Burgturm im Nebel
Burgturm im Nebel
"Was mögen sich im Laufe der Jahrhunderte hier schon für Geschichten abgespielt haben?" Nun, wir beantworten Ihnen diese Frage. In diesem Buch.
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Sehnsucht | September 2012
Der Smaragdring
von Frank Atteln

Ich war kaum ein Mann geworden, als mich das Schicksal traf, und so schrie es in mir und es brodelte und wütete, dass ich vor Angst und Schreck, vor Rage und Erschöpfung gleichermaßen zitterte. Gab es einen Gott, und mit welchem Gewissen schlief er, jetzt, wo er mich zum Mörder gemacht hatte? Die Verzweiflung, die an dem verhängnisvollen Tag unschuldig mit süßer Wehmut anfing und am Abend mir in Schmerz und Schuld und Ausweglosigkeit die Kehle zuschnürte, dass es unvorstellbar schien, sie könnte mit dem Tode enden - ja, mit den Jahren verliert sie sich in der Abstumpfung. Und dann, ganz leise und von der Welt entrückt, stiehlt sich ein unwirklicher Friede in die Seele, und ihm folgen die Bilder aus der Jugend, die hoffnungsvollen Pläne jener Zeit, und die silberhellen, leisen Echos früher Liebeleien. Ein Wink mit den Augen, eine Aufforderung mit dem Fächer, ein geschicktes Füßchen unter dem Tisch: alle Episoden verdichten sich zu einer einzigen kleinen Geschichte, und diese Geschichte spendet Trost, bis mit dem Sterben die Verzweiflung ihren festen kalten Würgegriff zum letzten Mal ansetzen wird. So habe ich es bei Gennadij und bei Wladimir beobachtet, und so holte der Tod gestern Pjotr. Ich will aufschreiben, was mir widerfuhr, bevor meine Erinnerung auch die letzten Schleusen passiert hat und zum Rinnsal aus Mythen wird.

Über meine ganze Kindheit hinweg arbeitete mein Vater daran, mir sein Prinzip - jeder Soldat trägt den Marschallstab im Tornister und jeder Untertan das Ministersiegel in der Rocktasche - in meine Seele einzuschmieden wie einen elastischen Kern in eine gute Klinge. Als ich mit den anderen Kindern meines Standes in einer Mini-Uniform in die Kadettenakademie einrückte, galt das Führungsprinzip meines Vaters allerdings nichts. Nach meiner militärischen Erziehung sollte ich Frankreich kennenlernen und schrieb mich an der Sorbonne ein. Mein Drang zum weiblichen Geschlecht half mir sehr. Bald konnte ich nicht nur französisch sprechen wie die Franzosen sondern auch in allen europäischen und einigen orientalischen Zungen gewisse Anweisungen, anatomische Benennungen und Beleidigungen vortragen. Nach meinem Examen holte er mich aus Paris ab, hielt auf der Heimreise mehrere Fassungen seiner berühmten Predigt von den Offizieren, die aus der Mannschaft herangezogen werden müssten, und ordnete an, dass ich für Onkelchen Paschas Moskauer Kontor als Kurierbursche arbeiten sollte.

Mein neuer Gast- und Brotherr, Onkel Pawel Pawlowitsch Galerkin, Kosename Pascha, war ein guter Kaufmann und einer seinem Geist entsprechend einfachen Lebensüberzeugung: Monopole schafft man sich im Kopf des Kunden. Seine Frau, Tante Klawdija Anatolewna, die Schwester meines Vaters, war eine herzliche, warmherzige und temperamentvolle Frau, die sich in ihre Kinderlosigkeit geschickt hatte und die Onkelchen nicht mehr beim Kosenamen nennen wollte. Er soll einmal nach ausgiebigem Champagnergenuss in der Loge der Familie Godunow einen Vers über den Namen Klascha und seine Verwandtschaft zu kalter Kascha gemacht haben und seit jener Nacht, erzählt man sich, an einer empfindlichen Körperstelle über eine ähnliche Narbe verfügen wie mein Vater sie am Kopf trägt. Am Tag meiner Ankunft bei ihm plauderten wir bei Tee und einigen Partien Ecarté, bis er sich erhob. Man wolle nun in die Oper gehen, ich müsse in die Moskauer Gesellschaft eingeführt werden, sagte er. Das Vergnügen währte kurz. Sofort nach Ende der Aufführung setzte das Onkelchen mich alleine in eine Kutsche nach Hause, und aus seiner erwachenden Lebhaftigkeit war mir klar, wie sein weiterer Abend aussah.

