Gruselig geht's in unserer Horror-Geschichten- Anthologie zu. Auf Gewalt- und Blutorgien haben wir allerdings verzichtet. Manche Geschichten sind sogar witzig.
Es sind meist die kleinen Dinge, die die gewohnte Ordnung auf den Kopf stellen.
Bei Henriette maß das kleine Ding zwei Mikrometer und wäre als A82.0 oder Wildtiertollwut auslösend klassifiziert worden, hätte sie sich in ärztliche Behandlung begeben. Sie tat Letzteres nicht, da sie nun mal ein Wildschwein und kein Kassenpatient war.
Natürlich hieß Henriette auch nicht Henriette, sondern wurde von ihren Artgenossen mit einem kehligen Geräusch beschrieben. Dieses Geräusch ist jedoch mit keiner der üblichen Lautschriften adäquat zu erfassen; deswegen also die symbolische Variable in Form eines menschlichen Namens.
Das Virus vom Genotyp 1 teilte sich in Henriettes Zytoplasten.
Der Leser muss sich diesen Vorgang von einem speziellen Laut, einem Plitsch, begleitet vorstellen. Wir lassen das Virus also gewähren, verlassen die Szene und begeben uns in die Vogelperspektive.
Unter uns liegt der Platz, an dem unser Wildschwein/Sau lebte: ein hübscher kleiner Wald im Süden einer westfälischen Großstadt. Und ... Zeitenwechsel:
Bauvorschriften sind heutzutage nicht mehr das, was sie einmal waren. Daher standen nur noch Reste eines alten Backsteinbaus auf dem Areal, das unmittelbar an besagten Wald grenzte. Die Frage, warum dort stattdessen nun ein dünnwandiges Fertighaus in die Höhe ragte, bringt uns zu dem Punkt Finanzierung. Die Bauherren Bernd und Lilly Schultheiß verfügten über kein schlüssiges Finanzkonzept. Dass die Sparkasse letztendlich einlenkte, verdankten die Eheleute dem Zweigstellenleiter Harald Martinsbach. Aber nichts ist umsonst auf dieser Welt. Wobei fairerweise gesagt werden muss, dass die Martinsbach’schen Bedingungen vergleichsweise human klangen: Freier Zugang zu dem Hochsitz auf besagtem Filetgrundstück in der 42. und 43. Kalenderwoche jeden Jahres, sowie fünfzig Schüsse aus dieser erhabenen Position.
Pikant an diesem unbürokratischen Abkommen: Dem Diplom-Forstwirt Bernd Schultheiß waren Aufsicht und Pflege des erwähnten Waldstücks von der kommunalen Verwaltung übertragen worden.
Wenn Sie die Fakten soweit geordnet haben, Schnitt und Aufblende Henriette:
Diese hatte schon zu Beginn des Frühjahrs geahnt, dass die Ernährungslage in ihrem sozialen Nahraum zu wünschen übrig lassen würde. Unmittelbar nach ihrem Konflikt mit einem infizierten Fuchs biss sie daher drei der fünf süßen Frischlinge tot.
Lilly Schultheiß, die gerne in gehobeneren Kreisen verkehrte - in rein gesellschaftlicher Hinsicht, sei an dieser Stelle betont - , hatte zu Beginn des Jahres nach Abzug der Fixkosten Tennisclub, Zweitwagenleasingrate und Beautysalon ähnliche Befürchtungen bezüglich ihrer Ernährungslage gehegt. Bernd, der im Bett ebensolche Laute ausstieß wie jener penetrierende Eber, in der irrigen Annahme, Lilly gefiele das, hatte im laufenden Jahr sehr zum Leidwesen seiner Frau dreimal erfolgreich sein Wildhütersperma in Lilly versickern lassen. Ihm selbst war dies nicht bewusst gewesen. Und so bekam er auch nicht mit, dass Lilly ihren Frauenarzt dreimal mit Hinweis auf die schlechte Ernährungslage überzeugte, das Totbeißen mit gynäkologischen Methoden vorzunehmen. Daher war Bernd weder traurig noch wütend, obwohl er gern Vater geworden wäre, sondern einfach nur unwissend.
