Der himmelblaue Schmengeling
Der himmelblaue Schmengeling
Glück ist für jeden etwas anderes. Unter der Herausgeberschaft von Katharina Joanowitsch versuchen unsere Autoren 33 Annäherungen an diesen schwierigen Begriff.
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Stadtleben | November 2012
Tina und der Bär
von Elmar Aweiawa

„Vierzig – Mannomann.“
Die Kälte kroch mir unter die Kleider, als ich die heruntergekommene Kneipe verließ. Nicht, dass es mir etwas ausgemacht hätte, meinen Geburtstag ohne Gäste zu feiern. Ich war es gewohnt, alleine zu sein.

Ich ging den üblichen Weg, am Fluss entlang bis zur Brücke. Eine knappe Viertelstunde, in der mein benebelter Kopf etwas ausdünsten konnte. Ich liebte diese stille, nächtliche Stadt.
Es war kalt, Ende November. Ein Monat, den ich nicht ausstehen konnte, denn es war November gewesen, als ich mit Karl Schluss gemacht hatte, und seitdem war nichts mehr wie vorher.

Kurz vor der Brücke registrierte ich, dass ich nicht mehr allein unterwegs war. Drei dunkle Gestalten in Leder liefen einige Schritte hinter mir her. Ihre hormongesättigten verbalen Absonderungen verrieten ihr Alter und einen nicht unerheblichen Alkoholabusus:
„Hey, Zuckerpüppchen, was geht ab?“
„Von wegen Zuckerpüppchen. Zieht Leine! Ihr Bubis müsstet doch sicher längst im Bett liegen.“
„Aber Herzchen, was soll der Frost. Bei uns kannste noch was lernen.“
„Von dir kann ich höchstens lernen, wie bescheuert Rotzbengel sich benehmen können. Brauchst dir aber keine Mühe zu geben, ich weiß es schon.“
Die drei umringten mich, sodass ich nicht ausweichen konnte. Spätestens als ich eine Hand auf meinem Hintern spürte, war klar, was sie wollten. Reflexartig zuckte meine Rechte hoch und traf den Kerl vor mir mit voller Wucht im Gesicht. Er torkelte zurück und ich rannte los. Immer am Fluss entlang zur Brücke. Wenn ich es bis dort hin schaffte, hatte ich eine Chance.
Meine Hand tat verdammt weh, ich hatte ordentlich zugelangt. Der verfluchte Kerl konnte seine Zähne im Kiesbett suchen!

Kurz vor der Brücke fingen sie mich ab. Meinen Schrei erstickten sie mit ihren stinkenden Händen, dann waren sie über mir. Gegen die rohe Gewalt hatte ich keine Chance. Meine Bluse zerriss unter ihren Händen, ekliger Bierdunst und Schweiß verursachten mir Brechreiz. Ich war verloren.
In diesem Augenblick hörte ich ein Geräusch. Es klang wie Glas auf Stein.

„Wem von euch soll ich zuerst die Visage verzieren? Stellt euch in einer Reihe auf, jeder kommt mal dran.“
Ein großer, breitschultriger Mann im Lodenmantel kam auf uns zu. Vor sich her schwang er eine Flasche, deren Boden fehlte, sodass die Zacken herrlich gefährlich aussahen.
Die Angreifer ließen sich ablenken, und mit einer letzten Anstrengung gelang es mir, mich zu befreien. Ich rannte los und versteckte mich hinter meinem Helfer.

„Hey du Penner! Willste Stress? Rück die Michfabrik raus, sons kriegsten Mördereinlauf. Voll geistig unbewaffnet, der Wicher!“
„Pass auf Kleiner, ich will keinen Ärger. Weder mit den Bullen noch mit den Sanis, die euch abholen kommen, wenn ich euch meine Unterschrift ins Gesicht und auf den Schwanz gemalt hab.“
Der Mann sprach zwar derb, doch überlegt und ruhig, sodass ich Hoffnung fasste. Er stand wie ein Felsen zwischen mir und dem Abschaum. Als er einen Ausfallschritt in ihre Richtung machte, sprangen sie erschrocken zurück und krochen wie Maden davon, worüber mein Retter in lautes Lachen ausbrach.
„Macht, dass ihr heimkommt, ihr Muttersöhnchen!“, rief er ihnen nach.
„Wart nur, du Hasenhirn, wenn wir dich erwischen, dann biste höllisch angepisst. Wir machen Hundefutter aus dir! Die Tussi erwischen wir sowieso noch. Scheißkerl von einem Asi! Spasti!“, dann waren sie verschwunden.
„Feiglinge, was sonst! Zu gerne hätte ich erlebt, wie sie mich angreifen, die Scheinriesen.“
Meine Beine zitterten. Ich torkelte auf den fremden Mann zu, und er griff mir gerade noch rechtzeitig unter die Arme.
„Danke, du hast mir das Leben gerettet.“ Mehr als ein Flüstern brachte ich nicht hervor.
„Ich hab deinen Schrei gehört.“
„Ein Glück, dass du in der Nähe warst. So mitten in der Nacht.“
Es beruhigte mich, mit ihm zu reden.
„Ist jedenfalls kein Zufall, ich wohne hier.“
„Was heißt das, du wohnst hier? Hier sind doch keine Häuser.“
„Häuser nicht“, lachte er. „Aber unter der Brücke hat man wenigstens ein Dach über dem Kopf.“
„Und da lebst du ganz alleine?“
„Nein, zusammen mit Manni. Wir passen aufeinander auf.“

