Peggy Wehmeier zeigt in diesem Buch, dass Märchen für kleine und große Leute interessant sein können - und dass sich auch schwere Inhalte wie der Tod für Kinder verstehbar machen lassen.
Clemens stellte seine Kaffeetasse ab und loggte sich ein. Während der Rechner startete, überflog er auf dem BlackBerry die Mails, die im Verlauf der nervigen Aufzugfahrt hereingekommen waren. Wieso musste man Aufzüge überhaupt aus vollabschirmendem Metall bauen?. Nichts Wichtiges, gut. Das System zeigte Arbeitsbereitschaft an. Er studierte die Zahlenkolonnen, die über den mittleren und den linken Bildschirm huschten, und scrollte sich auf dem rechten Screen durch die Börsenzeitung und das Handelsblatt. Alles im grünen Bereich.
Dies war ein guter Tag, er fühlte es. Heute würde er Geschichte schreiben, sämtliche Rekorde brechen. Er hatte den Deal von langer Hand eingefädelt.
Achtung, die Aktien der Tockbank wackelten. Die steckten in mehreren seiner Portfolios. Mit wenigen Mausklicks bereinigte er die Situation und zog nebenbei drei Optionen. Bingo, ein paar Milliönchen für seine Kunden - und einen fetteren Bonus am Jahresende.
Bis zum Ende des Vormittags flogen seine Finger über die Tastatur, er nahm Anrufe an, schob Aktienpakete, bündelte neue, jonglierte mit Devisen, Optionen und Derivaten. Schade, dass die übereifrigen Politiker ihm sein Lieblingsspielzeug, die Leerverkäufe, weggenommen hatten. Niemand wusste so zuverlässig wie er, wann es galt, die Waren und Aktien, die man nie besaß, wieder abzustoßen, um dicke Gewinne einzustreichen. Damit hätte er den firmeninternen Rekord längst erreicht. Spielverderber, elende!
Ein Blick auf den mittleren Screen - ein Index stürzte ab. Ein Index für Kaffeebohnen, der nie existiert hatten, weder in einer Plantage, noch in einer Lagerhalle, aber das berührte ihn nicht, Hauptsache, er füllte mit dem Hin- und Herjonglieren dieses virtuellen Kaffees, der nie duften würde, das Konto.
»Lunch?«, poppte im Outlookfenster auf. Die Jungs. War es so spät? Konnte er es sich leisten, die Rechner sich selbst zu überlassen? Momentan passierte nicht viel.
»Ok. Ernie‘s?«
»Deal.«
Sie saßen schon fünf Minuten an ihrem Stammtisch in der Ecke, ohne, dass sich Ernie blicken ließ. Clemens trommelte auf dem Tisch herum. Die kleine Bedienung, wie hieß sie doch gleich, nahm sich endlich ihrer an und die Bestellungen auf. Er wählte das Tagesgericht. Das ging am schnellsten. Was es gab, fragte er nicht, das hätte den Vorgang unnötig in die Länge gezogen.
»Habt ihr gesehen, wie die GeroSys heute abgegangen ist?« Leon rieb sich die Hände. »Ich habe es gerade so geschafft, ein dickes Bündel abzustoßen, bevor sie in den Keller rauschte.«
Clemens biss sich auf die Lippen. Mist. Damit hatte dieser aufgeblasene Schnösel fette Beute eingestrichen. »Gratuliere.« Er sah auf die Uhr. Hoffentlich servierten die bald, nicht auszudenken, wenn er im entscheidenden Moment nicht am Platz wäre. Er nahm sich eine Scheibe Baguette und zerbröselte sie auf dem Tisch.
Als das Essen kam, bearbeitete er es so systematisch mit Messer und Gabel wie er seine Accounts mit Tastatur und Maus beackerte. Er hatte als erstes sein - was war das eigentlich? - aufgegessen. Irgendwas mit Reis und Huhn und Grünzeug. Er bestellte einen Espresso sowie die Rechnung bei der Kleinen und zahlte.
