Futter für die Bestie
Futter für die Bestie
Gruselig geht's in unserer Horror-Geschichten-
Anthologie zu. Auf Gewalt- und Blutorgien haben wir allerdings verzichtet. Manche Geschichten sind sogar witzig.
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Stadtleben | November 2012
Hero for U
von Martina Bracke

„Mami, Mami, guck mal! Da oben bewegt sich was!“
„Ach, das sind doch die „Fliegenden Bilder“, da gibt es immer wieder was Neues. Das weißt du doch. Die hast du auch schon gesehen. Komm, es wird Zeit fürs Bett.“ Damit zog sie ihren schwarzgelb gemusterten Sprössling weiter in Richtung Rheinische Straße, am U-Turm vorbei.
Mit einem Lächeln verbarg sich Persolus hinter den weithin leuchtenden U-Buchstaben und lauschte den Schritten des Jungen, die nur er aus dem Rauschen und Toben des wogenden Innenstadtlebens am Abend des entscheidenden Borussia-Sieges herausfiltern konnte.
Scharfe Augen, mein Kleiner, dachte er. Es gehört schon was dazu, mich in diesem Dämmerlicht hoch oben auf dem Turm auszumachen. Vielleicht sollte ich dich im Ohr behalten.
Er würde ihn wiedererkennen. Doch für heute konzentrierte sich Per, wie er sich selbst nannte, auf andere Passanten.
„Sollen wir noch was für die Klausur übermorgen in Mikrobiologie zusammen lernen?“, hörte er von einem jungen Mann.
„Der Taubenschlag – den habe ich ja schon lange nicht mehr gesehen“, antwortete eine unsichere weibliche Stimme.
Faszinierten sie die Taubenporträts in den „Fliegenden Bildern“ so sehr? Oder wollte sie nur ablenken? Offenbar keine Fußball-Anhänger. Weiter interessierte sich Per nicht für sie. Ein kaputter Auspuff röhrte im Auto-Corso der begeisterten Fans, Menschen flüchteten vom Einkaufsbummel in der schwarzgelben City nach Hause, Kellner kämpften sich mit vollen Gläsern durch jauchzende Massen, ihre Gäste schwatzten nur über eines.
Per hätte den Abend genießen können. Oder auch sollen. Aber er kannte den Freudentaumel der Menschen aus vergangenen Meisterschaften bereits, freute sich auch mit ihnen, weil er sie mochte, doch erwärmte sich trotz allem nicht sonderlich für Fußball.
Er verspürte eher eine gewisse Langeweile. Seit über vierzig Jahren war der Turm sein Zuhause. Er hatte ihn für sich entdeckt, als sie seinerzeit die Leuchtbuchstaben montierten. Damals siedelte er vom Fernsehturm über.
Einige Stunden am Tag verbrachte er hier. Die Aussicht war grandios, er liebte die Nähe zu den Menschen, und er konnte hier ungestört ihren Gesprächen lauschen und sich seine Gedanken dazu machen. Seine zivile Wohnung wechselte er etwa alle zehn Jahre. Man schätzte ihn auf fünfunddreißig. Sehr schmeichelhaft, wenn er an seine dreihundertfünfzig Jahre dachte.
Jahrhunderte hatte er mit den Menschen verbracht, war selbst einst Mensch gewesen. Nur zu deutlich konnte er sich an seinen Übergang erinnern. Erst bohrende Schmerzen und grelles Licht, dann Dunkelheit, Stille, absolute Stille. Nach Tagen brach tosender Lärm über ihn herein, ein Sturm der Geräusche fegte durch seinen Kopf, seinen ganzen Körper, tobte tagelang in ihm, dann begann er einzelne Elemente zu filtern, ordnete Geräusche zu. Das Kratzen einer Ratte, die durch die Kloaken der verseuchten Stadt huschte und in seinem Kopf anfangs schier unerträgliche Beben auslöste.