Während sich Bernd den Premium-Bierschaum, der das Unterwerfen bei Martinsbach erträglicher machte, von der Oberlippe wischte, bildeten sich ein wenig weiter oben im Wald erste Schaumbläschen auf Henriettes Schnauze.
Wildschweine können zwar auf ein spezialisiertes, in seiner Effizienz aber nur sehr limitiertes Denkstrukturensystem zurückgreifen. Unsere sau hatte sich nie mit der Sorte politischer Lektüre beschäftigt, die Bernd Schultheiß vor seinem Eintritt in den Staatsdienst aus seinem Bücherschrank verbannte. Kommunist? Ich? Eine Unterstellung! Trotzdem erkannte sie plötzlich, dass das Prinzip von Ursache und Wirkung die Möglichkeit zur Umkehr barg.
Und so legte sich Henriette am Waldrand auf die Lauer, entdeckte einen Mann in guter Ernährungslage (Martinsbach) und einen, der noch im Wachstum schien (Bernd Schultheiß), beide trinkenderweise auf den Hochsitz steigen.
,Was für ein vortreffliches Winterpolster der eine sich angelegt hat’, dachte sich Henriette, ,das möchte ich auch für meine kleine Frischlingfamilie.’
Und warum, so überlegte sie, sollte sie sich mit den Scampi- und Trüffelrisottoresten zufrieden geben, die Lilly immer in den halboffenen Kübel im Hof entsorgte, wenn dort vor ihr hochpotentes Fleisch wartete?
Nun sind Wildschweine nicht die besten Pläneschmieder, das sei dem interessierten Leser an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich vermittelt, und so brachte Henriette ihre 175 kg einfach auf Geschwindigkeit und rammte einen der vier Grundpfeiler des Hochsitzes.
Die Herren über ihr verschütteten etliche Milliliter ihrer Gerstengetränke. Martinsbach verlor sogar den Halt und schlug mit dem Kopf gegen die hölzerne Seitenwand. Vom Geräusch des heruntertropfenden Blutes angezogen - Platsch! Platsch! - versuchte die Frsichlingsmutter die Stufen der Aufstiegsleiter zu erklimmen. Es blieb bei dem Versuch, schließlich sind Schweine von Natur aus nicht ... der Leser denke sich an dieser Stelle seinen Teil.
„Lilly!“, schrie Bernd, „Mein Gewehr!“, als die Sau Anlauf nahm, um Grundpfeiler zwei zu schwächen. Soviel Taktik war immerhin möglich.
Bernds Gattin verweilte derweil auf der Webseite eines Internetauktionshauses, während sanfter karibischer Soul ihr Headset und ihre Seele zum Schwingen brachte. Bernds Rufe erreichten Lillys Ohren also nicht. Dafür entdeckte sie die goldene Kette, hinter der sie bereits so lange her war. Lilly überlegte, wie viele Male sie durch Selbstbefeuchtung animalischen Trieb vortäuschen und Bernds Laute ertragen musste, bis sie ihren Mann so weit hätte, den Kredit bei Martinsbach erweitern zu lassen. Sie errechnete sieben. Erst dann tippte sie ihr Höchstgebot ein.
Bernd versuchte, Martinsbach - Platsch! Platsch! - auf die Füße zu hieven, während Henriette - plitsch, plitsch - ein weiteres Mal Anlauf nahm. Dem Forstwirt gelang es, den benommenen Zweigstellenleiter die Hochsitzstiegen hinabzubugsieren.
Henriettes Wahrnehmung hatte sich zusammengezogen. Der klassische Tunnelblick auf die Beute. Ein weiteres Mal schoss sie vor, erwischte Martinsbach und biss ihm ein Stück Fleisch aus der Wade, woraufhin dieser aufbrüllte und in eine dankbare Fast-Ohnmacht versank.
