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Sehnsucht | September 2012

Die Sehnsucht nach Freiheit und ...
von Anne Zeisig

“Lasst euch was einfallen! Dafür bezahle ich schließlich eure mehr oder weniger kreativen Köpfe!” Er zeigte auf seinen Angestellten Micha Heinzwirtl. ”Besonders du darfst mich nicht enttäuschen.” Der Chef der Marketingagentur E. MALKER, ein Mittvierziger mit streng nach hinten gegeltem Kurzhaar und roter Riesenbrille, ging im Meeting-Room nervös auf und ab.
“Ihr müsst die Käufer bei ihren tiefsten Emotionen packen!” Er hustete, weil er sich verschluckt hatte. “Wenn wir den Auftrag nicht zur Zufriedenheit dieses Großkunden ausführen, dann können wir hier einpacken.”
Jetzt setzte er sich an die Stirnseite des Tisches.
“Ich brauche eine Eins-A Präsentation mit Vorschlägen für Werbespots und Gestaltungen der Verpackungen. Ihr müsst die Zielgruppe neugierig machen! Müsst ihre Aufmerksamkeit erregen und”, er atmete tief durch, “was das Wichtigste ist, ihr müsst ihre Sehnsucht wecken!”
Die Kollegin Pauline Oberkrain wischte sich eine lila Strähne aus den Augen.“Sorry, Edwin-Pascal, meinst du diese Art von Sehnsucht, nach der man sich schmachtend verzehrt?”
“Wenn ich was dazu sagen dürfte?”, fragte Mitarbeiter Micha.
“Micha, du bist hier der Kreativkopf. Du musst sogar was sagen. Meine Meetings waren noch nie ein Kaffeekränzchen für nichtssagende Phrasen.” Er nahm einen Schluck aus seinem Coffee-To-Go Becher.
Pauline wischte sich mit ihrer gepiercten Zungenspitze über die lila geschminkten Lippen und schnalzte ihrem Kollegen zu.
“Vielleicht nimmt Micha an den Meetings teil, weil seine Sehnsucht nach dem ewig Weiblichen geschürt wird?”
Micha rieb sein linkes Ohrläppchen. “Was weißt du schon von meinen Sehnsüchten.”
Sie räkelte ihren Oberkörper dermaßen, dass ihr Busen fast den Kollegen am Arm streifte. “Sorry, dann erzähl mir doch von deinen Sehnsüchten.”

“Leute! Was soll das! Ist doch klar, dass Menschen, die breite Masse also, Sehnsüchte in sich tragen! Sie müssen nur geweckt werden.” Edwin-Pascal Malker stellte sich vor den Projektor. Er zeichnete ein Viereck auf die Folie. “Das hier ist unser Produkt.”
Darunter malte er viele kleine Kreise. “Und das hier sind die Konsumenten, deren Sehnsucht nach dem Produkt geweckt werden muss.”
“Sorry, Edwin-Pascal, du meinst also, dass die Sehnsucht tief im Inneren verschüttet ist und erst an die Oberfläche befördert werden muss?” Pauline zwinkerte Micha zu.
Der kraulte sich seinen Drei-Tage-Bart. “Ich bin mir unsicher, ob bei unseren Zielpeople Sehnsüchte der richtige Ansatz sind.”
“Dann mach einen besseren Vorschlag, schließlich be... “
“Ja, ich weiß, schließlich bezahlst du mich.”
Pauline seufzte tief, ganz tief. “Das mit der Sehnsucht ist aber eine supi Idee!” Ihr glockenhelles Kichern brachte die Projektionsfolie zum Erzittern. Sie zeigte auf ihren Chef. “Edwin-Pascal, du hast einfach ein Superhirn mit genialen Einfällen!”
Micha rieb sich am Kinn. “Deine Euphorie in allen Ehren, aber ich denke, Frauen haben eine andere Sehnsuchtsempfindung als Männer. Edwin jedoch sprach von der breiten Masse.”

Pauline schlug ihre langen Beine übereinander und ihr kurzer Rock rutsche dabei noch höher. Sie stützte ihre Ellbogen auf dem Tisch auf und nahm ihren Lockenkopf zwischen beide
Hände. “Nun machst du mich aber wirklich neugierig. Habe ich etwa keine Masse?” Sie blickte auf ihr ausladendes Dekolletee.
Chef Edwin-Pascal schlug mit seiner Faust auf den Tisch. “Leute! Ich brauche konkrete Ansätze! Nennt mir Beispiele! Oder was auch immer! Vorschläge bitte.” Er klemmte sich seinen Stift hinters Ohr.
Pauline raffte sich auf und straffte wieder ihre üppige Oberweite. “Ich als Frau kann euch da nur sagen, dass ich sehr empfänglich bin fürs Wecken meiner Sehnsüchte.” Sie stöhnte einmal laut auf. “Aber wann bitte, werden Sehnsüchte gestillt? Da liegst du nachts stundenlang nackt wie Gott dich schuf, wach, obwohl du weißt, dass das nicht gut ist für den Schönheitsschlaf und vergehst vor Sehnsucht in der Hitze einer einsamen Nacht. Da liegst du tagelang mit knappem Bikini in der Sonne, obwohl du weißt, dass das nicht gut ist für die Falten und anstatt dass du das genießt, da treibt dich eine gewisse Sehnsucht innerlich nervös umher. Da liegst du in der Badewanne und alles, was du an Gesellschaft dein Eigen nennen kannst, ist der azurblaue Badeschaum und die vergoldete Quietschente number one von Dior. Niemand stillt dieses Sehnen, nach, nach, ähem, niemand nimmt sich meiner Lust, äh, Sucht an.” Sie stöhnte abermals, warf ihren Kopf in den Nacken und strich sich eine weitere Haarsträhne hinters Ohr. “Sorry, aber ungestillte Sehnsucht ist das Schlimmste, was es gibt.”
Nun wippte ihr Kopf für Sekunden nach vorne, sie hob ihn wieder an und hauchte. “Oh ja, das ist schlimm.” Und nun versagte ihre Stimme vollends. “Wohl dem, der wenigstens ein Haustier zum Kraulen hat.”
Eine Zeitlang war es still im Raum. Nur der Projektor rauschte unbeeindruckt weiter.
Micha sah seinen Chef mit offenem Mund und starrem Blick an. Der blickte ebenso zurück.