Ziellos streifte er umher, bemerkte erst allmählich, dass er alle überlebte, die er je gekannt hatte. Eine Antwort auf die Fragen, die er sich stellte, bekam er nie. Er blieb der Einzige seiner Art. Sicher hatte er manche Affäre im Laufe der Jahrhunderte gehabt, für manche Frauen auch etwas empfunden, manchmal zuviel, aber sie waren alle gewöhnliche Menschen gewesen.
Die Schnelligkeit erwarb er sich erst im Lauf der Jahrzehnte. Mit ihr hatte er viele Menschen retten können. Er spürte, hörte die Gefahr und vermochte Menschen aus ihrer Reichweite zu bringen. Meist nahmen sie ihn dabei nicht einmal wahr. Einige wenige hatten ihm ins Auge geblickt und eine Mär von einem Helden verbreitet, die heute vergessen war und an die sowieso keiner mehr glauben würde. Superhelden gab es nur in Comics und den entsprechenden Filmen, auch wenn sich viele im Alltag danach sehnten. Oder auf dem Fußballplatz natürlich. Da waren sie die Helden von Bern oder vom Borsigplatz. Und das würde sich wohl auch nie ändern.
Er verlor sich in seiner eigenen Geschichte, sodass er fast das Geräusch überhört hätte. Aber nur fast.
Mit leichter Verzögerung registrierte er – etwa in Höhe des Burgtors – den Aufprall von Blech auf Blech. Im selben Moment hatte er erfasst, dass kein Mensch Schaden genommen hatte, ein Eingreifen würde nicht nötig sein. Allerdings irritierte ihn mehr das flüchtige Wehen, dass er kurz vor dem Unfall wahrgenommen hatte.
„Mensch, kannst du nicht aufpassen? Du bremst wie ein Verrückter, ich hatte keine Chance!“, ereiferte sich der Fahrer des einen Wagens.
„Wer auffährt, ist schuld!“, brüllte der andere. „Außerdem war da diese Frau auf der Straße!“
„Da war niemand!“
„Und daran können Sie sehen, dass Sie nicht aufgepasst haben! Meinen Sie, ich wollte sie umfahren?“
„Ach, und wo ist sie jetzt?“
Die Umstehenden schienen sich auf seine Seite zu schlagen, niemand hatte eine Frau gesehen.
„Dann holen wir eben die Polizei“, verlangte der Mann.
„In diesem Trubel?“
Der Disput ging wohl weiter, Per verfolgte das Gespräch nicht länger. Eine Frau. Er versuchte sich an den Hauch zu erinnern. Jemand, der vorbeihuschte. So klang es. Aber jemand, den niemand richtig gesehen hatte. Sie musste sehr schnell gewesen sein.
Seine Sinne durchforsteten systematisch die City nach dem eigenartigen Zischen. An diesem lebhaften Abend war es schwierig für ihn. Zu viele Geräusche, überschwänglicher Lärm. Mehrere Minuten vergingen, am Burgtor traf inzwischen die Polizei ein, aber Per ließ sich davon nicht aus der Ruhe bringen. Er hatte Zeit und Geduld. Und endlich hatte er den Eindruck, es orten zu können.
Na also, lächelte er still in sich hinein, konzentrierte sich darauf, es nicht zu verlieren und jagte los. Fast lautlos und für Menschen nahezu unsichtbar schnell glitt er dem Geräusch hinterher, das beinahe ebenso rasch durch die Straßen zog, immer wieder die Richtung wechselte, wie ziellos umherstreifte. Er versuchte, die Bahn vorauszuahnen. Schließlich beschleunigte er, schnitt dem Wesen den Weg ab und griff zu.
Sie wehrte sich mit allen Kräften, aber Per hielt sie fest, bis sie merkte, dass sie nicht entkommen konnte. Er bugsierte sie zu einer Laterne, denn wenn er auch exzellent hören konnte, seine übrigen Sinne entsprachen weitestgehend denen normaler Menschen.
