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Sehnsucht | September 2012

Emma und der Möwenschiss
von Glädja Skriva

Pl ... opp. Der Schiss platschte immer auf dieselbe Stelle hinunter. Seit 25 Jahren! Emma und Erna, die beiden Damen, saßen sich gegenüber, quasi Auge in Auge. Erna auf der Mole in ihrem flatternden Federkleidchen und Emma auf ihrem Plastikstühlchen. Emma wartete auf Helmut, ihren Mann, mit dem sie hier im Urlaub immer bei „Hein“, der besten Frittenbude am alten Hafen saß, während Erna, die alte Möwenscharteke, darauf wartete, etwas stiebitzen zu können. „Ist das nicht schöön?“, mampfte Helmut wenige Minuten später, während er seine Fritten mutig gegen eine Schar herabstürzender, kreischender Möwen zu verteidigen versuchte, die sich keineswegs so vornehm zurückhaltend, damenhaft, weise und wohlüberlegt verhielten wie Emma. „Ist das nicht schön?“, brabbelte er erneut, nicht weniger begeistert als zuvor, und quetschte dabei einen dicken Strahl Majo aus der viel zu klein geratenen Tüte auf seine fette Deichwurst, bis seine Finger verkleckert waren und es in seinen Hemdsärmel tropfte. Mit einem kräftigen Schluck Bier spülte er zufrieden nach und rülpste bekräftigend: „Ist das nicht schön?“ Bevor er erneut „Ist das nicht schön?“ quaken und in ihre Richtung rülpsen konnte, dachte Emma zum ersten Mal: „Nein, es ist nicht schön.“

Das war das erste Mal, dass Emma das kleine Hotel mit der feinen Gaststube auf der schräg gegenüberliegenden Hafenseite wahrnahm. Ich meine, richtig wahrnahm, denn gesehen hatte sie es schon oft in den letzten 25 Jahren von ihrem Stammplatz bei Hein aus, an dem Helmut immer Steuerbord und sie immer Backbord zum Würstchengrill saßen. So, wie es immer sein musste und nie anders sein durfte. Manchmal, wenn Helmut bei der zweiten, dritten Wurst und der nächsten Flasche Bier besonders gut gelaunt war, deutete er sogar mit einer Kopfbewegung zu diesem Hotel, während er (oder war es das Plastikstühlchen unter ihm?) ein wenig ins Schwanken geriet und über diese „Karpfen im Becken“ seine Witze riss. Dabei richtete er eine seiner fetten Pommes auf die Gäste, die wie aufgereiht hinter der großen Glasfront saßen, alle den Kopf zum Meer gewandt und dabei wie große, stumme Karpfen ihr Maul auf und zuklappten, um nach Essen zu schnappen. Stumm und gefräßig wie ein Schwarm Fische bei der Fütterung.

In diesen Momenten war Emma glücklich gewesen über die triefenden Majofettspritzer, die zermatschten Pommes, die an der Schuhsohle wie Kaugummi klebten, sogar über den Möwenschiss von Erna, der nach all den Jahren nicht mehr reinweiß war, sondern eine gelbstichtige Verdauungsfarbe angenommen hatte. Aber in all dem steckte das Leben und sie wollte es keine Sekunde anders haben.

Bis, ja bis Helmuts gerülpstes „Ist das nicht schöön?“ zusammenfiel mit einer kleinen Szene in diesem Restaurant, die sie zufällig beobachtet hatte. Eigentlich eine Alltäglichkeit, eine klitzekleine Begebenheit nur, eine Handreichung mit ein, zwei kurzen Worten, die plötzlich alles änderte. Etwas, das sich warm und genau richtig anfühlte, sodass sie wusste, dass sie in dieses Restaurant hinübergehen m u s s t e.

