen? Was glaubst du, wie es ist, jeden Tag auf dieser Anklagebank zu sitzen!

"Und was meinst du, wie es sich anfühlt, dass du auch noch täglich mit dieser Frau in einem Büro sitzt!"

Ring frei.

"Was soll ich denn tun? Soll ich kündigen, möchtest du an meiner Stelle arbeiten gehen? Und als was? Bitte, als was denn?"

Hieb und stichfestes Argument. Noch eine aufgerissene Wunde. Ja, sie war nur Hausfrau. In naivem Glauben an das Glück Hausfrau geblieben. Hausfrau mit mittlerer Reife, immerhin, und dann noch MTA, aber ohne Berufserfahrung. Ein Nichts und seit die Kinder ein eigenes Leben führten, ein Garnichts. Ein Garnichtsmehr, dessen Umfang darüber hinaus täglich zunahm, innen und außen.

"Was soll ich denn tun?"
Nun hatte die Küchenuhr keine Chance mehr, Gehör zu finden.
"Soll ich sie aus dem Fenster werfen? Soll ich sie umbringen?"

„Nein“, sagte Heike und ihre Stimme wurde leise, fast zitternd, "Du sollst mich endlich verstehen!"
„Wir haben jetzt ein anderes Problem, als deine Eifersucht!“ Ein ungutes Gefühl beschlich ihn. In die Macht, die sich so angenehm kühl in seinem Körper ausgebreitet hatte, schlich sich ein Funke Unsicherheit. War das jetzt zu gemein?
Aber da gab es noch etwas durchzusetzen und mit Weichwerden war das nicht zu schaffen. Für Charlotte war es nur ein kleiner Umweg, für ihn würde es den teuren Mietwagen für den Übergang unnötig machen.

Der rote Opel mit den Vorderrädern in der Parkplatzabgrenzung gefangen, Antriebswelle gebrochen und Stoßstange im eingedrückten Stahlgitterzaun, war geduldig. Was kümmert es schon einen Gegenstand, aus der Spur geraten zu sein.

Letzte Aktualisierung: 22.08.2012 - 19.18 Uhr
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