Blonde, lange Haare umfingen ein fein geschnittenes Gesicht, aus denen ihm ausdrucksvolle Augen wütend entgegenblickten.
„Was willst du?“, schleuderte sie ihm entgegen, während er fühlte, dass ihr Puls Fahrt aufnahm.
„Wer bist du? Wieso kannst du so schnell sein?“ Per stellte die Fragen. Schließlich betrachtete er Dortmund als sein Revier. Und etwas so Schönes, Zartes und Außergewöhnliches war ihm noch nie in die Hände gefallen. Diese hier glich seiner Art. Wie sie sich bewegte, der blasse Schimmer ihrer Haut, ihre Fähigkeiten, denen er auf den Grund gehen wollte. Keinesfalls würde er sie loslassen.
Die kleine Gasse lag ruhig, die ausgelassene Stimmung der Fußballanhänger rauschte durch die größeren Straßen.
Einige Augenblicke sahen sie sich nur an.
„Lass mich los!“, forderte sie.
„Ich habe dich etwas gefragt. Wer bist du?“, wollte Per wissen.
Seufzend gab sie „Copia“ zur Antwort.
„Warum bist du so schnell?“
„Ich bin es eben.“ Trotz schwang in ihrer Stimme mit.
Per empfand die Situation mehr als unbefriedigend. Sie war von seiner Art. Er war fest überzeugt davon.
Ein Hupen und Singen, vielleicht eher Grölen drang durch alle Poren der Stadt.
Er hielt die unbekannte Schöne fest, war sich ihrer Nähe voll bewusst.
„Nun?“
„Vielleicht solltest du mir erst einmal deinen Namen verraten.“
„Persolus“, antwortete er schlicht und lockerte seinen Griff ein wenig.
„Persolus also.“ Ihre Wut schien sich zu legen. „Bist du allein hier?“
Ja, ganz allein, wollte er sagen, brachte es aber nicht heraus. Seine Blicke strichen über ihr Gesicht, er hörte ihren Atem. „Copia“, flüsterte er und neigte seinen Mund zu ihr hinunter.
Für einen Moment war sie überrascht, dann streckte sie die Arme aus, um ihn von sich zu halten. „Nicht!“
Der Freudentaumel der bierselig Feiernden wogte näher heran. Per nahm ihn kaum wahr. Copia füllte seine Sinne. Doch seine Augen klärten sich, und er raunte ihr amüsiert zu: „Copia, ich denke, du bist so schnell.“
„Du bist auch nur ein Mensch, nichts anderes. Und ich dachte ...“
Mehr konnte Per plötzlich nicht mehr verstehen, eine Menge von Fans nahm sie in sich auf, drängte beide mit sich und schließlich auseinander. Per versuchte, Copia zu halten, rief ihr noch etwas zu, ein letztes Mal erhaschte er ihren blonden Schopf. Dann war sie seinen Blicken entrissen. Alles waberte schwarzgelb, es dröhnte nur noch „Booorussiaaa! Booorussiaaa!“ an sein Ohr und verstopfte seinen Gehörsinn.
„Copia!“
Doch sie verwehte in der Fülle einer freudetrunkenen Stadt.
Nächte- und tagelang suchte er sie. Vergeblich.
Irgendwann nahm er seine Zuflucht wieder beim Dortmunder U-Turm, seiner Konstante, seiner Heimat, und lauschte von dort in die Adern der Stadt, hoffte manchmal auf einen Windhauch, den allein er würde erkennen können.
Doch immer wieder durchkreuzte nur ein Ruf seine Gedanken:
„Deutscher Meister wird nur der BVB, nur der BVB, nur der BVB!“

© mb2012, 2. Version

Letzte Aktualisierung: 27.11.2012 - 10.55 Uhr
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