Der Cousin im Souterrain
Der Cousin im Souterrain
Der nach "Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten" zweite Streich der Dortmunder Autorinnengruppe "Undpunkt".
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Stadtleben | November 2012
G...stadt
von Reiner Pörschke

Ich drückte auf das Gaspedal, ich musste doch noch soviel an diesem letzten Urlaubstag besorgen. „Morgen geht das Hamsterrad in der Firma los, dann ist wieder keine Zeit mehr.“ Jetzt war ich auf der vierspurigen Ringstraße angelangt, aber halt, immer noch 50! Nicht von ungefähr waren hier die Starenkästen aufgestellt, um den leeren Stadtsäckel zu füllen. Also wieder runter vom Gas. Es war heiß an diesem Tag im August. Meine Gedanken flirrten wie Dunstschleier in der Hitze.

Autos vor und hinter mir, meist auf der linken Spur, offensichtlich hatten es viele eilig. Ich wechselte wieder nach rechts, hatte nun den Tunnelblick des Autofahrers.
Aber da, 100 Meter vor mir, was war denn das? Ein Kind, ein Junge, saß offensichtlich seelenruhig rechts auf dem Bordstein der Straße. „Was ist denn heute los? Verwechseln die nun schon die Bordsteine mit Parkbänken im Stadtpark? Man sollte denen auf die Füße fahren!“, grummelte ich vor mich hin.

Ich kam näher und sah den Jungen, vielleicht neun Jahre alt, genauer. Er weinte, hatte die Augen starr nach unten gerichtet. Weder sah er die vorbeihuschenden Autos, noch hörte er sie. „Mein Gott“, dachte ich, „das darf doch nicht wahr sein. Der nächste Laster fährt dem Kleinen tatsächlich über die Füße.“ Der Verkehr war mir egal, ich bremste und stellte den Wagen mit blinkenden Warnleuchten auf der rechten Spur ab.

Ich rannte zurück und zog den Kleinen vom Bordstein weg. Anschnauzen war zwar immer noch mein erster Gedanke, aber aus der Nähe sah ich die fleckigen Shorts und alten Sandalen, vor allem aber die Verzweiflung in seinem Gesicht.

„Was machst du hier, das ist gefährlich!“ Er sah mich kurz an, konnte aber nichts sagen. „Wo wohnst du?“ Weit weg konnte sein Zuhause nicht sein. Um mich herum sah ich G...stadt-West, eine Satellitenstadt, Hochhäuser, dichtbevölkert, durchbrochen von Durchgangsstraßen. Er fasste sich langsam und jammerte: „Ich kann nicht nach Hause.“ „Warum?“ „Mama hat mir die „Sesamstraße“ versprochen, ich hatte eine „2“ in Deutsch. Aber mein Vater will unbedingt Fußball gucken, 3. Liga! Er hat umgeschaltet und mir noch eine runtergehauen. Meine Schwester hat geheult, ich bin abgehauen.“

„Kann ich nicht bei dir „Sesamstraße“ gucken?“ Der Blick aus seinen Augen war eine einzige Frage. Ich stockte, überlegte schnell: „Bei mir geht es nicht, aber wir können zu Saturn.“ Mir war in diesem Moment egal, ob man mich später als Kindesentführer betrachten würde oder nicht, so leid tat mir der Kleine und so eine Wut hatte ich auf den Vater. Ich packte den Jungen ins Auto, wir fuhren auf den Kundenparkplatz von „Saturn“. Im oberen Stock des Ladens liefen die Fernseher für die Kunden, auf einem auch die Sesamstraße. Er hockte sich auf den Boden und schaute Ernie, Bert und ihren Freunden gebannt zu. Ich bald auch, wir mussten oft zusammen lachen. Und ich erinnerte mich an schöne Stunden, in denen ich mit meinem Söhnchen die Sesamstraße angeschaut hatte. Das lag lange zurück.

Immer wieder sah ich den Kleinen zwischendurch von der Seite an. Seine traurige Miene war verschwunden, die Augen strahlten und Heiterkeit lag auf seinem Gesicht. Eigentlich war er ein hübscher, aufgeweckter Junge. Ich gewann ihn langsam richtig lieb. Vielleicht lag das aber auch daran, dass mir ein Enkel bisher versagt geblieben war. Dieses Bürschchen wäre da schon der Richtige.

Die Sendung ging zu Ende. Wie aus einem Schlaf erwachte er und sah zu mir hoch. „Wie heißt du?“, fragte er. „Ich bin der Klaus und du?“ „Ich heiße Berkan.“ „Berkan? Nie gehört, den Namen kenne ich nicht.“ „Ist türkisch, wir sind aber schon lange hier.“

„Schön, ist ja auch egal! Berkan, ist dein Vorname, oder? Ich muss dich jetzt nach Hause bringen, deine Mama sucht dich bestimmt schon.“ „O.K., Jenaer Straße 24“, meinte er lakonisch. Wir fuhren los, Richtung G...stadt-West, ich hatte mich nicht geirrt. Die kräftige Nachmittagssonne mühte sich vergeblich, marode Vorstadtstraßen in ein freundlicheres Licht zu tauchen. Farbkleckse, die man den Hochhäusern in den 60-iger Jahren als Dekoration spendiert hatte, waren längst abgeblättert, das Grau der Wohnsilos ließ sich nicht mehr besiegen. Die Straßenreinigung mied die Gegend offensichtlich oder war überfordert. Überall konnte man überflüssigen Müll entdecken, wenn man wollte. Graffiti-Sprayer waren fleißig am Werk gewesen, vulgäre Zeichnungen und aggressive Botschaften hatten deren Hass auf dem Beton verewigt.

