Unsere Literaturzeitschrift Schreib-Lust Print bietet die neun besten Geschichten eines jeden Quartals aus unserem Mitmachprojekt. Dazu Kolumnen, Infos, Reportagen und ...
Die Sehnsucht nach Freiheit und ... von Anne Zeisig
âLasst euch was einfallen! DafĂŒr bezahle ich schlieĂlich eure mehr oder weniger kreativen Köpfe!â Er zeigte auf seinen Angestellten Micha Heinzwirtl. âBesonders du darfst mich nicht enttĂ€uschen.â Der Chef der Marketingagentur E. MALKER, ein Mittvierziger mit streng nach hinten gegeltem Kurzhaar und roter Riesenbrille, ging im Meeting-Room nervös auf und ab.
âIhr mĂŒsst die KĂ€ufer bei ihren tiefsten Emotionen packen!â Er hustete, weil er sich verschluckt hatte. âWenn wir den Auftrag nicht zur Zufriedenheit dieses GroĂkunden ausfĂŒhren, dann können wir hier einpacken.â
Jetzt setzte er sich an die Stirnseite des Tisches.
âIch brauche eine Eins-A PrĂ€sentation mit VorschlĂ€gen fĂŒr Werbespots und Gestaltungen der Verpackungen. Ihr mĂŒsst die Zielgruppe neugierig machen! MĂŒsst ihre Aufmerksamkeit erregen undâ, er atmete tief durch, âwas das Wichtigste ist, ihr mĂŒsst ihre Sehnsucht wecken!â
Die Kollegin Pauline Oberkrain wischte sich eine lila StrĂ€hne aus den Augen.âSorry, Edwin-Pascal, meinst du diese Art von Sehnsucht, nach der man sich schmachtend verzehrt?â
âWenn ich was dazu sagen dĂŒrfte?â, fragte Mitarbeiter Micha.
âMicha, du bist hier der Kreativkopf. Du musst sogar was sagen. Meine Meetings waren noch nie ein KaffeekrĂ€nzchen fĂŒr nichtssagende Phrasen.â Er nahm einen Schluck aus seinem Coffee-To-Go Becher.
Pauline wischte sich mit ihrer gepiercten Zungenspitze ĂŒber die lila geschminkten Lippen und schnalzte ihrem Kollegen zu.
âVielleicht nimmt Micha an den Meetings teil, weil seine Sehnsucht nach dem ewig Weiblichen geschĂŒrt wird?â
Micha rieb sein linkes OhrlĂ€ppchen. âWas weiĂt du schon von meinen SehnsĂŒchten.â
Sie rĂ€kelte ihren Oberkörper dermaĂen, dass ihr Busen fast den Kollegen am Arm streifte. âSorry, dann erzĂ€hl mir doch von deinen SehnsĂŒchten.â
âLeute! Was soll das! Ist doch klar, dass Menschen, die breite Masse also, SehnsĂŒchte in sich tragen! Sie mĂŒssen nur geweckt werden.â Edwin-Pascal Malker stellte sich vor den Projektor. Er zeichnete ein Viereck auf die Folie. âDas hier ist unser Produkt.â
Darunter malte er viele kleine Kreise. âUnd das hier sind die Konsumenten, deren Sehnsucht nach dem Produkt geweckt werden muss.â
âSorry, Edwin-Pascal, du meinst also, dass die Sehnsucht tief im Inneren verschĂŒttet ist und erst an die OberflĂ€che befördert werden muss?â Pauline zwinkerte Micha zu.