Erna versuchte sie aufgeregt flatternd abzuhalten. „Das ist nichts für dich.“ Sie umkreiste Emma, sprach von Snobs dort drüben und dem Stacheldrahtzaun, den sie um sich zogen, um sich die andere Welt vom Leib zu halten. Aber Emma lachte laut: „Dir gefällt es ja nur nicht, dass sie auf der Dachrinne des Hotels diese Metallspitzen anbrachten und du nun nicht mehr bei ihnen landen kannst.“ Dabei zwinkerte sie ihr zu und fuhr dann fort: „Jetzt musst du wohl selbst ein bisschen aktiv werden, was?“ Hatten sie früher einander vertraut und blind verstanden, entwickelte sich jetzt ein fürchterliches Frauengezänke unter ihnen, in dessen Verlauf Emma von dem feinen Duft nach Kräutern und leichter Küche schwärmte, der sie lockte, während Erna ihren Schnabel spitz in die Wurstpelle hackte und Worte hervorwürgte, die sie sonst gegenüber Emma nie in den Schnabel genommen hatte: „Vollkommen übergeschnappt sei sie; sie werde sehen, wohin sie das bringe; undankbar sei die Madame geworden und hochnäsig noch dazu. Tzz.“

Doch Emma ließ sich nicht abhalten. Sie wusste in ihrem Innersten, sie musste es tun, denn diese Begegnung würde ihr Klarheit bringen über sich und das, wonach sie sich ihr ganzes Leben gesehnt hatte ohne es zu wissen; bis zu jenem magischen Augenblick. So machte sich Emma am Donnerstagabend, an einem der allwöchentlichen Skatabende von Helmut und Hein, auf den Weg mit drei Monatsgehältern Regaleeinräumen bei Jevers in der Tasche, die Haare frisch gefönt und keinem einzigen, winzig kleinen Flusen auf ihrer besten, schwarz gedeckten Hose. Als sie eintrat wurde sie von so einem Schnösel kühl empfangen, der genau einzuordnen wusste, ob das Loch in der Jeans eines Gastes nach einer Jacht in der Südsee roch oder vom Putzen auf den Knien herrührte. „Wenn Sie mir bitte folgen wollen“, dabei taxierte er sie mit unbewegter Miene und wies ihr einen kleinen Katzentisch zu, in einer versteckt gelegenen Ecke des Restaurants, in der nicht jeder Eintretende sich mit ihrem Anblick aufhalten musste. Emma meinte das hämische Kreischen von Erna zu hören, die draußen wieder einmal von der Dachrinne heruntergejagt worden war. Aber das alles wollte sie in Kauf nehmen, wenn nur er kam, von dem sie nun hin und wieder gedämpft den Namen hörte: „Edwin ...“

„Sie wünschen?“ Da stand er vor ihr. Schlank, hochgewachsen und fragte s i e. Sie, Emma Klütenbüchs. Wann hatte das letzte Mal sie jemand nach ihren Wünschen gefragt? Das Himmelblau seiner Augen weitete sich über sie wie das Sternenzelt in einer klaren Nacht. „Ein Glas Sprudel, bitte“, antwortete Emma wie verzaubert. „Ich verstehe“, sagte Edwin und sie meinte seinem angedeuteten Lächeln entnehmen zu können, dass es nicht nur das Verstehen eines hervorragenden Kellners war, sondern, dass er sie verstand, weil er sie kannte, besser als sie sich selbst. „Darf ich Ihnen eine Besonderheit des Hauses empfehlen?“ „Ich vertraue Ihnen völlig“, wisperte Emma, indem sie sich leicht zu ihm vorbeugte, so, als ob sie in diesen wenigen Sekunden ihrer Begegnung bereits zu einer verschworenen Gemeinschaft zusammengewachsen wären. „Die Spezialität unseres Hauses wird Ihnen unvergesslich bleiben“, sagte er sanft. „Hummer mit Steinpilzen und Gnocchi an Hummer Bisque.“ Sie gab einen kleinen Seufzer von sich. Pilze, sie hatte es gewusst, er kannte sie längst besser als sie sich jemals selbst, hatte sie sich doch über all die Jahre bei Heins Frittenbude immer mehr vergessen. Pilze. Sie liebte sie. Sofort stieg der Geruch in ihr auf nach frischem Moos im feuchten, leuchtenden Herbstwald, den sie oft mit Großvater durchstreifte. Wie lange hatte sie nicht mehr daran gedacht. Von der Erinnerung überwältigt, konnte sie nichts antworten und nickte, einen dicken Kloß im Hals.

