'paar Schoten - Geschichten aus'm Pott
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Jagd | Oktober 2012
Wörter, die ins Rutschen kommen
von Glädja Skriva

Er weint.

Klingt ziemlich sachlich und nüchtern: „Er weint.“ Vielleicht ist es besser, wenn ich schreibe: „Dicke Tränen rollen sein Gesicht herunter.“ Hm, das ist jetzt fast schon einen Tick zu pathetisch. Und was ist überhaupt mit dem „er“? Es wird nicht ganz klar, worauf sich das „er“ bezieht; auf den einen oder auf den anderen? Vielleicht sollte ich besser statt „er weint“ schreiben: „Dieser weint.“ Mist. Das klingt jetzt total hölzern. Dann füge ich vielleicht doch besser den Namen von „er“ ein, damit es klarer wird: „Alec weint.“ Sch ... „A - lec“ - klingt wie „Leck mich ...“. Da muss ich mir doch noch einen anderen Namen für ihn einfallen lassen. Vielleicht Kevin? Aber dann ist das wieder so Schubladenbesetzt. Es muss ein Name sein, der ins Ohr geht und hängenbleibt, ohne dass man zu viele vorgefertigte Meinungen damit im Kopf verbindet. Wie, wie ... Verflixt und zugenäht. Mir fällt nichts ein. Den Namen stelle ich wohl erst einmal zurück. Am besten fange ich ganz neu an. Also: „Er weint“. Vielleicht schreibe ich stattdessen besser „er schluchzt“? Wie hört sich das Weinen von Alec überhaupt an? Laut, leise? Ob er dabei die Nase hochzieht und schniefzt? Ja, das wäre auch eine Idee. „Schniefzen“.



Ist das nicht Leon, den ich da höre? Leon?



Nee. Da habe ich mich wohl getäuscht. Aber Alec könnte in der Geschichte schniefzen. Allerdings sollte er dann auch eine Bewegung dazu machen. Vielleicht ein Schnupftuch aus dem Hosensack ziehen? Das blauweiße, vielleicht? Blauweiß? Klar: Blauweiß. Bayern. Aber Alec in der Geschichte ist doch kein Bayer. Überhaupt. Was für ein Landsmann könnte er denn sein? Ein Ostfriese vielleicht? Ob Ostfriesen weinen? Ich meine, richtig weinen, nicht nur „schniefzen“. Tränen haben die ja genug, wenn die ihnen der scharfe Westwind auf See tüchtig in die Augen treibt und sie kräftig gegen den lauten Wellenschlag in ihr Taschentuch schneuzen müssen. Also, leise und still ist das nicht. Still - das würde niemals zu ihnen passen. Genauso wenig wie der Ausdruck „still in sich hineinweinen“. Das klingt doch eher nach einem Heiligenbild. Irgendwie nach Maria. Höchstens, na ja, vielleicht haben sie die ja vorne auf ihrem Schiff als Schutzheilige sitzen? Aber, ich glaube, die haben wenn, dann nur so barbusige Meerjungfrauen am Kiel angebracht. Oder? Auf jeden Fall sind das beinharte Kerle, die Seemänner, und doch ... am Weihnachtsabend, wenn sie weit von zuhause fort sind und am Äther sitzen und Grüße an die Familie schicken, dann ... Verflixt und zugenäht, jetzt bin ich schon wieder abgedriftet. Wenn ich so weitermache, verschwindet heute mein Schreibfrachter noch im Bermudadreieck. Mist. Das kann doch nicht so schwer sein, irgend so ein läppisches Wort für „er weint“ zu finden. Ha! Jetzt aber! Dass mir das nicht gleich eingefallen ist! Ich werde mal mein schlaues Buch holen. Da ist das Problem in null Komma nichts gelöst. „Weinen“, „weinen“. Hier steht es doch: „Weinen“ ... anderes Wort für „heulen“. Hm. Klingt ziemlich Umgangssprachlich: „Rotz und Wasser heulen“ ...



Damals ... da hat Leon auch ...



Alec. Ich bin bei Alec!! Was steht denn da noch als Alternative zum Wort „heulen“? „Sich die Augen aus dem Kopf weinen“. Meine Güte, „die Augen aus dem Kopf weinen“ ... so ein Alec ist doch kein kleines Mädchen mehr. Der hat doch keine rotgeränderten Augen, wenn er weint. Nee, das kann ich mir überhaupt nicht vorstellen. Der ist doch ein gestandener Seemann, noch so einer von der „alten Garde“. Den geniert es, wenn er vor anderen weint. Aber, wenn er von der „alten Garde“ ist, passt irgendwie der Name „Alec“ nicht so richtig zu ihm. Jetzt habe ich es, der muss einen Namen bekommen, der für die ältere Generation typisch ist. Zäh wie Leder, aber doch so butterweich, dass er „weinen“ darf. Oder „wimmern“, „winseln“? Meine Güte, dieser Alec ist doch kein Hündchen auf den Armen von Paris Hilton. Er „weint“. Schlicht und ergreifend. Um was eigentlich?



Seltsam, jetzt meine ich wieder Leon zu hören. Leon? Irgendwie muss ich mich doch getäuscht haben.



