Sexlibris
Sexlibris
Wo ist die Grenze zwischen Pornografie und Erotik? Die 30 scharfen Geschichten in diesem Buch wandeln auf dem schmalen Grat.
mehr ... ] [ Verlagsprogramm ]
 SIE SIND HIER:   HOME » MITMACH-PROJEKT » SCHREIBAUFGABE » Hajo Nitschke IMPRESSUM
NEWSLETTER
Abonnieren Sie unseren Newsletter.

Jetzt anmelden! ]

UNSERE TOP-SEITEN
1.) Literatur-News-Ticker
2.) Leselust
3.) Forum
4.) Mitmach-Projekt
5.) Schreib-Lust-News 6.) Ausschreibungen 7.) Wettbewerbs-Tipps
Jagd | Oktober 2012
Bauernopfer auf f2
von Hajo Nitschke

Und der Sklave sprach: Ich heiße
Mohamet, ich bin aus Yemmen.
Und mein Stamm sind jene Asra,
welche sterben, wenn sie lieben.


Heinrich Heine, „Der Asra“



Grundstellung

Wir Namenlosen bilden einen mentalen Kreis. Einer für alle, alle für Einen. Dieser Eine ist K., unser König und oberster Befehlshaber. Es gilt, ihn vor dem Feind zu schützen und unsererseits den gegnerischen Monarchen vom Thron zu jagen. So sind wir beides, Jäger und Gejagte. Denn natürlich droht unserem Herrscher dasselbe Schicksal. Möge die Göttin mit uns sein!


1. - d5

M., unser Mensch, dessen Namen wir ebenfalls nicht kennen, ist nervös. Er hat mit 1. e4 gerechnet, aber es wurde soeben mit d4 eröffnet. Wie so oft ist er darauf angewiesen, dass wir wenigstens temporär das Heft in die Hand nehmen. Er weiß es nur nicht. Meint ständig, er selber bestimme die Züge. Es wird gemunkelt, über ihm bestimmten so genannte „global players“ das Geschehen, ja, es gebe über diesen sogar eine noch höhere Steuerungs-Einheit. Aber das ist Spekulation. Wir lassen M. jedenfalls in dem Glauben, über uns beliebig verfügen zu können. Heute werden wir im Interesse des Turniersieges besonders auf Selbständigkeit achten. K. hat sich jetzt entschlossen, die „von oben“ eingeleitete Antwort erst mal zu befolgen. So stehen sich nun wir zwei Damenbauern im Zentrum gegenüber.


2. - c6

Weiß bot mit 2. c4 ein Scheinopfer, aber mein rechter Nachbar ist ein Feld vorgerückt. Oder er wurde gezogen, ist ja egal. Opfer abgelehnt! Die schwarze Dame ist beruhigt, ein Blickkontakt signalisiert Zuversicht: „Mein Bauer“, sagt ihre Miene, „ich bin bei dir, keine Sorge, alter Schwarzseher!“. Sie, die mich mit ihren 85 Millimetern Körperlänge fast um das Doppelte überragt, nennt mich mal ihren Bauern, im Scherz auch mal ihren Schlumpf. Ich, ein einfacher Bauer, bin unsagbar stolz darauf, Partner der Königin zu sein, denn mein Ausgangsfeld d7 befindet sich unmittelbar vor ihrem eigenen. Dank eines kleinen Fehlers in meinem Rücken unterscheide ich mich von den übrigen sieben Bauernkameraden. Solange die Lady mich nicht verstößt, hab ich mein Privileg auf Lebenszeit. Und so ist nicht nur sie bei mir, sondern auch ich bin bei ihr, aber damit brüste ich mich nicht. Zumal ich mich unsterblich in sie verliebt habe. Es scheint, sie mag mich auch. An meiner kunstvoll aus Ahorn gedrechselten Stauntonfigur kann es nicht liegen, denn meine Dame überstrahlt an Schönheit alles andere und ist ein nicht minder kunstvolles Geschöpf. Im Gegenteil, sie ist mit ihren vielfältigen Gaben ein Schöpfungswunder.


6. e3 -

Jetzt gilt es! König und Königin beraten sich, während unser Mensch bereits die Hand zum Zug erhebt. Wir hier in der Arena fühlen uns nicht nur als Figuren, sondern ebenfalls als Menschen. Auch wir haben eine Seele, haben Wünsche und Befürchtungen. Vielleicht sind wir gar menschlicher als diejenigen, die uns hin und her ziehen. Ein Ruck geht durch das Monarchenpaar, die Entscheidung ist gefallen: Wir werden unsere eigene Erwiderung aufs Brett bringen.


