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Jagd | Oktober 2012
Lauf!
von Martina Bracke

Lauf!

Schon mit zehn hatte ich diesen Alptraum.
Ich rannte.
Ich rannte, so schnell ich konnte, und wusste gleichzeitig, dass es nicht schnell genug sein würde. In meinen Ohren pulsierte das Blut so laut, dass ich meinen Atem nur über das Ein- und Auspumpen der Lungen spürte, aber nicht hörte. Auch meine Schritte verloren sich darin. Ich floh über eine nur von der Mondsichel beleuchtete Straße, die ich nicht erkannte. Vor etwas, dass ich nicht fassen konnte. Bis es in den Lungen stach, die Beine sich nur noch durch meinen Willen bewegten. Die Kraft hatte sie längst verlassen.
Jedes Mal wachte ich schreiend auf, schnappte nach Luft wie eine Ertrinkende und spürte meine Haare in Gesicht und Nacken kleben.
Im Lauf der Jahre veränderte sich der Traum. Immer mehr Details fügten sich hinzu. Ich nahm im Mondschein Häuser wahr, Autos, die davor parkten. Aber die Gegend blieb mir fremd. Die Strecke, die ich entlanghetzte, wurde länger, die Stiche in der Lunge ließen nach. Manchmal musste ich bei Tage unwillkürlich lächeln, wenn ich daran dachte. Ein spöttisches Lächeln, das ich zu verbergen suchte.
Inzwischen trainierte ich als eine der besten Läuferinnen des Landes beinahe jeden Tag. Angefangen hatte ich mit der Kurzstrecke, doch da war nach wenigen Sekunden schon alles vorbei, powerte ich mich zu schnell aus. Gegen den Willen meiner Betreuer wechselte ich zu den Langstrecken. Später lobten sie mich für meine Durchsetzungskraft und meine Ausdauer.
Der Alptraum blieb. In manchen Zeiten quälte er mich häufiger, manchmal blieb er monatelang aus, so dass ich immer wieder Hoffnung schöpfte, ich wäre ihm davongelaufen. Doch dann packte er mich mit neuer Wucht.
Ich rannte. Es hatte nichts mit den Tartanbahnen gemein. Schon nach wenigen Metern hetzte ich so schnell über die menschenleere Straße, dass es in meinen Lungen brannte. Aber mein Herz pumpte viel langsamer als früher. Aufmerksam nahm ich die Umgebung wahr, versuchte jedes kleinste Geräusch zu erhaschen. Da war nichts. Ich rannte, lief weg. Aber es war nichts zu hören. Nur meine eigenen Füße, die den Asphalt prügelten. Ich wagte es, mich umzusehen. Da war nichts. Nichts, was ich sehen konnte. Fast wollte ich nachlassen, mir die Kraft einteilen, als mich Kälte traf. Sie stieß mich nach vorn, taumelnd streckte ich die Hände aus. Doch ich fing mich ab, kam wieder in Tritt. Dann traf mich die Kälte mit Macht, umklammerte mich, warf mich zu Boden. Ich keuchte und schrie!
Ein frisches T-Shirt lag immer parat. Aber meist nahm ich dann doch erst eine Dusche und genoss minutenlang die Wärme, die meinen Körper aus einer Starre löste und mich dem Leben zurückgab. Meist kuschelte ich mich anschließend zu meiner besten Freundin Susanne, mit der ich jetzt in einer WG lebte, und entspannte mich einfach nur bei dem Gedanken, nicht allein zu sein.
Mit 24 schlossen wir unser Studium ab. Das Laufen war meine Gewohnheit, aber ich trainierte nicht mehr so verbissen. Mein deutscher Meistertitel bei den Juniorinnen blieb mein einziger herausragender sportlicher Erfolg. Dennoch fuhr ich zur Weltmeisterschaft nach Tokio. Aber nur, um meine ehemaligen Kameradinnen und Kameraden zu unterstützen. Und als Start für eine kleine Weltreise. Susanne nahm direkt nach dem Abschluss eine Stelle in Karlsruhe an. Ziemlich schnell fand sie dort auch ihre Liebe fürs Leben, wenn ich ihren E-Mails trauen konnte.
Der Traum indes blieb, veränderte sich weiter.
Die Kälte riss mich zu Boden, hielt mich fest, ließ nicht los. Während mein ganzer Körper umschlossen wurde, blieb der Kopf merkwürdig klar. Der Mond schien, doch es war nur ein Schemen zu sehen. Die Kälte strich über mein Haar, fuhr über die Stirn, berührte die Augen, folgte meinen Wangenknochen, hauchte meine Lippen an und wanderte weiter über das Kinn bis zum Hals, in dem das Blut am Maximum pochte.
Susanne bezog mit ihrem Freund ein Haus in der Vorstadt. Er schien einiges an Geld geerbt zu haben, schließlich war er nicht älter als wir. Sie luden mich zur Einweihungsparty ein. Dankend nahm ich an. Meine Weltreise war zu Ende. So genau wusste ich noch nicht, was ich jetzt machen sollte.
„Komm erst mal zu uns. Das wird super. Wir haben jede Menge Leute eingeladen. Auch ein paar Singles!“ Susanne konnte es nicht lassen. Ich schmunzelte auf dem Weg zu ihr. Sie würde mich schon in den Mittelpunkt rücken. Schließlich feierten wir auch in meinen Geburtstag hinein. Das hatte sie bestimmt nicht vergessen.
