Der Tod aus der Teekiste
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Stadtleben | November 2012
Stadt, Land, Fluch
von Eva Fischer

Die gestickten Veilchen bewegen sich kaum sichtbar auf der weißen Gardine.

Du bist also doch da, du alte Müllerin. Deine Neugier lässt dir keine Ruhe. Ist ja sonst nichts los in diesem Kaff. Da muss man Leute ausspionieren.
Welchen Klatsch willst du denn dieses Mal unter die gierige Meute bringen?

Anna hat sich mit Johannes im Dunklen getroffen. Er hat sie geküsst und sie hat es zugelassen. Dieses schamloses Gör! Die arme, ehrbare Mutter weiß nicht Bescheid. Den ganzen Tag plagt sie sich allein auf dem Acker, seitdem ihr Mann im Krieg geblieben ist.

Du hast dafür gesorgt, dass die Nachricht die Runde machte. Meine Mutter hat’s gegrämt. Johannes hat’s vergrault. Und ich bekam Stubenarrest.
Das ist schon lange her. Nun bin ich wieder da, nicht mit Johannes oder irgendeinem anderen Dorftrottel.

Sie zündet sich eine Zigarette an, bläst den Rauch in die kalte Novemberluft.
Zeit, die Toten in ihren Gräbern zu besuchen.
Mit ihren Pumps schreitet sie hoch erhobenen Hauptes über das Kopfsteinpflaster. Der schwarze Nerz schützt sie vor der innerlichen Kälte. Ein junger Mann im eleganten Anzug bietet ihr seinen Arm.

*

Hinter den Fensterscheiben posieren leblose Mannequins. Sie bleibt stehen, schaut sich Kamelhaarmäntel, Kaschmirpullover, seidene Blusen an, welche die Gesichtslosen umhüllen.
Sie drückt sich den großkrempigen Hut tiefer ins Gesicht, erhascht noch einen letzten Blick von ihrer makellosen Figur. Sie atmet den bleiernen Duft der vorüberfahrenden Autos ein.
Er schmeckt nach Freiheit.
Endlos sind die zu erkundenden Straßenzüge. Keine Begrenzung an der nächsten Straßenecke, keine Totenstille. Passanten gehen achtlos an ihr vorbei, glotzen ihr nicht hinterher.

Von seinen Zahlenreihen, die er abends aus der Bank mitbringt, versteht sie nicht viel, nur, dass sie sich positiv auf ihr Konto auswirken. Er nimmt sie in den Arm, küsst sie auf die dunkelroten Lippen, hört zu, wenn sie von ihren täglichen Erkundungsreisen durch die Stadt berichtet, erlebt mit ihr noch einmal den Zauber des Neuen, des ihm schon Bekannten.

Die breiten Prachtstraßen umsäumt von Ahornbäumen, der Stadtgraben, auf denen stolze Schwäne ihre Kreise ziehen, die schmucken Patrizierhäuser der Altstadt, die vielen kleinen Geschäfte, hinter denen sich bunte Welten verbergen, die zahllosen Cafés, einem großbürgerlichem Salon gleich, wo sie bei einer Tasse Kaffee die Füße ausruht. All die Menschen unterschiedlichen Aussehens, unterschiedlicher Herkunft, die an ihr vorbeiziehen, sind Teil dieser neuen, bezaubernden Welt.

Stolz führt er sie die Stufen hinauf. Im Foyer funkeln Lichter von marmornen Wänden. Elegant gekleidete Menschen lustwandeln, unterhalten sich gedämpft.
Er nimmt ihr den Pelz ab, geht zur Garderobe. Gemeinsam nehmen sie auf den gepolsterten Sesseln Platz. Sie lässt ihre Augen über die prachtvollen, barocken Ornamente schweifen. Der Vorhang öffnet sich. Das Orchester ist bereit. Die Musik beginnt leise, schwillt an, durchdringt den Raum fast schmerzhaft, stößt sie hinab in einen Strudel der Gefühle.
Die Liebe ist nie das, als was sie erscheint, Eugen Onegin.

Nach der Vorstellung küsst sie ihn dankbar.
„Das war das Schönste, was ich je gehört habe“, stottert sie fast wie ein Kind.
„Ich weiß.“

*

Die Ehe ist kinderlos geblieben. Der Strom der Zeit hat die Reize des Neuen hinweggeschwemmt.
Sie ist froh, wenn morgens die Haustür zuschlägt, und sie allein zurückbleiben kann. Sie starrt aus dem Fenster.
Eine weiße Taube fristet ihr Dasein allein auf dem gegenüber liegendem Baum.
Die grauen Tauben sind längst weggeflogen. Sie empfindet Mitleid für die Zurückgebliebene.

Sie hat keinen Hunger, muss dennoch einige Besorgungen machen. Die hohen Häuser engen sie ein. Der Boden, auf dem sie sich bewegt, ist steinig und hart. Sie fürchtet jeden Augenblick, das Gleichgewicht zu verlieren. Die Gedanken sind ausgehöhlt, die Träume ausgeträumt, ganz gleich ob Stadt oder Land.

Sie sieht eine Nachbarin, versucht, ihr aus dem Weg zu gehen, spürt ihre sorgenvollen Blicke im Rücken.

Müllerin, du kriegst mich nicht. Sie beschleunigt ihre Schritte. Etwas saugt ihr die Kraft aus den Adern. Sie hält sich die Ohren zu. Das Rauschen wird lauter.
Da ist sie wieder, die Stimme Eugen Onegins:

“Nein, verstoss mich nicht, du musst mir folgen.
An meinem Herzen sei fortan dein Platz!
Komm, verlass dies Haus! In Einsamkeit,
fern von der Welt, lass uns entfliehn.
O weise mich nicht kalt zurück,
denn mir zu folgen fordert das Geschick.
Sei mein, für immer mein!“

Zwei starke Hände packen sie, wollen, dass sie aufsteht.
Warum?
Sie will liegen bleiben, dieser Stadt nicht mehr ins Antlitz sehen.

Letzte Aktualisierung: 01.11.2012 - 21.08 Uhr
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