Der Cousin im Souterrain
Der Cousin im Souterrain
Der nach "Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten" zweite Streich der Dortmunder Autorinnengruppe "Undpunkt".
mehr ... ] [ Verlagsprogramm ]
 SIE SIND HIER:   HOME » MITMACH-PROJEKT » SCHREIBAUFGABE » Elsa Rieger IMPRESSUM
NEWSLETTER
Abonnieren Sie unseren Newsletter.

Jetzt anmelden! ]

UNSERE TOP-SEITEN
1.) Literatur-News-Ticker
2.) Leselust
3.) Forum
4.) Mitmach-Projekt
5.) Schreib-Lust-News 6.) Ausschreibungen 7.) Wettbewerbs-Tipps
Sehnsucht | September 2012
Ein Satz mit X
von Elsa Rieger

Manchmal nannte er sie in seinen Briefen »meine kleine Witwe«, oder auch »old loveley«, und nein, ihm sei absolut klar, dass sie eine gewisse Patina habe. Er schwor, er liebe ja ihre Seele, Schönheit sei doch ohnehin vergänglich.
Sie schrieb zurück, wieso er da so sicher wäre.
»Jeder sitzt vor seinem Monitor, im eigenen Zimmer«, erklärte sie, »alles kann da fantasiert werden.«
»Aber nein«, er wieder, »ich sehe die Fotos, ich höre deine Stimme, das kann überhaupt niemals Täuschung sein.«
Sie: »Ich möchte nicht verletzt werden.«
»Bei mir wirst du geborgen sein.« Er.
So schrieben und schrieben sie hin und her, über viele Wochen ging das so, die Sehnsucht wuchs, Versprechen schwebten im virtuellen Raum, eine gemeinsame Zukunft wurde gemalt, alter Schmerz der jeweiligen Biografie geteilt. Ja, so musste sich Liebe wohl anfühlen. Dachten beide. Freuten sich auf die erste Begegnung, gewiss, jeder für sich, dass dies die Krönung der gewechselten Worte sein würde.

Als sie ihn am Bahnhof erwartete, endlos strömten Reisende über den Perron, schlug ihr das Herz bis in die Schläfen empor. Dann kam er auf sie zu. Das würde sich nicht ausgehen, blitzte in ihr auf, denn sie sah sich in seinen Augen. Aber sie verwarf diesen Gedanken sogleich. Fast konnte sie hören, wie es ihn umtrieb: Ich habe ihr so viel versprochen.
Und ich habe dir alles geglaubt. Dachte sie. Sagte:
»Hallo!«, lachte ihn an, tat ausgelassen, wie in den Texten, die seit Wochen wie ein Rosenblütenregen auf beide herabgerieselt war.
Auch er lachte breit, zeigte alle Zähne, doch in seinem Blick war Angst. Trotzig forderte sie Abmachungen ein. Eine davon war, miteinander ins Bett zu steigen. Sie wollte und konnte ihm das nicht ersparen, sie waren sich doch ihrer Liebe so sicher gewesen.
Es wurde zum Fiasko. Schale Ausreden folgten. Tiefsinnige Gespräche ebenso. Viel Rotwein, um der Situation Herr zu bleiben. Irgendwie mussten diese Tage doch herumgebracht werden? Ohne einander gänzlich zu verletzen. Wenigstens das. Er war einer Illusion aufgesessen, hatte sich ein Bild von ihr gemacht, das nun nicht zutraf. Spürte sie. So wenig Mann war er nicht, als dass er dabei bleiben hätte können, zu sagen, er liebe ihre Seele.
Immerhin war sie so gestrickt, dass sie seine körperlichen Unzulänglichkeiten gerne übersehen wollte, denn es sollte doch um Herzensnähe gehen. Hatte es geheißen. Seine Brüste, das zierliche Geschlecht, sein bleicher rundlicher Bauch, das alles wäre nicht schlimm, überlegte sie, entnervt von der Sprachlosigkeit, die als zähe Wolke zwischen ihnen stand, wenn nicht, ja, wenn nicht er sich etwas über den Leib einer reifen Frau Ende fünfzig zusammengereimt hätte. Natürlich hatte er nichts dergleichen ausgesprochen; die Taten reichten, um es deutlich zu machen. Sie hatte sich keine Illusionen über ihn gemacht, auch wenn er das gewiss hoffte, des Ausgleichs wegen. Obwohl sie ahnte, dass alles verloren war, startete sie einen Versuch nach dem anderen, den Hebel herumzureißen, doch ihre Fehlerquote war einfach zu hoch.
Am liebsten hätte sie gesagt, »Verpiss dich, du blöder Hund! Hau ab, Waschlappen, und nimm deine Lügen alle mit.« Tat sie aber nicht. Zu schwach hatte sie der stumme Vorwurf, nicht seinen Fantasien zu entsprechen, werden lassen. Um nicht ehrlich sein zu müssen, folgten weitere desaströse Anstrengungen.
Als dann endlich die Nacht vor seiner Abreise gekommen war, verfrachtete sie ihn kurzerhand ins Gästebett. Nicht noch mehr Stunden nebeneinander liegen. Sie werde nicht auf ein letztes Abendmahl gehen mit ihm, sagte sie. Ihn auch nicht am nächsten Morgen zum Bahnhof begleiten. Sie drückte ihm ein Ticket für die U-Bahn in die Hand. Er ging essen und sie in ihr Bett.

»Das war wohl nix«, flüsterte sie und wartete darauf, dass endlich die Tränen fließen würden. Aber die Augen blieben so trocken, wie ihr Schoß in den Nächten der entliebten Qual gewesen war.

Letzte Aktualisierung: 18.09.2012 - 20.46 Uhr
Dieser Text enthält 3949 Zeichen.

Druckversion

 LINKTIPPS: Naturwaren Diese Website wird unterstützt von:

www.mswaltrop.de
Copyright © 2006 - 2024 by Schreiblust-Verlag - Alle Rechte vorbehalten.