Es war wie im Märchen. So wartete sie äußerlich völlig ruhig und innerlich doch bis aufs Höchste angespannt, wohin dies führen würde. Edwin servierte ihr den Hummer, bereits zerlegt. Er wusste, dass sie sich noch nie solche Köstlichkeiten gegönnt hatte und daher führte er ihre Hand, lenkend mit der Gabel, in das weiche Hummerfleisch hinein, vorsichtig, um sich mit ihr in den Genuss hineinzutasten. „Edwin“, flüsterte sie. In ihrem Kopf tanzte alles Ringelrein. Ihre Gefühle, die Berührung seines Armes, die Gabel mit dem kalten Metall in ihrer Hand; verrückte Erinnerungen an Stricknadeln wurden in ihr wachgerufen; Verbindungen, die sich überrannten, bis sie mit der Hand ausfuhr, das Hummerfleisch einer Fontäne gleich herausspritzte – und an dem schweren Damastvorhang wie festgetuckert hängenblieb. Das Kratzen der Messer auf den Goldgeränderten Tellern im Saal schwoll arythmisch an, die Karpfengesichter lösten sich vom Fenster und betrachteten sie mit ihren Glubschaugen, als sei sie ein Köder an einem Angelhaken, nach dem sie nur nicht schnappten, weil sie daran eklig, widerwärtig und stinkend zappelte. Emmas Gesicht nahm die Farbe des restlichen Hummers auf ihrem Teller an, während sie hilflos mit ihrer Gabel herumruderte. Und Edwin? Der war davongeeilt, aber, da war sie sich ganz sicher, nur, um ihre Situation zu retten. Und so ließ er auch nicht lange auf sich warten, bis er mit eilenden, aber gedämpften Schritten an ihren Tisch trat, sicher, um schnell genug, einen Restaurantverweis erfolgreich abzuwehren. Der Gute. Messer und Gabel hielt er in der Hand. Silberbesteck mit einem eingravierten Donald Duck Aufdruck und einer handlich gebogenen Kindergabel. „So dürfte es besser gehen“ ...

„meinte dieser Idiot“, schluchzte Emma eine Stunde später Erna am Meeresstrand vor, die sich als eine echte Freundin zeigte. Kein einziges rechthaberisches Wort kam über ihren Schnabel. Stattdessen ließ sie Emmas Redeschwall, der von Schluchzen über beschämtes Wispern zu aufgewühltem Stampfen wechselte, wie eine Wasserwelle über sich hinwegschwappen, bis diese bei dem Schlußwort ankam: „So ein verdammter Dödel!“ Dann breitete sich erschöpfte Ruhe aus.

Schließlich hatte Erna als Erste ihre Worte wiedergefunden und krächzte, wie es ihre Art war, nur knapp, aber treffend: „Backbord, Steuerbord – von Bord.“ Dann flog sie davon. Richtung Abendhimmel, der aussah, als hätte ein Maler mit warmen Orangetönen das Eisblau des Himmels gemildert. Da nahm Emma das erste Mal die Weite wahr, in der reichlich Platz war für jeden. Auch für sie. Einmal Steuerbord. Dann wieder Backbord. Manchmal auch von Bord und wie oft über Bord. Aber sie fühlte, so lange es ihres war, konnte sie daran an Bord gehen. Am Leben.

© P.S./Glädja Skriva/ Sept. 2012/ 2. Version

Letzte Aktualisierung: 25.09.2012 - 21.58 Uhr
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