Die Fantasy haben wir in dieser von Alisha Bionda und Michael Borlik herausgegebenen Anthologie beim Wort genommen. Vor allem fantasievoll sind die Geschichten.
„Männer und Frau'n sind das nackte Grau'n.
Wie sie sich stundenlang tief in die Augen schau'n ...“ x¹
Weit nach Mitternacht. Ich liege schlaflos im Bett. Das nackte Grau'n, jawohl! Ich summe die Punkrocker-Melodie vor mich hin. Ertappe mich bei aggressiver Intonation.
Vielleicht sollte ich doch …
Sodom und Gomorra müssen puritanische Zentren der Keuschheit gegen diese Stadt gewesen sein. Ausgerechnet in die Metropole des Lasters musste es mich verschlagen! Bordelle, Swingerclubs und Massagesalons, Darkrooms und Gay-Saunen fast an jeder zweiten Ecke. Selbst Ulla, meine rassige, hochschulgebildete Ex, würde im Stundenabstand vor Scham erröten, und die kommt als Reiseleiterin schon viel herum und ist nicht prüde. Was mir nichts nutzt, denn sie hat mir den Laufpass gegeben. Für mich kein wärmendes Plätzchen mehr an ihrem Busen ...
Fortgezogen bin ich – in dieses Gewusel hier, in dem ich einfach nicht heimisch werden kann. Arbeitslos, heimatlos und Pech bei den Frauen: selbst die Putzfrau im Mietshaus (Miezhaus?) grüßt mich nicht. Da macht sich das Lachen rar. Kein Wunder, wenn man Bastian Weinmann heißt. Aber wenigstens wechsle ich mit Ulla alle paar Wochen noch einige Worte per E-Mail. Hinter ihrer charismatischen Ausstrahlung verbirgt sich immer noch ein an Pingeligkeit grenzender Perfektionszwang. Da steh ich ihr zwar in nichts nach, dennoch hat es mit uns nicht sollen sein: Einander fremd geworden – so was passiert, und nun hat es mich selber erwischt. Ich vermisse sie.
Ich werde ungeduldig, denn es fehlt das "A". Eines mit vielen “A's”, nämlich: AAAAAAAAAAH!
Genau mitgezählt. Exakt zehn, immer schriller werdend.
Nie mehr, nie weniger.
Vorher die üblichen Kurz-A's, meistens Ah – Aah – Ah – Aah, immer rhythmisch. Das kesselt wie eine Dampfmaschine. Schnelles Marschtempo, mündend in ein rasantes Prestissimo. Äußerstenfalls werden dem Auditorium zuvor drei “A's” angeboten: Aaah! Dies aber nur bei Vollmond. Ich nenne es das Tripple-A.
Das Auditorium bin ich. Und jetzt ist Vollmond. Wahrlich keine sedierende Wirkung der Kulisse! Nebenan kennt man kein Schlafbedürfnis, während ich verzweifelt, von existenzieller Müdigkeit erfüllt, den Schlummer suche.
So kreischend, dieses "A"! Und nur erträglich im Bewusstsein, dass nach der hundertsten Wiederholung von Ah – Aah – Aaah dieses AAAAAAAAAAH folgen wird. Zuverlässig und im Diskant: Daniela. Das Hirn dieser miserabel auf blond gefärbten Mieze, längst im Sinkflug, dürfte jetzt von jedem Radarschirm verschwunden sein.
Der Vortrag wird durchmischt von männlichen Ja's, Jaja's oder Jajaja's. Unmittelbar vor Danis Schlussgesang in ein den nämlichen einleitendes JAAAAAAAAAA übergehend. Dies alles im selben Takt. Synchronrezitation eines eingespielten Tandems.
Besagtes Männerstimmen-JAAAAAAAAAA (mit einem “J”) ist also nun gekommen. Und er auch. Er, das ist Uwe oder 'sexmachine' (mit Prollfaktor), wie ich ihn nenne. Ort der Handlung: die nur durch eine dünne Wand von meiner Bude getrennte Nachbarwohnung.