Am nächsten Morgen betrat ich in seiner Begleitung das Kontor und nahm meinen ersten Auftrag entgegen, die Präsentation einer Kollektion Stoffe bei Alexej Borisowitsch Postnikow. Moskaus Straßen sind zu allen Jahreszeiten schlecht zu befahren. Am Ziel angekommen war ich froh, kein Durcheinander bei den Tuchwaren zu haben. Man führte mich in die Eingangshalle und hieß mich warten. Zwei Diener in Livrée trugen die Stoffe die Treppe hinauf in die höheren Gemächer. Ich richtete mich auf eine längere Wartezeit ein und ließ meinen Blick wandern. Das Entrée war groß und hell und der Boden war in der Art eines Schachbrettmusters gestaltet. Nach fünf Jahren beengter Behausung genoss ich für diese Minuten der Muße das Glück, frei atmen zu können. Plötzlich nahm ich ein Geräusch wahr, wandte den Kopf und sah gerade noch den Saum eines Kleides hinter einer Tapetentür verschwinden. Die Tür selbst blieb einen Spalt auf. Dann schob sich ein blondgelocktes Köpfchen hinter einer weißen Augenmaske ins Blickfeld und verschwand wieder. Kühn ging ich zur Tapetentür. Dahinter war ein helles, intimes Zimmer mit grünen Wänden. Auf einer Chaise lag die junge, blonde Dame, das glatte, ihrer Silhouette schmeichelnde Kleid hübsch drapiert, und gebot mir mit der Hand stehenzubleiben, ehe sie das Wort an mich richtete. Ob ich einer der frechen französischen Philosophen sei und ob ich mehr der Natur oder dem Geist des Menschen zuneigte? Ich war perplex, weil sie es sehr geschickt verstand, das Wandern meiner Augen über ihre Gestalt zu dirigieren. Dabei raffte sie, wenn ich mit ihren schönen, lächelnden braunen Augen hinter der Maske beschäftigt war, das Kleid ein wenig hoch und zupfte, wenn ich die neu freigelegte Schönheit ihrer Beine studierte, das Dekolleté ein wenig herunter. Meine gestotterte Paraphrasierung über die harmonische Verbindung von Geist und Körper machte sie spottlustig. Minute um Minute trieb sie mich in neue Verlegenheiten und steigerte sowohl meine Scham wie mein Verlangen. Plötzlich ging die Tür rechts von der Chaise auf und eine zweite blonde Dame, mit einer samtschwarzen Maske, wasserklaren hellblauen Augen und der Körperhaltung einer Königin kam herein. Hatte ich eben noch mit mir gekämpft, nicht jeden Rest meiner Geistesgegenwart zu verlieren, so sah mein Begehren sich plötzlich in einer Pattsituation, unentschieden, worauf es sich konzentrieren sollte, und gab mir die Kräfte, die es gebunden hatte, wieder zurück. Die erste Dame glitt von der Chaise, verließ das Zimmer durch die Tapetentür und schloss sie hinter sich. Die zweite Dame winkte mich mit den Worten „Wenn er schon hier eingedrungen ist, dann soll er mich auch unterhalten“ zu sich heran. Nach einigen Minuten des Plauderns führte sie das Spiel der ersten Dame fort, versetzte mir mit ihrem Fächer hin und wieder kleine Schläge und ließ zur Verschlimmerung meiner Leiden ihre Finger manche Ausflüge und Erkundungsreisen an mir ausführen. Interessierte sie sich anfangs für meine Hände und schlug mich, wenn ich nicht absolut still hielt, heftig ins Gesicht, zwang sie mich bald, über