Ein hübsches Haus. Im amerikanischen Stil mit Veranda und tatsächlich einer Hollywoodschaukel. Ihre neuen Freunde waren alle sehr nett, etwas reserviert, in unserem Alter. Aber niemand, den ich kannte.
„Ja, die anderen habe ich aus den Augen verloren, oder sie wohnen inzwischen zu weit weg, um mal eben zu einer Hausparty zu kommen“, meinte Susanne. „Mach dir nichts draus. Wenn du erst Arthur kennen lernst ...“
Wer heißt denn heutzutage noch Arthur?
„Wie alt ist denn dein Arthur?“, fragte ich misstrauisch.
Die kleinen Fältchen umkränzten ihre Augen. „Sieh ihn dir an, er ist was für dich.“
Vielleicht war es Absicht, aber Arthur kam als Letzter. Wow. Er machte tatsächlich sofort Eindruck auf mich. Wie er sich bewegte. Und die längeren dunklen Haare. Ich stand darauf. Bei langen Haaren schaute ich sowieso schon immer zweimal hin. Und der zweite Blick bestätigte den ersten. Seine Augen lachten mich an, die Hände waren wohlgeformt, mir fiel nichts Besseres dazu ein. Und reden konnte er auch. So einen gab es gar nicht.
Irgendwann landeten wir in der Hollywoodschaukel. Eine einsame Lampe neben der Tür gab ein schummeriges Licht. Längst hatte Arthur den Arm um mich gelegt. Es prickelte in meiner Magengrube, und ich wünschte mir nichts sehnlicher als einen Kuss. Die Augen geschlossen lehnte ich mich zurück. Seine Fingerkuppen wanderten meinen Arm hinauf, hinterließen eine Spur. Er beugte sich vor. Sein Atem ließ mich die Lippen in Erwartung leicht öffnen. Kälte schnitt in meine Lungen. Ich keuchte auf und öffnete die Augen. Arthur war da, nah. Ich stieß ihn weg und versuchte, Luft zu bekommen.
„Habe ich dich erschreckt?“ Seine Stimme schmeichelte, milderte mein Schaudern.
„Es ist nichts, es ist nur ...“ Ich brachte mehr Abstand zwischen uns und ging die Stufen hinunter auf den Weg. Arthur folgte mir langsam, stellte sich hinter mich. Seine Finger strichen mein Haar nach hinten, unglaublich sanft. In mir beruhigte sich alles. Der Mond stand mit seiner dünnen Sichel am Himmel und warf kaum Licht hinunter. Auch von der Straße gab es keinen Laternenschein. Der Partylärm blieb hinter den Fenstern, drang nur als plätscherndes Geräusch zu mir.
Ich fühlte, wie sich sein Gesicht näherte. Er blies mir ins Ohr. Eisiger Ostwind durchstreifte meine Sinne. Mein Traum brach sich mit Macht in mein Bewusstsein. Mit einem Schritt brachte ich mich aus dem Wind.
„Lauf!“, hörte ich. Halb wandte ich mich um, konnte Arthur trotz der Nähe nur als groben Schatten ausmachen.
„Lauf!“
In mir zog sich etwas zusammen. Ich wollte sprechen, konnte es nicht. Meine Fingerspitzen wurden kalt, der Mund trocknete aus. Kälte strich um meine Wangen.
„Lauf, so schnell du kannst.“ Ich wollte an ihm vorbei zum Haus, doch er versperrte mir den Weg.
„Sie werden dir nicht helfen. Wir gehören alle zusammen.“
„Susanne“, brachte ich heraus.
Er lachte, und es klang fast liebenswürdig. „Auch Susanne. Seit einem Monat. Seit dem Tag vor ihrem 25. Geburtstag.“
25. Das würde ich sein – in zwanzig Minuten? In zehn? Noch immer verschenkte ich wertvolle Zeit.
Mit dem nächsten klirrend kalten Windhauch vernahm ich nur: „Ich brauche die Jagd!“
Es klang fast entschuldigend. Aber darüber konnte ich mir keine Gedanken machen. Ich wandte mich abrupt zur Straße und fing an zu rennen.
Ich rannte, wie ich schon Hunderte Male gerannt war. Floh an den Autos und Häusern vorbei, die ich jetzt erkannte, in eine Richtung, von der ich nichts wusste. So schnell ich konnte. Ich brauchte mich nicht umzudrehen. Da würde nichts sein. Ich wartete auf die Kälte, verspürte aber keine Angst.
Als die Kälte kam, nahm sie mir für einen Moment den Atem. Sie stürzte mich zu Boden und hielt mich bewegungslos. Der Mond beleuchtete Arthur, der mit seinen Fingern über mein Haar strich, über die Stirn fuhr, meine Augen berührte, den Wangenknochen folgte. Er glitt mit seinen Lippen über meine, wanderte weiter über das Kinn bis zum Hals, in dem mein Blut pochte.
„Ich will dich. Seit fünfzehn Jahren. Hab keine Angst.“
Mein Kopf war klar. Unglaublich klar. Arthur so nah.
„Ich werde dir nur dieses eine Mal weh tun. Versprochen.“
Die Kälte wich ein wenig zurück. Trotzdem versuchte ich nicht, mich zu rühren.
„Wir werden Zeit haben.“
Es klang nicht bedrohlich.
Seine Lippen näherten sich meiner pulsierenden Ader.

Ich hatte nie eine Chance.


© mb2012, 2. Version

Letzte Aktualisierung: 22.10.2012 - 19.34 Uhr
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