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Sehnsucht | September 2012

Dear Mr. Norman!
von Jochen Ruscheweyh

„Kann ich dir was zeigen? Wenn du deine Hand unter ihre schiebst, dann ist das ein Angebot. Legst du sie aber drauf, kann sie ihre nicht wegzuziehen, also dein Angebot ablehnen.“
„Ja, irgendwie logisch. Kann ich es mal probieren?“
„Frag nicht mich, frag sie selbst.“




„Verdammt, Kevin, du lungerst den ganzen Tag nur rum. Ich finde, es wird Zeit, dass du dir Arbeit suchst.“
Ich schob den Teller zur Seite: „Ja, super! Du fängst doch jetzt nur davon an, weil du vor ihm auf dicke Hose machen willst, wie gut du mich im Griff hast.“
„Hey, Freundchen, red nicht so mit deiner Mutter!“, schrie Bernhard über den Tisch. „Sie putzt und kocht und trägt dir deinen kleinen Teenagerarsch hinterher, wo du gehst und stehst.“
„Tja, werden deine Kinder wohl nie erleben. Oder wann hast du Valerie und Saskia das letzte Mal abgeholt?“, schnauzte ich zurück.
„Das sind zwei ganz verschiedene Paar Stiefel, junger Mann. Du weißt genau, wie schwierig das mit dem Besuchsrecht und meiner Ex ist.“
„Ach, komm, setz dich in deinen Laster und fahr eine Ungarn-Tour oder so. Hauptsache, du gehst mir nicht auf den Sack!“, ließ ich ihn sitzen und knallte die Tür, einfach weil ich Lust dazu hatte, eine Tür zu knallen. Also, zuzuknallen.

„Ich wollte dir noch was sagen, bevor du wieder die ganze Nacht mit deinen Kumpels um die Häuser ziehst“, fing mich meine Mutter an der Kellertreppe ab. „Veronika ist im Krankenhaus.“
„Welche Veronika?“, fragte ich, während ich mein Mountain-Bike die Treppe hochschleppte.
„Die Veronika, bei der ich früher geputzt habe.“
„Und was geht mich das an?“
„Ich dachte nur“, antwortete meine Mutter und setzte ihr pikiertes Gesicht auf, „weil ich dich immer mitgenommen hab, als du klein warst. Und ... weil sie ein Ausbildungskonto für dich abgeschlossen hat, an das du mit einundzwanzig dran kannst. Das sind noch drei Jahre, ich weiß, aber ich finde ...“

„Du bist bestimmt der neue Bufdi“, stellte eine junge Glitzerstein-beohrte Schwester fest, als ich an den Türrahmen des Dienstzimmers klopfte.
„Nee, seh ich so aus?“
Sie guckte wieder in ihre Akten.
„Ich will Veronika Verstenbach besuchen“, schickte ich hinterher.
Ihre Ohrstecker reflektierten das Neonlicht für einen Moment, als sie hochblickte. „Bist du ihr Enkel?“
„Meine Fresse! Ist das hier Stasi light oder was? Sie ist die Ex-Chefin von meiner Mutter und ich soll sie besuchen, okay?“
Die Schwester rollte mit ihrem Drehstuhl zum Desinfektionsspender und duschte ihre Hände darunter. „Also besuchst du sie, weil du musst und nicht, weil du es möchtest?“
„Ach, vergessen Sie’s einfach. Wiedersehn. Oder, wohl eher nicht.“
„Ja, tschüssi, und falls du dir das noch überlegen willst, ich glaub’ es gibt noch mehr Bufdi-Stellen hier im Haus.“
Ich war schon fast im Treppenhaus, als jemand hinter mir herrief; eine Frauenstimme, aber nicht Miss Reflekt-Ohr: „Du, warte mal!“

„Aber wieso machst du das? Das würd mich total runterziehen!“
„In der Sterbebegleitung gibt es Methoden, sich davor zu schützen“, antwortete die Frau, die mir gefolgt war.
Ich beobachtete, wie ihre Grübchen auf und ab wippten, während sie sprach. U.S. Forscher hatten laut der aktuellen TV-Spielfilm kürzlich festgestellt, dass sich Grübchen um das dreißigste Lebensjahr herum bilden - definitiv zehn Jahre zuviel zwischen mir und Claudia so hieß sie. Obwohl, sie sah gigantisch aus.
„Wenn du magst, können wir jetzt reingehen, und ich bereite sie darauf vor, dass du da bist oder du bleibst erstmal im Hintergrund. Ganz wie du willst. Ich sage nur eben meiner Kollegin Bescheid.“
„Leuchtohr?“
„Was?“
„Ach, nichts.“

