Madrigal für einen Mörder
Madrigal für einen Mörder
Ein Krimi muss nicht immer mit Erscheinen des Kommissars am Tatort beginnen. Dass es auch anders geht beweisen die Autoren mit ihren Kurzkrimis in diesem Buch.
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Stadtleben | November 2012
Özlem hat was auf dem Herzen
von Karin Hübener

Es war noch in der Vor-Handy-Zeit. Heute glaube ich, dass dies für Özlem und mich ein Glück war.

Die Glocke hatte den Schulschluss verkündet. Außer Özlem waren bereits alle Kinder in die Freiheit gestürmt. Ich saß entspannt am Pult und vervollständigte die Eintragungen im Klassenbuch. Vor den Fenstern standen herbstbunte Bäume. Gleich würde ich nach Hause fahren und meine Siesta halten. Wunderbar.
Özlem schritt in ihrer bedächtigen Art von Tisch zu Tisch und sammelte die Zeitungen ein. Wir benötigten die Exemplare der Lipper-Nachrichten noch für eine Presse-Rallye.
Meine Schüler waren am Lokalteil und an den Sportseiten interessiert gewesen. Doch dann hatten sie sich an einem Bericht über Kindesmissbrauch festgebissen. Ein Reitlehrer hatte über Jahre hinweg kleine Mädchen sexuell genötigt. Das empörte die Sechstklässler. Durch ihre Fragen war der Unterricht anders verlaufen, als geplant. Aber so ergaben sich oft die besten Stunden.
"Lass doch die Zeitungen!", riet ich Özlem. "Du wirst noch den Schulbus verpassen."
"Is egal."
Das klang so gleichgültig. Verwundert schaute ich zu ihr hinüber. Aber äußerlich war ihr nichts anzumerken. Ruhig ging sie weiter ihrer Arbeit nach.

Özlem war klein geraten. Und auch ein wenig stämmig. Sie hatte schöne, dunkle Augen und wunderbar langes, glänzendes Haar. Leider hielt sie es seit ihrem letzten Geburtstag unter einem Kopftuch verborgen. Das betonte unvorteilhaft ihre markante Nase.
Zum Thema Kopftuch hatte sie mir unter vier Augen erklärt: "W.weißt du, F.frau W.eber, bei uns is das s.so: W.enn eine F.frau mit offenen Haaren st.irbt und damit v.vor Gott tritt, dann verw.andeln s.sich ihre Haare in Sch.langen. D.das ist v.oll ekelig."
Was sagt man dazu als Lehrerin?
"Aber dein Gott hätte dir doch gar nicht erst solch schöne Haare geschenkt, wenn er sich nicht selbst daran erfreuen wollte."
"T.tut er auch. A.aber nur, w.wenn ich zu Hause bin."
Monate später konnte eine türkische Kollegin Özlem die Angst vor Schlangenhaaren nehmen.

