Der Cousin im Souterrain
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Der nach "Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten" zweite Streich der Dortmunder Autorinnengruppe "Undpunkt".
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Sehnsucht | September 2012
Stanislaws zweiter Frühling
von Monika Heil

Stanislaw war der größte und bestaussehende Kater im ganzen Viertel. Wenn er langsam und würdevoll durch die kleinen Dorfgassen spazierte, bekam so manche Katzendame leuchtende Augen. Egal wie alt sie war. Doch Stanislaw war in die Jahre gekommen. Früher, ja, da hatte er jede Menge Freundinnen gehabt - oft mehrere auf einmal. Stanislaw war der größte Schürzenjäger weit und breit gewesen. Leicht hatte es Mimmi, seine schüchterne, unscheinbare Katzefrau nie mit ihm gehabt. Seit ein paar Monaten war Stanislaw verwitwet. Er trauerte ehrlich um seine Gefährtin und zog sich immer mehr aus dem öffentlichen Katzenleben zurück. Bis - ja, bis eine neue Menschenfamilie in das kleine Haus auf der anderen Straßenseite einzog und mit ihr eine Katzenschönheit, die ihn völlig aus der Bahn warf.

An einem hellen Frühlingsmorgen hatte der alte Kater einen Spaziergang unternommen und nun ruhte er sich auf seinem Lieblingsplatz im Garten aus. Die ersten Sonnenstrahlen wärmten seine Knochen, die inzwischen leichte Anzeichen von Gicht aufwiesen. Ganz vorsichtig streckte er seine steifen Glieder und putzte sein schönes weiches Fell, denn auf ein ansprechendes Äußeres legte er noch immer größten Wert. Wie jeden Tag dachte er voller Sehnsucht an Mimmi, seine mausgraue liebe Mimi.

Plötzlich fiel sein Blick auf das gegenüber liegende Fenster und dort saß ... sie! Eine jugendliche Schönheit, deren schwarzes Fell glänzte wie flüssiger Teer. Ihre Augen erinnerten an polierten Bernstein. Und dann dieses allerliebstes Stupsnäschen! Stanislaw schloss die Augen, um sie sofort wieder zu öffnen. Sie saß noch immer dort. Träumte er? Vorsichtig zwickte er seinen schönen buschigen Katzenschwanz - aua -. Es war kein Traum! Sein Herz klopfte rasend. Verschüttete Gefühle brachen sich Bahn und weckten Erinnerungen an längst vergangene Jugendzeiten. Seine Gedanken rannten einfach los. Er sehnte sich nach Liebe. Nur noch ein einziges Mal.

Stanislaw atmete tief ein und aus. Er versuchte, sich so graziös wie möglich zu erheben und lief auf lautlosen Wattepfoten in Richtung dieses bezaubernden Wesens. Autoreifen quietschen, Bremsen stöhnten. Er hörte es nicht. Wie hypnotisiert trieb ihn die Sehnsucht nach dieser Traumgestalt vorwärts. Unverletzt erreichte er das gegenüberliegende Haus. Doch das Fenster lag zu hoch. Er konnte dieses göttliche Katzenwesen jetzt nicht mehr sehen. Stanislaw zögerte keine Sekunde. Mutig setzte er zum Sprung auf die weiße Bank unter dem Fenster an, ein weiterer Satz auf die schmale Lehne - vergessen waren alle Gebrechen! Verstört stellte der Kater fest, dass er von dem Fensterbrett und damit von der Angebetenen noch immer zu weit entfernt war. Seine Gefühle überfluteten ihn, trieben ihn unaufhaltsam weiter. Neben der Bank wuchs ein üppiger Fliederstrauch. Stanislaw sprang. Sein Adrenalin-Spiegel stieg bedrohlich an. Ihm wurde es schwindelig. Er krallte sich am Gehölz fest, visierte das endlich in erreichbarer Weite scheinende Fensterbrett an. Todesmutig katapultierte er sich durch die Luft und landete punktgenau auf dem Fenstersims. Wellen der Erschöpfung überrollten ihn. Er ignorierte es, denn er sah nur sie. Erst jetzt bemerkte er, dass das Fenster geöffnet war. Der Weg war frei! Stanislaw konnte es nicht fassen.

Langsam hob er die rechte Pfote an. Ganz sanft wollte er der Schönen über das weiche Fell streicheln, da! Er erstarrte! Das war kein Katzenfell, das waren keine lebendigen Katzenaugen! Entsetzt und beschämt erkannte er, dass er sich in das Stofftier eines kleinen Mädchens verliebt hatte.
Vorsichtig schaute Stanislaw sich um. Offenbar hatte niemand seinen Annäherungsversuch beobachtet. Langsam sprang er vom Fenstersims. Oh, diese Knochen! Plötzlich war er wieder so alt wie er war. Er hatte nur wenige Minuten gedauert, sein zweiter Frühling.

Letzte Aktualisierung: 07.09.2012 - 16.15 Uhr
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