6. - Da5

Sie hat mich mal wieder verblüfft, meine Lady! Steht wie eine Eins auf dem Randfeld. Eigentlich wäre nach 5. Lg5 – Sbd7 als sechster Zug das sichere - Le7 angesagt. Jedenfalls hatte wohl auch M. selber dies im Sinn. Nun reibt er sich verwundert die Augen: Das soll er gespielt haben? Ein Fingerfehler? Ihm bricht der Schweiß aus. Offensichtlich denkt er gerade daran, dass sein Gegenspieler darüber nachdenkt, was er, der Schwarzspieler, denkt. Kompliziert, aber so ist Schach. Ich merke, dass auch die Kameraden nervös werden. Die aus der Mode gekommene alte Cambridge-Springs-Variante! Mut hat unser Königshaus ja. Also gut, wir werden unser Bestes geben, jetzt, da wir endgültig Eigenleben beweisen müssen. Allerdings bin ich in solchen Momenten unsicher. Lenken wir wirklich selber oder werden wir immer noch gelenkt? Immerhin herrscht große Aufregung im feindlichen Lager. Nun schwitzen Andere. Die Rechnung ist aufgegangen: Dem Gegner ist diese Verteidigung nicht geläufig, so sehr er auch sein Hirn zermartert. Frau Königin wird unseren Renner nach b4 zitieren, sodann werden wir nach 7. - Lb4 nebst einigen Verwicklungen das Match dominieren. Die Eröffnung, in der jeder hofft, gut aus ihr herauszukommen, ist abgeschlossen. Das Mittelspiel wird unseren Glauben, besser zu stehen, bestärken.


35. Se4 -

Das Unfassbare ist geschehen! Zwar hat mein Nebenmann zur Linken mit dem Vorstoß e5 das Feld aufgerissen und mir zum Vormarsch verholfen, zwar haben die Unsrigen danach regelrecht auf die Gäule gehauen und beide Springer viele hektische Sätze machen lassen, aber es hat nichts genutzt. Die Initiative ist auf Weiß übergegangen. Wir wurden ausgetrickst: Weiß, die Farbe von Unschuld und Reinheit – von wegen! Die Gegenseite kennt die Cambridge-Springs bis in Kleinste, hat uns nur in Sicherheit gewiegt und zum Leichtsinn verleitet. Die Quittung bekommen wir jetzt. Unsere Offensive bleibt stecken. Viel schlimmer, meine auf g3 stehende große Liebe wird von einem weißen Springer angegriffen und hat kein Fluchtfeld. Endspiel! Zynisch gesehen der Partieteil, in dem man erkennt, verloren zu sein. Hoffen und Glauben waren vergeblich, denn wer seine Dame verliert, verliert alles. – Die restliche Armee steht wie gelähmt. Unerbittlich tickt die Schachuhr. Noch vier Minuten für unsere letzten sechs Züge, keine Minute mehr pro Zug! Weiß hat dagegen noch alle Zeit der Welt. Der König blickt stumpf und leblos vor sich hin: Aus! Aus? Nein, denn ich bin ja auch noch da. Die Dame mit ihrer ganzen Machtfülle ist einem armseligen Springer ausgeliefert. Ein letzter Blick zu mir, der ich direkt neben ihr stehe: Adieu, Schlumpf, wir sehen uns wieder … Ich nehme ihr Bild in mich auf: Der Stolz! Der Ausdruck in ihren Augen! Meine schwarze Dame: schon die Farbe Inbegriff von Eleganz, edlem Wesen und Macht. Von Liebe, wie manche sagen, von Geheimnis und fruchtbarer Erde. Aber auch von Tod, in diesem Fall von meinem. Mit meiner feinstofflichen Hand winke ich ihr aufmunternd zu und mache einen Schritt vor:


35. - f2 +

Sie wirft mir einen Luftkuss zu, mir ist, als sähe ich Tränen in ihren schönen Augen. Der kleine Bauernschlumpf opfert sich für seine Herzensdame. Ich künde dem auf g1 stehenden weißen Despoten ein Schach an, so dass meine Dame zunächst nicht geschlagen werden darf. Stattdessen fegt mich der Turm vom Feld. Der Traum eines jeden Bauern, sich auf der gegnerischen Grundreihe umzuwandeln, ist ausgeträumt. So viele Träume haben uns begleitet, aber nicht jeder ging in Erfüllung. Sie jedoch darf weiter träumen, denn mein Vormarsch hat ihr auf der dritten Reihe eine Fluchtroute über f3 frei gemacht. Über das Feld, das ich gerade geräumt habe. Sie ist gerettet, während ich achtlos beiseitegelegt werde. Ein unbedeutender Bauer geht, eine wundervolle Dame lebt: fairer Tausch.