»Feuer unterm Hintern?«, fragte Paul.
Clemens sah auf die Uhr. Wann begann die Hauptversammlung von Bergmann? Wenn sie die Zahlen ankündigten, die man ihm gestern geflüstert hatten, bekämen manche Kollegen rote Ohren. Er musste sehen, dass er vor ihnen aus der Sache ausstieg. Und gleich danach kam der Deal aller Deals.
»Jungs, ich muss, warte auf einen Call.«
Die anderen riefen erst jetzt nach den Rechnungen. Umso besser. Ein kleiner Vorsprung konnte nicht schaden.
Er rannte die letzten Meter bis zum FBB-Tower, in dem seine Firma die obersten zehn Etagen belegt hatte. Der Aufzug benötigte gefühlte acht Stunden bis zum sechsundzwanzigsten Stockwerk.
An seinem Platz angekommen, scannte er die Bildschirme. Einige Indices passten ihm nicht. Zwei, drei Transaktionen später lagen seine Portfolios wieder im Lot. Er sah auf die Uhr. Jetzt hieß es aufpassen. Die nötigen Mittel hatte er vorhin gebündelt, die Kreditlinien bis zum Anschlag ausgereizt. Eigentlich überstieg der Deal sein erlaubtes Limit, um ein Vielfaches sogar, aber, hey, danach krähte nachher kein Hahn mehr, sie würden ihn auf Händen durchs Büro tragen.
Shit, eine Mail vom alten Dr. Böck. Er wollte ein Paket von der Talabank, sofort, jemand hätte ihm einen Tipp gegeben. Also umschichten, die Kohle war nicht da, wo Böck sie vermutete. Hoffentlich kamen seine anderen Pappenheimer nicht auch noch auf die Idee, spontan den Nachmittag verzocken zu wollen. Rodgrigo, der den Platz neben ihm hatte, kam von der Pause zurück, setzte sein Headset auf und warf sich ins Geschehen.
Clemens fixierte den mittleren Screen. In wenigen Augenblicken würden die beiden Chiphersteller, die er seit Monaten beobachtete, die Fusion bekanntgeben. Es half, seine Ohren überall auf maximalen Input zu stellen und die richtigen Leute zu kennen.
Er hatte die Aktien in letzter Zeit angehäuft, getarnt in anderen Aktienpaketen der gleichen Branche. Nun noch abschließend das Riesenpaket, ganz zufällig, heute Morgen schon vorbereitet, und dann, wenn die Kurve steil nach oben schoss, den Schiet abwerfen wie glühende Kohlen.
Ein Auge auf dem Newsticker, korrigierte er ein, zwei kleinere Geschäfte.
Da: i>Breaking News, Blue Chip / Helm Technologies-Fusion. Wie soeben bekannt wurde, haben die beiden CEOs die geplante und seit Monaten vorbereitete Fusion in letzter Minute abgesagt. Sehen Sie Livebilder von der Pressekonferenz auf News TV.
Clemens starrte ungläubig auf den linken Screen. Da, die Zahl. Die Zahl, die hätte ins Unermessliche steigen sollen, der Wert der Blue Chip Aktie. Sie fiel schneller als ein Meteor vom Sternenhimmel. Er musste den Kram, so flink es ging, abstoßen, den Schaden begrenzen. Er tippte und tippte – versammt, wieso ließ sich diese Transaktion nicht finishen? Rote Buchstaben blinkten auf. Handel ausgesetzt. Nein! Nicht jetzt! Er musste die Scheiße loswerden, ehe ... verzweifelt hämmerte er auf den Tasten herum. Er rief sein Transaktionskonto auf. Dort stand ungefähr die Zahl, mit der er gerechnet hatte, eine Zahl mit vielen, vielen Nullen.
Es gab nur ein Problem.
Ein winziges, ein einziges Zeichen vor seiner Zahl, knapp zwei Millimeter lang, aber es war sein Todesurteil.