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Jagd | Oktober 2012

Jagdgründe
von Barbara Hennermann

Der Laden liegt etwas versteckt in einer Seitenstraße, aber dennoch mitten im Stadtzentrum. Bodo hat ihn mit Bedacht so ausgesucht, um eine „gewisse Exklusivität der Kunden“ zu garantieren. Dies entspricht seinen Vorstellungen der „sozialen Gesellschaftswerte“.
Im unteren Teil werden Taschen und Accessoires angeboten, der obere ist der Jagd vorbehalten. Um Laufkundschaft zu vermeiden, sind die Öffnungszeiten auf wenige Vormittagsstunden beschränkt. Die Jagdabteilung wird nur in Terminabsprache geöffnet, denn Bodo will seine Kunden selbst beraten.
Bodo von Bachgestein und Krälingen ist mein Mann, bereits seit dreißig Jahren, leidenschaftlicher Jäger wie ich selbst auch. Mein Name ist übrigens Carmen. Unsere Ehe blieb kinderlos, wodurch uns mehr Zeit für die Jagdausübung zur Verfügung steht.


An jenem Mittwoch betrat ich den Laden außerhalb der üblichen Öffnungszeiten. Selbstverständlich besitze ich einen Schlüssel. Bei einer Körpergröße von einem Meter fünfundachtzig und neunundneunzig Kilo Gewicht kleide ich mich verständlicherweise am liebsten sportlich und suchte nach einer passenden Umhängetasche.
Als ich die Tür aufschloss, stieg mir sofort ein ganz typischer Geruch in die Nase. Ich schnupperte. Blähte die Nasenflügel und schnupperte erneut. Das gab´s doch nicht! Ich blähte die Nasenflügel wieder, öffnete leicht die Lippen, zog die Luft durch die Nase, ließ sie durch den Mund ausströmen, schmeckte nach wie bei einem guten Wein…. Kein Zweifel. Hier roch es eindeutig nach Maggi. Der charakteristische Geruch einer Wildsau!
Ich blickte mich um. Natürlich konnte ich nirgendwo ein Wildschwein entdecken. Kopfschüttelnd stieg ich die Treppe nach oben. Sollte ich mich so getäuscht haben? Ich war dermaßen auf den Geruch fixiert, dass ich das verstohlene Öffnen und Schließen der Ladentüre unten nur unterbewusst wahrnahm und ihm keine Bedeutung beimaß.
Der Anblick, der sich mir nun oben bot, verschlug mir allerdings den Atem.
Tatsächlich gab es eine Sauschwarte, meine Nase hatte mich nicht getäuscht, natürlich nicht.
Das abgezogene Fell einer kapitalen Wildsau lag, fachmännisch abgeschwartet und dennoch blutverschmiert, mitten im oberen Verkaufsraum. Dies hätte mich nicht wirklich schockieren können, denn dieses Bild hatte ich schon hunderte Male gesehen, wenn auch der Ort recht ungewöhnlich war. Schockierend war vielmehr, was a u f der Schwarte lag – nämlich Bodo von Bachgestein und Krälingen, achtundsechzig Jahre alt, mein Gatte. Nackt und mit einem seligen Grinsen im Gesicht. Aber dennoch sichtlich mausetot. Es war s e i n Blut, welches die Wildschweinschwarte tränkte …
Mein erster Impuls war, hysterisch los zu schreien. Kreischen, was das Zeug hält. Ganz Frau sein, bis endlich Hilfe naht.
Doch dann siegte mein Verstand. Wozu so einen Aufstand machen? Die Ehe mit Bodo war bereits vor vielen Jahren in seinen Affären versunken. Man hatte sich arrangiert. Er lebte sein Leben, ich meines. Das Einzige, was uns noch, was uns, genau genommen, je wirklich verband, war die Jagd. Das konnten die blond, brünett und schwarz gelockten Liebchen, alle unter einem Meter sechzig und nie schwerer als hundert Pfund, auch nicht ändern. Letztlich hatte ich ja auch immer verstanden, dass er sich mit seinen ein Meter neunundfünfzig und fünfundsechzig Kilo bei diesen Damen männlicher, gewichtiger fühlte.
All dies jagte mir durch den Kopf, als ich meinen Nimrod jetzt hier so vom Leben befreit liegen sah. Als hätte man eine Strecke nach erfolgreicher Jagd gelegt … Was, zum Teufel, war passiert?
Ich pirschte mich an den Schauplatz heran. Blattschuss. Beide. Die Sau schon länger. Bodo vor kurzem. Paff. Getroffen. Exitus.
Waidmännisch gesehen gab es nichts zu bemängeln. Die Frage war also, was das h i e r alles sollte, in seinem Geschäft. Was hatte das zu bedeuten? Woher kam die Sauschwarte? Bodo konnte ich, wie gewohnt, bestimmt einer wie auch immer gelockten, leichtgewichtigen Besitzerin zuordnen. Ich musste sie nur erst einmal f i n d e n!
Meine jahrzehntelange Übung des heimlichen Heranpirschens machte sich jetzt bezahlt, als ich den Verkaufsraum mit leisen Schritten durchmaß. In der hinteren Ecke musste doch eine Tür sein! Es war mir in dem Moment gar nicht bewusst, dass ich mich in größte Gefahr begab. Wenn der Mörder hinter dieser Tür lauerte, war ich womöglich sein nächstes Opfer?
Aber ich war nur neugierig. Wollte wissen, was geschehen war und warum. Ich stieß die Tür auf.
Sie kauerte am Boden. Verheult. Blond. Erwartungsgemäß klein und zierlich. Die Sauer 92 Avantgarde Grande Lux lehnte am Tisch. Bodos Waffe. Donnerwetter, ich hätte nie gedacht, dass so ein zierliches Persönchen den Rückstoß aushält!
Als ich mich räusperte, fuhr sie hoch, wollte nach der Waffe greifen. Natürlich hatte ich das Gewehr schon in der Hand. Gesichert, versteht sich. „Mäuschen, Mäuschen“, sagte ich. „Das scheint für dich eine Nummer zu groß zu sein. Was ist denn passiert?“ Die Kleine schluckte. Schluchzte. Heulte los. Völlig außer sich. Ich versuchte, sie zu beruhigen, stellte mich vor. Was, psychologisch gesehen, möglicherweise nicht ganz sinnvoll war. Jetzt wurde sie nämlich erst recht hysterisch „Äh, also“, fing ich an, „wir führten, äh, eine freie Ehe. Wenn du verstehst, was ich meine? Alles ganz unproblematisch! Aber ich wüsste jetzt doch gerne, weshalb er erlegt wurde?“ Ich räusperte mich wieder. „Äh, rein jagdlich sozusagen?“
Die Kleine hob den Kopf und sah mich an. Blaue Rundaugen, blondes Lockengewirr. Unschuld pur. „Bodo, du Wildsau! Kinderschänder!“ schoss es mir durch den Kopf. Ich war sofort auf ihrer Seite. Hier war sie, die Tochter, die ich nie gehabt hatte. Jetzt erst merkte ich, wie sehr ich sie vermisste!
Die Kleine schluckte. Dann lächelte sie verhalten und begann zu erzählen. Die Uraltgeschichte. Mein Gott, ich hatte sie unzählige Male miterlebt. Große Liebe, große Versprechungen. Diesmal das Lederwarengeschäft als Anreiz. (Natürlich noch im Besitz von Bodo von Bachgestein und Krälingen!)
Heute dann seine Idee mit der Sauschwarte. „Da machen wir DEN Werbegag draus, Spatzi!“ (Hatte sie wissen können, dass a l l e Spatzi hießen, der Einfachheit halber? Dass die „jagdliche Freizeitbeschäftigung“ seinen Testosteronspiegel nach oben katapultierte? So viel zum „Werbegag“!) „Ich leg mich auf die Sauschwarte, du zielst auf mich. Selbstauslöser, verstehst?“ (Von wegen Selbstauslöser! Die versteckte Überwachungskamera würde alles für später, für sein persönliches Kesseltreiben, mitschneiden. Die alte Minolta, die auf dem wackeligen Dreibein stand, hatte ihre eigentliche Funktion doch schon längst eingestellt, wie ich genau wusste!)
Ja und dann - ausgeführt. Waffe nicht gesichert. Passiert. Paff. Getroffen. Exitus.
Ich beruhigte sie. „Mädel, das kriegen wir hin. Los, jetzt! Keine Zeit mehr verlieren!“ Gemeinsam beseitigten wir die Spuren. Ich umhüllte Bodo mit der Wildsau und verstaute beide im Landrover. (Seit Jahren hatte ich ihn nicht mehr so im Arm gehalten, wie mir da erst auffiel …) Sie sicherte inzwischen die Straße. Die Abgelegenheit des Ladens erwies sich von Vorteil, denn keine Kundschaft ließ sich blicken.
Abfahrt ins Revier. Wir bestatteten Bodo in seiner Trophäe mit allen Ehren unter einer hundertjährigen Eiche. Janette (ein reizender Name, nicht wahr?) weinte erst ein bisschen und blies dann auf der Blockflöte das „Sau tot“ (sehr ergreifend, wirklich! Sie trägt ihre Flöte übrigens immer im Handtäschchen mit sich, eine kleine und so liebenswerte Marotte, ach ja). Wir waren beide davon überzeugt, dass auch Bodo entzückt gewesen wäre.
Mir ging dieses Procedere so an die Nieren, dass ich noch auf der Polizeiwache zu Tränen gerührt war. Schließlich musste ich ihn ja als vermisst melden. Es war wirklich reizend, wie sich alle um mich kümmerten. Sicher würde ich so die ungewisse Zeit des Wartens ganz gut überstehen können. Zudem war es eine große Hilfe für mich, als plötzlich eine junge Frau auftauchte, die sich als Bodos „illegitime Tochter“ zu erkennen gab. Auch ohne Gentest war die Ähnlichkeit für mich eindeutig …