„Musst du jetzt schon die Bolognese aus deiner Soße suchen? Was ist das denn für eine neue Masche? Willst du jetzt Vegetarier werden oder was?“
„Keine Ahnung, wen interessiert’s?“
„Keine Ahnung? Von was hast du überhaupt Ahnung?“, brüllte Bernhard.
„Zumindest hab ich die Ahnung, dass da draußen irgendwo mein richtiger Vater rumläuft und der vielleicht nicht jeden Tag Rindfleisch essen muss“, erklärte ich meinen Spaghetti.
In dem Moment, als Bernhard herumsprang und mich am Kragen packte, wusste ich, dass er heute die Grenze überschreiten würde. „Los! Komm!“, feuerte ich ihn an, „Schlag mich, komm, schlag zu! Und ich garantier dir, dass du in dieser Wohnung kein Auge mehr zumachst, ohne dran denken zu müssen, ob ich dir nicht vielleicht im Schlaf deinen fetten Hals mit unserem Brotmesser durchschneide!“

„Es verletzt ihn, wenn du so mit ihm sprichst, Kevin ...“
„Ja, geil, und was ist mit mir?“
„Kannst du nicht einfach ... ach, ich weiß doch auch nicht", sagte meine Mutter und strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Ich hab dich lieb, Kevin.“
„Ich dich auch.“
Sie legte ihre Hände an meine Wangen und sah mich an.
„Bist du bei Veronika gewesen?“
„Ja.“
„Und wie geht es ihr?“
„Hmm.“
„Aber ... ich meine, hat sie was gesagt?“
„Nicht direkt.“
„Was heißt das?“
„Wir glauben, sie will Chris Norman sehen.“
„Wir?“
„Ach, keine Ahnung, vergiss es. Warum gehst du eigentlich nicht hin?“
„Bernhard meint auch, das wäre keine gute Idee.“

„’n ziemlicher Weichspüler, aber deine Anlage ist cool, Claudia. Deine ganze Wohnung.“ Das meinte ich ernst.
„Haha! Danke. Aber für Veronika war Chris Norman anscheinend ein wichtiger Teil ihres Lebens.“
Ich nahm das CD-Cover. „Guck dir mal die Hosen an und die Absätze. Wie kann man nur auf so ein Zeug stehen?“
„Das waren halt andere Zeiten damals. Was meinst du, was die Leute in fünfzig Jahren sagen, wenn sie sich Bilder von unseren Sachen angucken?“
„Keine Ahnung ... ah, warte mal, den Song kenn ich irgendwie. Von früher.“
„An was denkst du dabei?", fragte sie und streifte einen ihrer Espandrillos mit der Spitze des anderen Fußes ab.
„Ja, keine Ahnung, ich glaub, an nichts.“
„Du erinnerst dich daran, aber es löst nichts bei dir aus?“
„Doch, schon, irgendwie.“
„Komm, trau dich!“ Sie nahm die Spange aus ihrem Haar.
„Ich muss an meine Mutter denken, und dass ich nicht wollte, dass sie tanzen geht.“
„An was denkt Veronika wohl, wenn sie die Musik von Chris Norman hört?“
„Keine Ahnung, vielleicht hat sie mal auf den gestanden?“
„Manche Menschen ziehen sich zurück, wenn sie spüren, dass sie sterben. Andere suchen Nähe. Das ist vollkommen unterschiedlich. Was denkst du, was bist du für ein Typ?“
„Ich glaub, ich würde wollen, dass mir keiner auf die Nerven geht.“
„Weißt du, was ich glaube? Du hast Angst vor Nähe.“
„Quatsch!“
„Guck mal, wenn ich jetzt etwas näher an dich ranrutsche. Ist dir das unangenehm?“
„Nee, das ist okay.“
„Oh, das Lied ist toll!“, seufzte sie. „Dazu habe ich mit meinem ersten Freund auf der Kirmes geknutscht.“

Bernhard riss die Tür auf. „Du mieser kleiner Dieb. Wo ist das Geld aus meiner Brieftasche?“
„Was weiß ich, in welcher Asi-Spielhalle du deine Kohle verzockst?“, antwortete ich und drehte mich auf die andere Seite.
„Diesmal bist du zu weit gegangen. Pack deinen Kram und verschwinde, sonst schmeiß ich dich raus!“
„Leck mich“, schrie ich zurück und sprang aus dem Bett, bereit meinem Stiefvater eine zu verpassen, als mich zwei seiner nach Schnaps stinkenden Kollegen packten.