Wie der Leser wohl ahnt, lassen sich die Pawlowschen Thesen auch auf Wildschweine anwenden. Versuchen wir es so: Das von Fett und Sehnen durchzogene Stück Unterschenkel bescherte unserer Protagonistin nicht nur ein herrliches Kauerlebnis, sondern auch das Gefühl, sich richtig verhalten zu haben und dafür belohnt worden zu sein.
In einer solchen Gemütslage entwickeln Wildschweine erstaunliche Antennen. Und so empfing, dechiffrierte und verstand Henriette plötzlich den Antrieb, der sich im Kopf der Frau im ersten OG des Hauses vor ihr festgesetzt hatte: „Lilly, ich bin nur deine Mutter und nicht allwissend, aber glaubst du, das ist das Beste, das du bekommen kannst?“
Mit dieser Interpretationshilfe sah Henriette ihre Beute in einem neuen Licht: Warum sich mit zähem Muskel zufrieden geben, wenn direkt vor ihr viel zartere Teile Menschenfleisch Deckung suchten? Sie bäumte sich auf, wie es sonst die Eber hinter ihr taten und grunzte Bernd und Martinsbach ihr neues Credo hinterher. Entschied sich dann aber dafür, nicht sofort anzugreifen, sondern diesen Augenblick der Vorfreude noch etwas auszukosten. Es fühlte sich kribbelig an; dort, wo sich Schnauze, Augen und Ohren trafen. Unsere Sau versuchte die Stelle mit ihren Klauen zu tasten. Zwecklos, sie musste sich irgendwo innen befinden.
In die kühle Abendluft mischte sich ein Geruch, den Henriette sonst nicht wahrgenommen hatte, wenn Bernd und Martinsbach auf dem Hochsitz durch ihre Jagdgläser schauten: Angst und Panik! Sie schmeckte ihn deutlich weiter hinten am Gaumen als den (Wildschweine nennen ihn anders, wir übersetzen den Begriff der Einfachheit halber mit:) testosterongeschwängerten
Schweiß, den die beiden absonderten, wenn sie bewaffnet von oben in den Wald starrten.
Henriette - plitsch, plitsch! - folgte dem Geruch, der sie zur Kellertreppe führte. Am unteren Ende hatte Bernd den fahlen Zweigstellenleiter, der am ganzen Leib zitterte, abgeladen, während Bernd selbst an der Klinke der Kellertür rüttelte. „Lilly, hol mein verdammtes Gewehr, das gottverfluchte Vieh bringt uns sonst um!“
Das Jucken in Henriettes Kopf war jetzt einem Summen gewichen, einem angenehmen Ton, der in ihren gesamten Körper ausstrahlte. Sie sog noch einmal den köstlichen Duft ein, der die Kellertreppe hochzog und setzte dann langsam eine Klaue vor die andere. Das fiel ihr - plitsch, plitsch - mittlerweile ein wenig schwerer als zuvor. Aber diesen Umstand zu hinterfragen, hätte ein Denkmuster vorausgesetzt, dass ... ach, lassen wir das, oder kennen Sie sich mit Neuronal-Verbindungen aus?
Die Frsichlingsmutter öffnete ihre Schnauze. Sie erinnerte sich nicht daran, wann ihr diese riesigen Reißzähne gewachsen waren, aber sie fühlten sich gut an. Henriette konnte Flüssiges und Schaumiges unter ihrer Zunge hervorquellen spüren. Das war vermutlich so, wenn man Menschen jagte. Sie schickte ein letztes sonores Grunzen in die Luft und hechtete Bernd und Martinsbach entgegen.
Henriette lebte noch einige Stunden satt und glücklich mit ihren Frischlingen. Kurz bevor sie die Augen für immer schloss, sagte sie zu Frischling Nummer drei - frei übersetzt: „Rosa, ich bin nur deine Mutter, aber glaub mir, der Wald und seine Bewohner brauchen einen Rat!“
Letzte Aktualisierung: 27.10.2012 - 17.22 Uhr Dieser Text enthält 9762 Zeichen.