Der kraulte sich seinen Drei-Tage-Bart. âIch bin mir unsicher, ob bei unseren Zielpeople SehnsĂŒchte der richtige Ansatz sind.â
âDann mach einen besseren Vorschlag, schlieĂlich be... â
âJa, ich weiĂ, schlieĂlich bezahlst du mich.â
Pauline seufzte tief, ganz tief. âDas mit der Sehnsucht ist aber eine supi Idee!â Ihr glockenhelles Kichern brachte die Projektionsfolie zum Erzittern. Sie zeigte auf ihren Chef. âEdwin-Pascal, du hast einfach ein Superhirn mit genialen EinfĂ€llen!â
Micha rieb sich am Kinn. âDeine Euphorie in allen Ehren, aber ich denke, Frauen haben eine andere Sehnsuchtsempfindung als MĂ€nner. Edwin jedoch sprach von der breiten Masse.â
Pauline schlug ihre langen Beine ĂŒbereinander und ihr kurzer Rock rutsche dabei noch höher. Sie stĂŒtzte ihre Ellbogen auf dem Tisch auf und nahm ihren Lockenkopf zwischen beide
HĂ€nde. âNun machst du mich aber wirklich neugierig. Habe ich etwa keine Masse?â Sie blickte auf ihr ausladendes Dekolletee.
Chef Edwin-Pascal schlug mit seiner Faust auf den Tisch. âLeute! Ich brauche konkrete AnsĂ€tze! Nennt mir Beispiele! Oder was auch immer! VorschlĂ€ge bitte.â Er klemmte sich seinen Stift hinters Ohr.
Pauline raffte sich auf und straffte wieder ihre ĂŒppige Oberweite. âIch als Frau kann euch da nur sagen, dass ich sehr empfĂ€nglich bin fĂŒrs Wecken meiner SehnsĂŒchte.â Sie stöhnte einmal laut auf. âAber wann bitte, werden SehnsĂŒchte gestillt? Da liegst du nachts stundenlang nackt wie Gott dich schuf, wach, obwohl du weiĂt, dass das nicht gut ist fĂŒr den Schönheitsschlaf und vergehst vor Sehnsucht in der Hitze einer einsamen Nacht. Da liegst du tagelang mit knappem Bikini in der Sonne, obwohl du weiĂt, dass das nicht gut ist fĂŒr die Falten und anstatt dass du das genieĂt, da treibt dich eine gewisse Sehnsucht innerlich nervös umher. Da liegst du in der Badewanne und alles, was du an Gesellschaft dein Eigen nennen kannst, ist der azurblaue Badeschaum und die vergoldete Quietschente number one von Dior. Niemand stillt dieses Sehnen, nach, nach, Ă€hem, niemand nimmt sich meiner Lust, Ă€h, Sucht an.â Sie stöhnte abermals, warf ihren Kopf in den Nacken und strich sich eine weitere HaarstrĂ€hne hinters Ohr. âSorry, aber ungestillte Sehnsucht ist das Schlimmste, was es gibt.â
Nun wippte ihr Kopf fĂŒr Sekunden nach vorne, sie hob ihn wieder an und hauchte. âOh ja, das ist schlimm.â Und nun versagte ihre Stimme vollends. âWohl dem, der wenigstens ein Haustier zum Kraulen hat.â
Eine Zeitlang war es still im Raum. Nur der Projektor rauschte unbeeindruckt weiter.
Micha sah seinen Chef mit offenem Mund und starrem Blick an. Der blickte ebenso zurĂŒck.
âUnd wie schaut âs bei euch Kerlen mit den SehnsĂŒchten aus? Leidet ihr auch so?â Pauline klemmte sich zwei Folienmarker zwischen die ZĂ€hne und nuschelte. âSchicherlich nischt.â
Das Gesicht ihres Chefs zeigte ein bedrohliches Signalrot. Er kniff seine Augen zusammen. Es hatte sich eine tiefe Zornesfalte ĂŒber seiner Nasenwurzel gebildet.