Grundsätzlich muss sich jetzt sofort Danielas Urlaut mit zehn "A"s anschließen und beide Verlautbarungen werden nahtlos ineinander übergehen. Eine Coda in Form eines einzigen JAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAHs in Perfektion. Mich fröstelt's bereits in den Ohren.
Vielleicht sollte ich wirklich ...
Manche Männer lieben Männer, manche Frauen eben Frau'n.
Das ist genauso normal wie Kaugummi kau'n ...“
Gleichgeschlechtlich ausgerichtete Frauen kenne ich nicht persönlich, aber vor einigen Tagen traf ich Holger aus Downtown. Er ist schwul und denkt, wie Heinrich, von mir dasselbe. Meine Schuld.
„Also, Mädels“, verabschiedete Heinrich letzte Woche uns zwei mit näselnd gehauchter Stimme, „ihr gefallt mir alle beide. Ich melde mich. Lasst mir ein paar Tage Zeit, ja?“.
Ich hatte mich nur zum Schein beworben. Wollte mal fühlen, wie es sein könnte, den moralischen Brandherd Sodom und Gomorra zu verlassen. Der Zuschlag dieses Aufreißers galt ja sowieso schon dem Hüftwackler Holger, was man aus Heinrichs schmachtenden Blicken entnehmen konnte.
In Gay Communitys sagen sie, Heterosexualität sei heilbar. Ich bin trotz Ohrsticker nicht schwul, verzichte aber dankend auf Heilung. Meine Stoßrichtung ist grundsätzlich hetero, da bin ich sicher.
Höchste Eisenbahn für Danis Finale! Nachbarschaft muss verlässlich sein! Aber ihr AAAAAAAAAAH ziert sich, steckt in der Warteschleife. Nach ihm pflegt für eine halbe Stunde Stille einzukehren. Der Maschinenraum holt dann Atem für den nächsten Anlauf: Gelegenheit für mich zum Einschlafen.
Aber schon eine Minute drüber, und immer noch kein Abschluss. Nur nervtötende Stille.
Vereinsamt hängt die erste Hälfte der Coda im Nebenraum. Bildet erstmals ein Satzzeichen: ein großes Fragezeichen. Ein zweites folgt, ich sehe es durch die Wand. Ein drittes entsteht im Kopf, bis mir schier der Schädel platzt. Fuck, wo bleibt sie, die gewohnte Dosis Fremdbefriedigung?!
Entzugssymptome stellen sich ein: Schwitzen, steigender Blutdruck. Ich brauch diesen verfickten Abschluss. Schlafen im Ungewissen und ohne das gewohnte Schema nicht möglich.
"Mach hin", zische ich Daniela zu, “Komm schon!” Aber sie kennt kein Erbarmen, kommt einfach nicht. Zwei Minuten vorbei!
Soll ich aufstehen und nachsehen? Nicht, dass sie den Einsatz schlicht vergessen hat. Mann, braucht die denn fĂĽr ein zehnfaches "A" einen Souffleur? Mathematischer Aussetzer?
Ich leide. Rasche Notiz schenkt Abhilfe: „Morgen für Dani Abakus besorgen“.
Aber die Sekunden dehnen sich, der Entzug setzt erneut ein. Ich versuche es mit GedankenĂĽbertragung:
'AAAAAAAAAAH!'
Nichts. Noch einmal. Wieder nichts.
Drei Minuten. Immer noch keine Erlösung. Mir reicht's, ich springe auf und hämm're gegen die Wand. Präzis abgezählte zehn Schläge.
Stille.
Dann plötzlich, nach fast vier Minuten, geschieht das Wunder: Wie aus tiefem Nachdenken erwacht steigt nebenan ein von allem Irdischen losgelöstes AAAAAAAAAAH empor, füllt das Haus und entweicht in die Nacht,
Und in diesem Moment folgt das zweite Wunder, das noch nie Dagewesene: Sexmachine fängt ansatzlos von Neuem an! JETZT schon, weit vor Ablauf der meinem Wegdämmern geschuldeten Karenzzeit!
Die Welt ist aus den Fugen geraten! Hin ist die alte Ordnung. Mir wird schwindelig.