Janette lebt nun mit mir zusammen im Haus. Natürlich habe ich sie adoptiert! Das Geschäft in der Innenstadt läuft glänzend. Wir haben in der oberen Etage eine Abteilung für Musikinstrumente eingerichtet, denn Janette spielt inzwischen auch ganz zügig neben ihrer Flöte auf der Mundharmonika. Ich gehe nur noch selten zur Jagd und genieße es, endlich eine Tochter zu haben und viel Zeit mit ihr verbringen zu können. Bodo ist, verständlicher Weise, bisher nicht wieder aufgetaucht.
Etwas irritierend ist für mich das immer häufigere Erscheinen eines jungen Mannes bei Janette im Geschäft, der mich an irgendetwas erinnert, was mir aber leider nicht mehr einfallen will. Sie scheint jedenfalls mit ihm recht vertraut zu sein. Ich finde ja, er hat einen komischen Blick. Janette meint allerdings, ich bilde mir das nur ein. Vielleicht kommt es ja von den Schwindelanfällen, die ich in letzter Zeit plötzlich und leider immer öfter habe?
Ich denke, ich sollte mir doch endlich einmal den Film auf der Überwachungskamera ansehen, von dem Janette nichts weiß …
©hb 10/12/ V2

Letzte Aktualisierung: 19.10.2012 - 16.52 Uhr
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