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Sehnsucht | September 2012

Picknick am See
von Elmar Aweiawa

„Herr Gott im Himmel, was mach ich hier bloß?“
Der junge Mann mit Dreitagebart und langen, lockigen Haaren lagert zusammen mit einigen Kumpanen in einem Park. Es ist tief in der Nacht, doch die immer noch flirrende Hitze der Luft verursacht ihm Schweißausbrüche. Ein Duft von Thymian dringt in seine Nase.
Müde schließt er die Augen, doch an Schlaf ist nicht zu denken. Er scheint jedoch der Einzige zu sein, dem die Hitze so zusetzt, denn seine Gefährten schlafen tief und fest. Einem nach dem anderen schaut er ins vertraute Angesicht, betrachtet sie mit einer Mischung aus Liebe und Abscheu. „Schlaft nur“, denkt er resigniert, „warum solltet ausgerechnet ihr wach bleiben.“

Ein sanfter Wind kommt auf, doch statt Kühlung bringt er weitere heiße Luft auf den Hügel. Ein Käuzchen ruft, und während der junge Mann ihm lauscht, legt sich ein gequältes Lächeln über seine Züge.
„Der wievielte Planet ist das, den ich retten soll?“, denkt er. „Ich kann sie schon gar nicht mehr zählen. Und überall das Gleiche! Warum, verdammt ...“
Er wirft einen entschuldigenden Blick nach oben.
„Verzeih, Vater, ist mir durchgerutscht. Aber warum müssen es immer zwölf Apostel sein? Warum nicht mal dreizehn oder elf? Warum immer dieser Duft nach Thymian, oder wie das Kraut sich jeweils nennt, und diese Hitze? Irgendwann sterbe ich noch vorzeitig an akuter Langeweile! Dann kommt die Himmelfahrt mit all dem Brimborium zu spät und es ist Essig mit der Erlösung.“

Mit leichtem Widerwillen betrachtet er seine Begleiter, hört ihr Schnarchen und sieht im Mondschein die in unruhigem Schlaf zuckenden Glieder.
„Schau dir nur mal diesen Johannes an! Der Einzige ohne Bart, sieht aus wie ein Jüngling, schön, mit zarter Haut, gleicht eher einem Mädchen als einem Mann. Wahrhaftig eine Augenweide, doch wenn man ihn und seine Vorgänger so oft gesehen hat, wie ich, dann ... entschuldige ... kotzt es einen an. Ein einziges Mal eine Abwechslung! Einmal eine Ausnahme von diesem ewigen ‚Oh du weiser Mann, oh du hoher König der Heerscharen!’“

Wenn einer seiner Begleiter jetzt aufwachte, würde er sich über den Gesichtsausdruck seines Idols wundern. Sie haben ihr altes Leben aufgegeben, um seinen Spuren zu folgen, bedingungslos, ohne Netz und doppelten Boden. Noch nie haben sie ihn schlechter Laune erlebt.
Doch alle liegen da wie tot und bemerken nichts von der Stimmung ihres Herrn und Meisters.

„Alle lieben mich, alle verehren mich. Die vielen Wunder, die ich bewirkt habe, lassen ihnen ja auch keine andere Wahl. Was ist diese Liebe denn wert, wenn ich Tote zum Leben erwecke und Wasser in Wein verwandle. Sie halten mich für allmächtig und haben unterschwellig Angst vor mir. Genau wie alle ihre Vorgänger auf den anderen Planeten. Sogar Petrus, der doch zum Anführer geboren ist, ordnet sich freiwillig unter.“

Mit theatralisch klagend gen Himmel erhobener Hand macht der junge Mann seinem Herzen Luft. Leise zwar, um seine Jünger nicht zu wecken, doch vehement.

„Jetzt liege ich hier mit meinen Aposteln und warte, bis mich der Triumphzug abholt“, setzt er seine Tirade fort. „So vorhersehbar, so unendlich langweilig! Zum König wollen sie mich machen ... mich, der ich ihr Gott bin, auch wenn ich Menschengestalt angenommen habe und wie ein Mensch denke, handle und fühle. Es bedeutet mir ... NICHTS! Es ödet mich an, und ich gäbe alles dafür, EINMAL überrascht zu werden. Ich werde mich beim Heiligen Geist beschweren, vielleicht versteht wenigstens der mich ein bisschen. Ich habe solche Sehnsucht nach einer Veränderung, einem Ausbruch aus dieser sich ewig wiederholenden Erlösungsinszenierung! ICH KANN NICHT MEHR!“

Leiser, noch weit entfernter Lärm kommt auf und wird lauter. Fackellichter wandern den Berg hinauf. Das Käuzchen fliegt erschreckt davon.
„Ah, da kommen sie. Die Pharisäer wie immer an der Spitze. Wie ich sie hasse, diese Speichellecker. Sie werden sich vor mir in den Staub werfen, fehlt nicht mehr viel, dass sie sich selbst meinen Fuß auf den Nacken setzen. Herr im Himmel, lass diesen Kelch an mir vorübergehen!“
Mit weit ausgebreiteten Armen steht er da und fleht den Himmel an. Die Augen hat er geschlossen und lässt die Arme langsam wieder sinken.

„Was ist los? Was soll der Krach?“ Die Apostel erwachen vom Lärm der herannahenden Menge und scharen sich angstvoll um ihn.
„Sie kommen, um mich …“, beginnt der junge Mann, doch dann unterbricht er sich.
„Wieso ist Judas bei ihnen? Der sollte doch hier mit den anderen schlafen. Und warum haben sie Waffen dabei?“ Grenzenlose Verblüffung und Ratlosigkeit legen sich auf seine Züge. Wie in Trance schaut er dem sich nähernden Judas entgegen.

„Judas, mein Freund, warum küsst du mich? Ich bin doch nicht ...“
In der Hektik, die aufkommt, sind seine Worte kaum noch zu verstehen. Das Getümmel wird immer unübersichtlicher, und die Apostel stieben auseinander wie ein Haufen Hunde, in deren Mitte jemand eine brennende Fackel geworfen hat. Hände greifen nach ihm und zerren an seinem Gewand.
„Lass mich los, Kerl! Wart nur Bürschchen, das werde ich dir heimzahlen. Her mit deinem Schwert. Da und da! So, das hast du davon, dein Ohr kannst du suchen gehen.“
Während seine Jünger sich ängstlich in einiger Entfernung zusammendrängen, kämpft Jesus wie ein Löwe.

Nach wenigen Minuten ist er überwältigt und gefesselt. Einer der Häscher wendet sich an Petrus und fragt ihn: „Kennst du diesen Menschen?“
Doch Petrus wendet sich ab und schreit: „Verdammt, du bist schon der Dritte, der mich das fragt. Was soll das nur? Nein, ich habe nichts mit ihm zu schaffen!“
Im selben Moment kräht in der Ferne ein Hahn, und ein sanftes Lächeln überzieht die Züge des jungen Mannes.
„Danke Vater! Du machst mich zum glücklichsten Menschen auf der Erde“, jubiliert er innerlich, während er von der Meute abgeführt wird.

Letzte Aktualisierung: 01.09.2012 - 21.10 Uhr
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