Viel zu früh beginnt die Wiederholung. Volle Kanne und ohne den Minimalabstand von dreißig Minuten. Ich taumele zum Bett, lasse mich erschöpft fallen. Das “nackte Grau'n” kriecht blutgefrierend über den Fußboden und die Beine hoch, bohrt sich in meine Seele. Droht, sie aufzusaugen. Ich höre es, das Grauen, bereits schlürfen.
Vielleicht sollte ich sofort ...
”Sie liegen schon mittags in den Büschen.
Nachts kann man kaum noch durch den Stadtpark geh'n ...”
Wie tausend Krakenarme schlängeln sich Bilder in den aktuellen Rest meines Verstandes. Spielhöllen, Mafia-Schutzgelder, Korruption – und eben Sex: Bordsteinschwalben, Zuhälter, Pornoschuppen, Rotlicht-Lokale. Derart promisker Sex, dass bereits eine offizielle Gerüchtebörse über die wenigen Unangepassten existiert: 'Weißt du schon? X war noch nicht mit Y im Bett ... Es besteht der Verdacht, A habe bisher nicht mit B geschlafen' usw.
Sexualwissenschaftler werden dieser Stadt einst ein besonderes Kapitel widmen. Einer Stadt, in der das Team des Sittenkommissariats alle sechs Monate ausgewechselt werden muss, bevor es sich von der allgemeinen Hemmungslosigkeit anstecken lassen kann ...
GV in allen Variationen, geschlechtlichen Ausrichtungen und aberwitzigen Stellungen.
Uwe und Daniela wurden neulich im Kurpark von der Polizei abgeführt, als sie es auf einem Baum trieben. Ein ahnungsloser Kurgast vernahm bei seinem Spaziergang Geräusche über sich. Als er hochschaute, schimmerte von oben Danis breites, entblößtes Hinterteil von einer Astgabel herunter.
In jener Nacht, die beide in der Zelle verbrachten, hatte ich himmlische Ruhe.
Eine lärmende Sinfonie: Stampfende Maschinen, hämmernde Kolben, klappernde Ventile, pfeifende Kessel. Wie heißt noch der Komponist? Bei ihm verklingt der Lärm jedenfalls wie bei einem von der Mole ablegenden Dampfer, der in ein ruhiges, sanftes Plätschern gleitet. Das Konzert nebenan gleicht dem ablegenden Schiff mitnichten. Eher einem Düsenjet neben dem Haus, dessen Motoren sich endlos und ohrenbetäubend warmlaufen.
Ich sitze im Bett. Kerzengerade, die Haare stehen zu Berge. Durchwebt vom Quietschen der Sprungfedern, dem Klappern des Bettgestells, Rumpeln der Nachtkonsolen, Klirren der Fensterscheiben und Vibrieren der Wände prasselt die Tondichtung auf mich hernieder. Allegro con fuoco, garniert mit gutturalen Stöhn- und Grunzlauten, einem unablässigen
Ah – Ja – Aah – Jaja. Und um den Schrecken abzurunden: Nach Uwes neuerlichem, auffordernden JAAAAAAAAAA! versinkt Dani auch dieses Mal in tiefes Nachdenken (oder tut so). Wieder Ungewissheit ...
Bevor mich vollends der Wahnsinn packt, wanke ich zum Schreibtisch, fahre den Rechner hoch und schicke Ulla folgende Zeile:
“Hilfe, Ulla ich kann nicht mehr! Basti"
"Hi Basti, bitte Komma nach 'Ulla'! Ulla”, grinst mich prompt der Bildschirm an.
Tolle Hilfe! Lähmt jeden optimistischen Schwung.
Ich sollte eventuell schleunigst ...
Nein! Nicht eventuell! Schluss, aus, raus aus dieser Stadt! Um jeden Preis! Wieder mal überfliege ich die Zeilen von Jungbauer Heinrich. Er hat MICH erwählt, unsexy, wie ich bin! Schlimm, aber das kleinere Übel. Ich werde gleich mittags die Koffer packen.
Bauer sucht Frau.
Er soll sie gefunden haben.
x¹(Die Textfragmente stammen aus “M&F” der Punkrock-Band “Die Ärzte”)