“Und wie schaut ‘s bei euch Kerlen mit den Sehnsüchten aus? Leidet ihr auch so?” Pauline klemmte sich zwei Folienmarker zwischen die Zähne und nuschelte. “Schicherlich nischt.”
Das Gesicht ihres Chefs zeigte ein bedrohliches Signalrot. Er kniff seine Augen zusammen. Es hatte sich eine tiefe Zornesfalte über seiner Nasenwurzel gebildet.
Micha stand auf und legte ihm beruhigend seine Hand auf die Schulter. “Ich denke, wir sollten es honorieren, dass Pauline uns so tief in ihre ungestillten Sehnsüchte hat blicken lassen.”
Pauline spitzte ihre Lippen und hauchte, “sehr tief sogar, Micha”, und warf ihm einen Handkuss zu. Sie sprang auf, stöckelte zum Projektor und zeichnete eine zweite Packung auf die Folie, welche sie rosa ausmalte. Die zweite, welche ihr Chef gezeichnet hatte, schraffierte sie hellblau.
“Rosa weiblich, bleu männlich.”
“Du spinnst!” Micha drehte sich auf dem Stuhl herum und wandte ihr seinen Rücken zu.
Edwin-Pascal rückte den Kragen seines hellblauen Polohemdes zurecht, strich über das grüne Krokodil-Label auf der Brusttasche und schlug einen Aktenordner auf. Das Rot war einem Sonnenstudio-Bronze gewichen. “Vielleicht sollte ich mich wirklich besser nicht aufregen, denn die aktuelle Studie des Institutes DR. PROF. HUND & BUND, Berlin, führt auf, dass männliche und weibliche Käuferschichten tatsächlich emotional differenziert empfinden und deshalb auf unterschwellig, unterschiedlichen Ebenen an ein Produkt herangeführt werden müssen, weil das Unterbewusstsein immer mitentscheidet beim Kauf.”
Micha sprang auf. “Und wie sollen wir das unserem Auftraggeber verkaufen, dass die Packungen und Dosen geschlechtsspezifisch eingefärbt werden? Da mache ich nicht mit.”
“Micha, du vergisst, dass du von mir bezahlt wirst.” Er schlug den Ordner zu.
Micha Heinzwirtel kratzte sich abermals an seinem Drei-Tage-Bart. “Soll ich euch sagen, nach was ich mich sehne?”
Pauline setzte sich wieder hin. “Spuck ‘s aus, Micha. Gilt deine Sehnsucht mir?”
Er nahm seine Tweed-Jacke vom Garderobenhaken und zog sie an. “Ich sehne mich danach, nicht mehr finanziell von einem Boss abhängig zu sein, der mich nur bezahlt, wenn ich mein Gehirn malträtiere, es auswringe und die Nervenenden doppelt und dreifach verknote!”
Er umfasste die Türklinke. “Und das alles für so einen Scheiß!”
“Heißt das, du kündigst?”
“Ja, Edwin, das heißt es. Ich will meinem Gehirn endlich einen Hauch von Freiheit gönnen!”
“Aha.” Pauline kaute auf einem Filzstift herum. “Die männliche Sehnsucht gilt also der Freiheit und der finanziellen Abhängigkeit von der Bundesagentur für Arbeit. Interessant.”
Micha Heinzwirtl ließ die Tür laut ins Schloss fallen.

Edwin-Pascal zuckte mit den Schultern. “Dann ziehen wir die Kampagne alleine durch.
Pauline legte den Stift auf die Folie. “Unser Kunde wird begeistert sein. Damit hebt er sich cool von den Mitbewerbern ab. Ich finde unsere Idee absolut hipp.”
Ihr Chef blickte an die Zimmerdecke. “Ich sehe es bereits vor mir!”, er machte eine ausladende Armbewegung. “BELLO mit Rindfleisch auf Rotweinsoße in lightblue für den freiheitsliebenden Rüden und BELLA mit Hühnchen und Ananas in pinky für das verträumte rollige Weibchen.”
Pauline jauchzte und klatschte in die Hände. “Sorry, Chef, aber du bist genial!”
Ihr Chef umarmte Pauline und raunte ihr ins Ohr. “Kann ich garnicht verstehen, dass so ein Vollweib wie du die Nächte in der Badewanne alleine verbringt.”

© anne zeisig, Endversion

Letzte Aktualisierung: 28.09.2012 - 19.54 Uhr
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