Micha stand auf und legte ihm beruhigend seine Hand auf die Schulter. âIch denke, wir sollten es honorieren, dass Pauline uns so tief in ihre ungestillten SehnsĂŒchte hat blicken lassen.â
Pauline spitzte ihre Lippen und hauchte, âsehr tief sogar, Michaâ, und warf ihm einen Handkuss zu. Sie sprang auf, stöckelte zum Projektor und zeichnete eine zweite Packung auf die Folie, welche sie rosa ausmalte. Die zweite, welche ihr Chef gezeichnet hatte, schraffierte sie hellblau.
âRosa weiblich, bleu mĂ€nnlich.â
âDu spinnst!â Micha drehte sich auf dem Stuhl herum und wandte ihr seinen RĂŒcken zu.
Edwin-Pascal rĂŒckte den Kragen seines hellblauen Polohemdes zurecht, strich ĂŒber das grĂŒne Krokodil-Label auf der Brusttasche und schlug einen Aktenordner auf. Das Rot war einem Sonnenstudio-Bronze gewichen. âVielleicht sollte ich mich wirklich besser nicht aufregen, denn die aktuelle Studie des Institutes DR. PROF. HUND & BUND, Berlin, fĂŒhrt auf, dass mĂ€nnliche und weibliche KĂ€uferschichten tatsĂ€chlich emotional differenziert empfinden und deshalb auf unterschwellig, unterschiedlichen Ebenen an ein Produkt herangefĂŒhrt werden mĂŒssen, weil das Unterbewusstsein immer mitentscheidet beim Kauf.â
Micha sprang auf. âUnd wie sollen wir das unserem Auftraggeber verkaufen, dass die Packungen und Dosen geschlechtsspezifisch eingefĂ€rbt werden? Da mache ich nicht mit.â
âMicha, du vergisst, dass du von mir bezahlt wirst.â Er schlug den Ordner zu.
Micha Heinzwirtel kratzte sich abermals an seinem Drei-Tage-Bart. âSoll ich euch sagen, nach was ich mich sehne?â
Pauline setzte sich wieder hin. âSpuck âs aus, Micha. Gilt deine Sehnsucht mir?â
Er nahm seine Tweed-Jacke vom Garderobenhaken und zog sie an. âIch sehne mich danach, nicht mehr finanziell von einem Boss abhĂ€ngig zu sein, der mich nur bezahlt, wenn ich mein Gehirn maltrĂ€tiere, es auswringe und die Nervenenden doppelt und dreifach verknote!â
Er umfasste die TĂŒrklinke. âUnd das alles fĂŒr so einen ScheiĂ!â
âHeiĂt das, du kĂŒndigst?â
âJa, Edwin, das heiĂt es. Ich will meinem Gehirn endlich einen Hauch von Freiheit gönnen!â
âAha.â Pauline kaute auf einem Filzstift herum. âDie mĂ€nnliche Sehnsucht gilt also der Freiheit und der finanziellen AbhĂ€ngigkeit von der Bundesagentur fĂŒr Arbeit. Interessant.â
Micha Heinzwirtl lieĂ die TĂŒr laut ins Schloss fallen.
Edwin-Pascal zuckte mit den Schultern. âDann ziehen wir die Kampagne alleine durch.
Pauline legte den Stift auf die Folie. âUnser Kunde wird begeistert sein. Damit hebt er sich cool von den Mitbewerbern ab. Ich finde unsere Idee absolut hipp.â
Ihr Chef blickte an die Zimmerdecke. âIch sehe es bereits vor mir!â, er machte eine ausladende Armbewegung. âBELLO mit Rindfleisch auf RotweinsoĂe in lightblue fĂŒr den freiheitsliebenden RĂŒden und BELLA mit HĂŒhnchen und Ananas in pinky fĂŒr das vertrĂ€umte rollige Weibchen.â
Pauline jauchzte und klatschte in die HĂ€nde. âSorry, Chef, aber du bist genial!â
Ihr Chef umarmte Pauline und raunte ihr ins Ohr. âKann ich garnicht verstehen, dass so ein Vollweib wie du die NĂ€chte in der Badewanne alleine verbringt.â