sie gebeugt starr zu verharren. Schließlich wurde es für mich sehr heikel, aber kurz bevor ihre geschickten Finger mir meine Hose ruiniert hätten, ließ sie mit einem gurrenden Lachen von meiner empfindlichen Stelle ab und zog mich zu sich herunter. Weil ich keine Schläge mehr bezog, ging ich besessen auf mein Ziel los. Sie sollte sich nur noch an meine Kunst, Ausdauer und Geschicklichkeit erinnern und jeden früheren Höhepunkt als schwaches Vergnügen dagegen sehen. Ich war so in Raserei, dass ich nicht mitzählte, wie oft sie seufzte oder schrie. Als wir uns erhoben, war es weit nach Mittag, und als wir unsere Kleidung in Ordnung brachten, sahen wir mit dem satten Blick zufriedener Katzen in den Spiegel. Die Dame zog sich einen Smaragdring vom Finger, nahm meine Hand und legte ihn hinein. Wann immer ich sie im grünen Zimmer zu besuchen wünschte, sollte ich ihr Haus betreten und den Stein sichtbar tragen, sagte sie, küsste mich und verschwand durch die Tür, durch die sie gekommen war. Ich fühlte mich noch der Welt entrückt, als ich durch die Tapetentür in die Eingangshalle des Postnikowschen Anwesens stieg. Ein Diener, der dort auf mich gewartet hatte, erklärte mir mit unbewegter Miene, dass die Kollektion wieder in der Kutsche läge und er Order habe, mir die Bestellliste für meinen Onkel mitzugeben. Dabei stopfte er mir einige lose Blatt Papier in die Rocktasche. Meine Beine verließen für mich das Haus und gingen zur Kutsche. Im Wageninneren schließlich kam ich langsam wieder zu mir. Den Ring musste ich vor meinem Onkel verbergen, und so stopfte ich ihn in den Strumpf. Ich fühlte mich als Herr der Welt, doch als ich zu Hause einfuhr, bot sich mir eine Szene, vor der ich, als wäre ich vor den Kopf geschlagen worden, ein oder zwei Schritte zurückwich, bevor ich eingriff. Auf einem Tisch stand das Onkelchen, fast bis zur Besinnungslosigkeit betrunken, eine Peitsche in der Hand, vor ihm Tanta Klawdija, die ihn weinend anflehte, vernünftig zu werden, und das Personal kauerte regungslos hinter Schrankecken und Stühlen. Er werde das Kind als seines aufziehen, komme was wolle, schrie er und trat Tante Klawdija ins Gesicht. Ich sprintete durch den Raum, sprang auf den Tisch und warf ihn zu Boden. Beim Sturz schlug er sich den Kopf an einem Schrankeck an und war augenblicklich tot. Just da kamen mein Vater und ein Mann die Wendeltreppe von der Kanzlei herunter.

Der Mann stellte sich als Geheimpolizist vor. Ich hätte einen Verschwörer gegen den Zaren getötet, sagte er, aber es wäre wohl anzunehmen, dass auch ich keine Treue kennte. Mit einem Griff in meine Rocktasche förderte er die Papiere zutage und triumphierte. Ein Händel unter politischen Verbrechern, das hätte er sich schon gedacht, und ob ich einzuziehenden Besitz lieber gleich zu Protokoll geben wollte, in Sibirien sei er mir eh verboten. Als mir der Prozess gemacht wurde, war mein Vater schon aus Moskau abgereist. Seitdem lebe ich in der Verbannung, mit einem Ring im Socken.

Letzte Aktualisierung: 22.09.2012 - 21.07 Uhr
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