Wo war ich? Ähm, ja, vielleicht weint er sich in den Schlaf, weil, weil ... Ach, was weiß ich ... Draußen ist doch schon genügend trübe Novemberstimmung, da muss die Geschichte nicht auch noch traurig sein! Vielleicht sollte ich einfach schreiben: „Das Weinen ist ihm näher als das Lachen.“ Oder umgekehrt? Dann könnte ich überleiten zu seinem Grinsen oder scheppernden, krächzenden, nein, schallenden ... ist ja auch erst einmal egal ... Lachen. Ich werde da schon noch den passenden Ausdruck finden. Na, auf jeden Fall, kann ich aus diesem Alec dann einen sehr lustigen Typen stricken. Das isses! Vielleicht lasse ich auch bei ihm sich das Weinen mit dem Lachen vermischen?! Mensch, dass mir das nicht sofort eingefallen ist! Weinen u n d Lachen. Gleichzeitig! Das ist in alle Richtungen ausbaufähig. - Und den Brückenschlag zum Seemann kann ich auch schlagen. Der ist bestimmt kein Kind von Traurigkeit. Ja, so ist es wohl am besten. Ich lasse ihn mit der Hand die Lachtränen von seinen Augen wischen. Ob sie schwielig ist, seine Hand, von der vielen schweren Arbeit? Ich glaube, seine Frau kennt seine Hand; ich meine, wie die sich anfühlt. Ich glaube, sie kennt seine Hand besser als sein Gesicht. Ob die jemals seine Tränen geschmeckt hat? Ob ich ihn an dieser Stelle das erste Mal weinen lasse? Ob er sich dabei selbst fremd ist?

Der flennt ja sogar. Klar, ich könnte auch „flennen“ schreiben. Warum fiel mir das nicht sofort ein? Schließlich weint er. Sturzbachartig. Ja: „Er flennt“! Er könnte um seinen Sohn ... – Halt, Stopp! „Flennen“. Das Wort klingt nicht gut. Gar nicht gut. Weg damit. Puuh, da wird mir ja speiübel davon. Nur vom Flennen. Nein, „flennen“, das schreibe ich auf gar keinen Fall! Niemals! So ein pottscheußliches Wort aber auch! Das trifft es sowieso nicht. Das ist doch ganz klar Murks. Ich meine, über so einem Wort stehe ich doch. Darüber bin ich doch längst hinweg. Ich könnte inzwischen auch „flennen“ schreiben. Wirklich! Aber das passt einfach nicht. Hier nicht. Das liegt eben am Wort, an seiner Sprachmelodie, an dem Wortstamm. Klar, es liegt am Wortstamm. Ich wusste es sofort, dass es nur am Wortstamm liegen kann. Und überhaupt drückt es nicht im Kern aus, was ihn in diesem Moment bewegt und wonach ich suche ... . Ich meine, wenn „flennen“ passen würde, würde ich es natürlich sofort benutzen. Aber es trifft es eben nicht. Da schreibe ich dann doch lieber: „Er weint“. Das klingt zwar nüchtern, aber schließlich weint er ja. Und wenn das niemanden berührt. Mein Gott, dann weiß ich auch nicht! Ich meine, warum immer dieser übertriebene Firlefanz mit den verschiedenen Wörtern? Da könnte ich ja genauso gut doch noch schreiben „er heult Rotz und Wasser“. Ein gestandener Mann! Rotz und Wasser. Pah! Lächerlich.



Leon? Leon, dann habe ich es vorhin doch richtig gehört.



Ich höre bereits von weitem sein Schluchzen. In dem ihm ganz eigenen Rhythmus. Fünfmal laut und einmal Stille, bis das Lautwerden wieder anschwillt. Gleich wird die Klinke hoch- und dann wieder kurz hinunterschnappen. Seine Beinchen, mit den gestreckten Zehenspitzen bis dorthin, fast zu kurz und dazwischen immer wieder das Schluchzen. Leon, mein Enkel, mein kleiner, großer Löwe. Mein Gott, wie er seinem Vater ähnelt. Das Ganze Weh und Ach der Welt rinnt in einer riesigen Schnodderspur sein Gesicht hinunter. Dann die Stille. Mit dem Ärmel, die kleinen Fäuste darin wie ein eingezogener Schildkrötenkopf versteckt, wischt er fast alles weg. Eine breite Autobahnspur auf dem Pullover. „Leo.“. Ich nehme ihn auf meinen Schoß und wiege ihn, bis er seinen Kopf auf meine Brust legt, während wir summen, eher brummen. Es darf nie ein Lied, es muss immer ein Summen sein, eher dieses Brummen, wie aus einer Bärenhöhle im Winter. Warm und gemütlich. Kein Ton darf es zu hoch sein und sein schmatzender Daumen meldet mir, ob es genau richtig ist. „Wie blank poliert, dein Näschen“, sage ich und knubble dabei zart über die Stelle, die er immer mit seinem Zeigefinger ausgiebig massiert, wenn er seinen Daumen wie einen Kronkorken in den Mund gesteckt hat. „Fluffig-flauschig, wie bei einem Lämmchen.“ Und dabei muss ich das „ff“ bei „ffluffig“ immer so pusten, dass sich davon sein blonder Wirbel kräuselt. Er lacht, wie früher immer sein Papa. Damals ...

Und dann flenne ich. Das erste Mal seit ... Aber das liegt nur an diesem bescheuerten, elendiglichen, vermaledeiten Wort.



© P.S./Glädja Skriva/Okt. 2012/3. Version

Letzte Aktualisierung: 26.10.2012 - 17.34 Uhr
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