Immer noch stand ich an ihn gelehnt, doch da das Zittern nachgelassen hatte, trat ich einen Schritt zurück.
„Wie heißt du eigentlich? Mein Name ist Tina.“
„Man nennt mich Olaf, den Bär. In meinen Kreisen jedenfalls. Wie ist es, kann ich dich allein lassen?“
Die Vorstellung, jetzt ohne Begleitung durch die Stadt nach Hause zu gehen, löste Panik aus.
„Wenn es dir nichts ausmacht … könntest du mich noch bis zu mir bringen? Ich habe Angst, dass die mir irgendwo auflauern.“
„Hm, wie weit ist es?“
„Etwa zehn Minuten.“
„Gut, das lässt sich einrichten.“

Mit Pennbrüdern kannte ich mich nicht aus, doch unbewusst verband ich mit ihnen ein gewisses Maß an Schmuddeligkeit und mangelnde Hygiene. Doch dieses Vorurteil musste ich revidieren, denn Olaf entsprach ihm in keiner Weise.
Ohne Bedenken hakte ich mich bei ihm unter und wir gingen am Fluss entlang. Immer wieder schaute ich mich um, doch es war niemand zu sehen. Erst jetzt realisierte ich die ganze Tragweite des eben Erlebten.

Eigentlich mochte ich Männer nicht. Nicht mehr. Seit damals. Aber Olaf konnte ich gut neben mir ertragen. Bei ihm fühlte ich mich sicher. Sachte schob ich meine Hand in seine.
Er hatte eine große Pranke, meine kleine Hand verschwand fast völlig darin. Zärtlich hielt er sie, trug sie vorsichtig wie ein rohes Ei.
Verstohlen musterte ich ihn. Schwer zu schätzen, wie alt er war. Sein Gesicht versteckte er hinter einem struppigen Bart, und die wild nach allen Seiten abstehenden grauen Haare halfen, sein Alter zu verschleiern.

„Olaf“, begann ich ein Gespräch, „wie kommt es, dass du auf der Straße lebst? Deine Sprache klingt so gebildet.“
„Das hat mit Bildung nichts zu tun, wir haben sogar einen Diplom-Mathematiker unter uns. Ich war Abteilungsleiter in einer IT-Firma. Bis meine Frau gestorben ist.“
Seine Worte machten mich nachdenklich, und schweigend gingen wir eine Weile nebeneinander her. Sein Schicksal beschäftigte mich. Auch ich hatte einen Menschen verloren. Anders, und dennoch … ich wollte es wissen.
„Und, bist du glücklich unter deiner Brücke?“
„Du kannst fragen! Es geht nicht ums Glücklichsein, sondern darum, das Leben auszuhalten. Bist du denn glücklich?“

Nein, das war ich nicht. Definitiv nicht. Seit ich mich von Karl getrennt hatte, schmeckte jeder Schluck Leben nach Essig. Er war die Liebe meines Lebens gewesen. Und ich für Karl. Dachte ich. Bis meine Freundin Lissy …
„Du hast recht. Darauf kommt es nicht an. Du bist wenigstens nicht allein.“
„Je mehr Menschen man um sich hat, desto einsamer kann man sein. Städte produzieren Einsamkeit.“
Darüber musste ich nachdenken. So schwiegen wir ein Weilchen, denn Olaf schien kein Mann vieler Worte zu sein.

„Du Olaf, ich habe heute Geburtstag“, nahm ich das Gespräch wieder auf.
„Na, dann gratuliere ich ganz herzlich. Und ausgerechnet an diesem Tag haben die Schweine dich überfallen!“
„Städte produzieren nicht nur Einsamkeit, sondern auch solche verwahrlosten Jungs, denen Gewalt eine Droge ist, und die für ihren Kick das Lebensglück anderer Menschen opfern, als sei es eine kleine Münze.“ Das hatte ich auch schon vorher gewusst, doch heute war es mir überdeutlich vor Augen geführt worden.
„Für dieses Gesindel hab ich kein Verständnis. Und meine Freunde auch nicht.“

Wieder schwiegen wir gemeinsam, und ich dachte darüber nach, wie seelenverwandt wir offensichtlich waren. Fremde, und doch gingen wir liebevoll miteinander um. Himmel und Hölle lagen auf Erden dicht beieinander, wenn ich an ihn und die üblen Kerle von eben dachte.

Seit Jahren hatte ich dem Umgang mit Männern abgeschworen. Doch Olaf war anders. Und ich wollte jetzt nicht alleine sein. Mir graute vor der leeren Wohnung.
„Da vorne ist es, wir sind gleich da. Hast du Lust, noch ein wenig mit mir zu feiern? Ein Glas Wein vielleicht? Ich habe einen Barolo gekauft, den wollte ich eigentlich alleine trinken, aber jetzt …“
„Siehst du, Tina, eine der typischen Eigenschaften von Stadtbewohnern habe ich abgelegt: Keine Zeit zu haben! Ich habe immer Zeit, und Lust auch. Barolo ist nur noch eine Erinnerung. Ist ewig her, dass ich so etwas getrunken habe.“

Also gab es doch noch ein Geburtstagsfest. Das erste … seit Jahren.

© by aweiawa, 2012

Version 3

Letzte Aktualisierung: 16.11.2012 - 20.12 Uhr
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