In der Jenaer Straße angekommen klingelten wir. Ein Mädchen öffnete. „Berkan, da bist du ja! Wir haben dich schon überall gesucht“, rief sie glücklich. „Komm rein! Wen hast du denn da mitgebracht?“ Ein Mann im Unterhemd kam jetzt hinzu, ohne groß den Blick vom Fernseher im Wohnzimmer zu wenden, auf dem immer noch das Spiel lief. „Weg da, Ayse!“, war das erste, was ich von ihm hörte. Ein stechender Blick traf mich, dann seinen Sohn, der schnell unter seinem Arm hindurch in die Wohnung rannte. „Ihr Sohn hat sich verlaufen!“, versuchte ich es höflich, „Sie sollten vielleicht etwas besser auf ihn aufpassen.“ „Ey, o.k. Alter, aber misch dich nicht ein, der kriegt seine Strafe. Und du kannst abhauen!“ Das war deutlich, hier war eine Diskussion sinnlos. Um nicht zu sagen unmöglich, denn er schlug mir die Tür vor der Nase zu. Ich hörte noch lautes Geschrei aus dem Innern der Wohnung, trat aber resignierend den Rückweg an.



*



„Kaufhaus Wunderland“, dass ich nicht lache. Ein Ramschladen ist das! Es gibt kaum noch einen Bäcker, einen Metzger schon lange nicht mehr. Brot, Fleisch und Wurst kennen die nicht im „Wunderland“. Das findet sich nur noch abgepackt unter Cellophan im Supermarkt auf der grünen Wiese. Und wie soll ich da als 80-Jährige hinkommen, mit meinem Rollator? Der gibt mir wenigstens Sicherheit, wenn ich wieder mal umknicke, außerdem kann ich mich ausruhen, wenn ich mich schlapp fühle. Falls ich etwas zum Kaufen finde, kann ich es in das Körbchen legen. Falls!! Denn eigentlich brauche ich nicht mehr viel, doch ich will nicht immer nur zu Hause hocken.

Wo sind die schicken Boutiquen hin? Na ja, eigentlich kann es mir egal sein. Spare Geld und Nerven, denn mittlerweile ist das Aus- und Anziehen für mich ziemlich anstrengend. Im Schrank habe ich auch genug. Und, wer kuckt mich überhaupt noch an? Wenn ich mir die Frauen hier betrachte, verstehen die sowieso nichts von Mode. Kopftücher haben wir früher bei der Arbeit getragen, aber nicht bei Spaziergängen wie diese jungen Dinger.

„Ey, Oma, aus’n Weg!“
Laut genug hat der Bengel ja gebrüllt, aber dies hier ist ein Gehsteig und wo soll ich mit meinem Wägelchen denn hin? Etwa auf die Straße?
Der Junge kommt in rasantem Tempo auf mich zugerollt. Sieht aus, als ob er Räder unter einem Bügelbrett hat. Mir wird heiß, ich habe keine Chance. Es reißt mich um, ich fliege aufs Pflaster. Dann wird mir schwarz vor Augen.

Als ich wieder zu mir komme, merke ich, dass mir ein großes Mädchen aufhelfen will. „Kannst du gehen?“, fragt sie mich. Ich blicke in braune Augen. „Helfe dir gern“, setzt sie hinzu. Ich rapple mich auf. Es ist offensichtlich noch mal gut gegangen, ich kann laufen. „Wo wohnst du?“ Das Mädchen packt mich resolut unter den Arm. „Jenaer Straße 142, da vorne, zweite Straße rechts“, stottere ich. „Ich geh mit dir, damit du nicht wieder umfällst!“ Sie bringt mich tatsächlich nach Hause. Wir kommen langsam ins Gespräch. „Papa, Mama und mein kleiner Bruder sind jetzt schon sechs Jahre hier. Wir kommen aus Anatolien, hier ist es aber viel schöner. Schöne Straßen und Geschäfte.“

Ich lade das Mädchen zu Hause auf einen Kaffee ein. „Außer dir habe ich keinen gesehen, der sich gerührt hat. Danke, dass du mir geholfen hast.“ „Schon gut, schon gut“, sagt sie, „wir können doch alle mal hinfallen, und danke für den Kaffee!“
„Moment mal, wie heißt du überhaupt?“ „Ayse.“

Reiner Pörschke 3. Version

Letzte Aktualisierung: 16.11.2012 - 15.36 Uhr
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