„Kevin ...“
„Kann ich bei dir schlafen? Mein Stiefvater hat mich rausgeschmissen.“
„Oh, das kommt jetzt etwas ... ungünstig.“
„Wer ist denn das, Claudia?“, hörte ich jemanden aus ihrem Wohnzimmer fragen.
„Nur ein ... Kollege aus dem Krankenhaus“, rief sie nach hinten und sagte dann leise zu mir: „Hör zu, es geht nicht, Kevin. Nicht heute. Ein anderes Mal vielleicht.“

„Kann ich mir mal den CD-Player für Frau Verstenbach ausleihen?“, fragte ich die Schwester mit den glänzenden Ohren.
„Ach, dann hast du die Bufdi-Stelle angenommen? Ich hab mir gleich gedacht, dass du es dir nochmal überlegst. Ja, natürlich. Und wenn du nachher Pause machst und rausgehst, bringst du uns dann drei Pakete Kaffee von Tchibo mit?“
Ich nickte, da es mir zu mühsam war, klarzustellen, dass ich nicht der neue Bufdi war und nahm den Player.

Ich machte es so, wie Claudia mir gezeigt hatte. Veronikas Hand wog kaum auf meiner. Aber ich konnte VV – genau! Die großen Letter am Eingang ihrer Villa! - einfach nicht ansehen. Obwohl ich nicht Schuld war. Schließlich hatte meine Mutter entschieden, mich nicht mehr bei Tante Veronika zu lassen, ihr vorgeworfen, mich ihr zu entfremden - damals unverständliche Worte für einen Knirps.
Also ließ ich stattdessen den CD-Player laufen. Chris Norman erneuerte das alte Band zwischen uns. Ich fing an zu erzählen. Von dem eigenartigen Verhältnis zu meiner Mutter, und dass mir jetzt bewusst war, dass Veronika auf mich aufgepasst hatte, wenn meine Mutter auf die Piste ging, von Bernhard und auch von Claudia; davon, dass ich Veronikas Sterbebegleiterin dafür hasste, dass sie mich dazu gebracht hatte, mich in sie zu verlieben, obwohl sie ... und dass es sich anfühlte, als hätte mich die ganze Welt gefickt. Meine Nase lief und meine Augen tränten. „Scheiß Heuschnupfen!“, sagte ich. Das war der Moment, als Veronika meine Hand drückte. Schwach, aber deutlich wahrnehmbar. Ich schaute sie an. Ihr Gesicht wirkte immer noch genauso eingefallen und pergamentartig wie vorher, aber ich hatte plötzlich keine Angst mehr, es zu berühren. Vorsichtig streichelte ich über ihre Wange und fragte: „Was würde Chris wohl dazu sagen?“

Ich fand einen leicht versteckten Platz neben dem Materiallager des Krankenhauses, der überdacht und ein wenig beleuchtet war. Dorthin zog ich mich Dank Bernhards großzügiger Spende mit einer Packung Zigaretten und ein paar Flaschen Bier zurück, als es dunkel wurde, und begann zu schreiben:
Dear Mr. Norman ...

Ich wachte auf, als jemand meine Schulter berührte. Die Schwester mit den Glitzerohren.
„Hey, was machst du hier draußen? Warum schläfst du nicht drüben im Schwesternheim wie die anderen Bufdis?“
„Weil das Leben scheiße ist und weil ich kein beschissener Bufdi bin!“
Sie setzte sich neben mich und nahm sich eine von meinen Zigaretten.
„Sie ist gestorben. Vorhin.“
Ich nickte.
„Du sollest dir das wirklich nochmal überlegen mit dem Bufdi", sagte sie und blies den Rauch in die Luft. „Ich bin übrigens Hanna. Und du?“

V 2

Letzte Aktualisierung: 20.09.2012 - 20.59 Uhr
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