36. - Da3

Die Lady ist in Sicherheit. Mein langer, durch Figurenschlagen ermöglichter Weg durch feindlichen Linien hatte also einen Sinn. Mit neuem Mut können wir unsere Stellung doch noch festigen. Knapp überstehen wir die Zeitkontrolle und bald einigt man sich auf Remis. M. legt uns ins Depot, einen mit Samt ausgekleideten Kasten aus schlichtem Buchenholz.


Im Depot

Wir verharren hier schon einige Tage wie tot, alle ohne Ansehen der Person kreuz und quer durcheinander, erschöpft, aber glücklich. Es gibt keine Unterschiede mehr, nicht Freund und Feind, nicht Sieger und Besiegte. Durch ein Loch fällt etwas Licht auf unser Lager: Es ist mir gelungen, neben meiner Königin zu liegen. Um sie zu erkennen, benötige ich kein Licht, würde sie mit Tast- und Geruchssinn selbst mit verbundenen Augen finden. Stauntonfiguren haben ihre eigenen - ähem, wie soll ich sagen? – Rundungen. Für diese hier muss Caϊssa selbst Modell gestanden haben, wenn ich das in aller Demut so formulieren darf. Auch wenn enger Körperkontakt im Depot unvermeidlich ist: schon erstaunlich, auf welche Gedanken man im Dämmerlicht dieses Ortes kommt. Ich schmiege mich an, atme tief den Duft eines mediterranen Orangenhaines ein, sie streichelt mir über den Kopf. K. liegt zwar in der Nähe, tut aber, als bemerke er nichts. Vielleicht sind die beiden schon so lange zusammen, dass er ihr etwas Abwechslung gönnt. Es heißt, eine Liebeserklärung sei wie die Eröffnung beim Schach: die Konsequenzen seien unabsehbar. „Ich hab dich lieb“, sage ich dennoch leise. „Pssst! Ist gut, ich weiß es längst!“, ist die Antwort. Sie wärmt meine kalt gewordene Hand in ihrer. Und ich bin selig. Spüre ihre Kraft: eine Machtfülle, die sich aus den Fähigkeiten Vieler speist. Sie alle mit ihren jeweiligen Fähigkeiten vereinigt sie in ihrer starken Persönlichkeit. Bis auf einen: Ein einzelnes sprunghaftes Ross kann ihren Tod bedeuten. Ich, der schwache Winzling, möchte sie beschützen, solange ich kann. – Nein, es war nicht das letzte Gefecht. Wer weiß, was uns beim nächsten Mal bevorsteht? Vielleicht werde ich mich auf der weißen Grundlinie in einen Schmetterling verwandeln? Kleiner Scherz, aber vielleicht in eine schwarze Dame. Vielleicht wurde diese zuvor liquidiert und lebt durch meine Verwandlung wieder auf, so dass ich eins mit ihr bin? Irgendwann werden wir entlang der Logarithmen von Leben und Tod wieder unsere Züge tun. Egal, wann und wo. So hat es Caϊssa, unsere Göttin, beschlossen. Wir sind Handelnde und Behandelte, Treiber und Getriebene zugleich – aber unsterblich.



Kombinationen, Ideen und Strategien – unser Leben.
Pläne und Visionen, Gedanken, Utopien – unser Leben.
Auf schwarz-weißen Feldern aus Tag und Traum: Schmerzen, Wunden, Narben!
Mal bluffen, mal parieren, mal Kampf um jeden Raum: Wer bestimmt die Farben?
Sag, wer hat wohl die Partie uns ausgesucht und das Training erbracht,
hat die unzählbaren Züge verbucht, die Eröffnung erdacht?
Wir gleichen diesem Bild unser Leben lang, sind die Bauern oder Könige im Spiel.
Ein Unbekannter setzt unsre Uhr in Gang und trägt uns nach dem Matt ins Ziel.



@ Hajo Nitschke, V3

Letzte Aktualisierung: 01.11.2012 - 09.37 Uhr
Dieser Text enthält 10111 Zeichen.

Druckversion

 LINKTIPPS: Naturwaren Diese Website wird unterstützt von:

www.mswaltrop.de
Copyright © 2006 - 2024 by Schreiblust-Verlag - Alle Rechte vorbehalten.