Leise war sie zu mir ans Pult getreten. Ich blickte lächelnd zu ihr auf. Aber ihr erwachsener Blick lächelte nicht zurück.
"K.kann m.man auch s.seinen eigenen B.bruder anzeigen?", fragte sie mit wohlklingender Stimme.
Stille.
Mein Lächeln sackte in sich zusammen. Gedanken an den Feierabend gab es nicht mehr. Der Stift fiel auf die gebogene Seite des Klassenbuchs und rollte von dort ein Stück über die Schreibfläche des Pultes.
"Natürlich kann man auch den eigenen Bruder anzeigen", hörte ich mich antworten. "Niemand hat das Recht, dich gegen deinen Willen zu berühren. Kein einziger Mensch auf der ganzen Welt."
Özlem wirkte erleichtert. Sie wollte sich nicht setzen. Stand lieber. Jetzt, wo sie zum Widerstand entschlossen war.
Tausend Ängste und Vorurteile überschlugen sich in meinem Kopf. Ich dachte zum Beispiel daran, dass die Jungfräulichkeit in Teilen des Islam mehr galt als die Menschenwürde der Frau, dachte an die Verbringung unbequemer Töchter von Deutschland in die Türkei oder auch an diese schrecklichen Töchtermorde.
Erst Jahre später verlor ich nach weiteren Erfahrungen meine Naivität. Zwang, Erpressung, Gewalt und Inzest, das alles gab es in christlichen Familien genauso gut.
"Er k.kommt dazu in m.mein Z.immer", begann Özlem zu berichten. Ich staunte über ihren Mut.
"D.dann m.uss ich mich über den T.isch beugen und und er f.fummelt an m.meiner Hose und, und, und ...."
Am liebsten hätte ich sie jetzt umarmt. Aber durfte ich das? Ich war unsicher. Letztlich siegte mein Respekt über meinen Mutterinstinkt. So streifte ich nur anerkennend ihre Schulter.
"W.wenn er dann, also w.wenn er dann f.fertig ist - ". Hier unterbrach sie sich und kniff die Augen zusammen. Dann schüttelte sie sich, als habe sie ein gut gefülltes Glas Schnaps hinuntergekippt.
"D.danach f.fängt er immer an zu h.eulen. Es t.tut ihm l.leid und er schw.ört, es n.ie w.ieder zu t.tun."
"Wie alt ist dein Bruder?"
"Neunzehn."
Erst kürzlich hatten wir in der Klasse Özlems dreizehnten Geburtstag gefeiert.
"Und wie lange geht das schon?"
"S.sehr l.lange."
"Hat deine Familie noch nichts gemerkt?"
Schweigen.
"Deine Mutter?"
Kopfnicken.
"Und?"
"Sie s.sagt, ich muss d.das aus.halten, w.weil mein Vater s.sonst meinen Br.uder t.totschlägt."
"Aber mit dir darf man alles machen, ja?"
Özlem lächelte. Dabei erinnerte sie mich an die Mona Lisa.
Was war zu tun? Noch nie hatte ich mich in einer solchen Situation befunden.
Sabine! Sie war meine Rettung. Unsere Schulsekretärin stand wie ein Engel über allen Problemen.
Auf dem Weg durchs leere Treppenhaus grüßten wir eine einsame Putzfrau. In der Eingangshalle wimmelte es sonst von Leben. Heute war alles wie ausgestorben. Selbst im Verwaltungstrakt herrschte Totenstille. Langsam wurde es mir unheimlich. Als ich hoffnungsfroh ins Sekretariät rauschte, fand ich Sabines Platz verwaist. Auch der Chef war nicht mehr da. Ausgerechnet heute hatten alle Kollegen zeitig das Weite gesucht.
Nun stand ich hier am Bürotresen allein mit meiner Schülerin und einer Verantwortung, die mich ängstigte.
"Wir werden Frau Atalay anrufen!", entschied ich. Özlem nickte zustimmend. Frau Atalay war eine engagierte Sozialarbeiterin der Stadt. Sie kannte sich bestens in den Familien ihrer Landsleute aus. Aber leider ging sie nicht ans Telefon. Auch beim Jugendamt meldete sich niemand.
"Die sind jetzt wohl alle schon unterwegs oder noch in der Kantine", erklärte mir die Zentrale im Rathaus.
Heutzutage hätte ich versucht, Frau Atalay über das Handy zu erreichen. Vielleicht hätte sie dann die Polizei eingeschaltet und alles wäre offiziell geworden. Inzwischen weiß ich von Beratungsstellen, dass dies nicht immer der beste Ausweg für die Betroffenen ist.
"Wir rufen jetzt deine Mutter an, damit sie sich keine Sorgen macht. Anschließend fahren wir beide erst einmal zu mir nach Hause und halten Mittagspause", entschied ich.
"L.lassen Sie m.ich reden. M.eine Mutter versteht w.wenig Deutsch."
Bedächtig wählte Özlem die Nummer. Ich bewunderte dieses Kind.
Nach den ersten Worten hörte ich eine panische Stimme aus dem Hörer kreischen. Özlem reichte mir das Telefon.
"Meine Tochter sofort bringen!"
"Ich möchte zuerst Ihren Mann sprechen."
"Mann nix da."
"Dann rufe ich später wieder an."
"Bitte meine Tochter bringen! Mann sonst schlägt Sohn tot."
"Dann gehe ich jetzt mit Ihrer Tochter zum Jugendamt."
"Nein, nein. Nix. Bitte."
"Gut, dann denken Sie erst einmal nach. Inzwischen nehme ich Özlem mit nach Hause. Von dort aus melden wir uns wieder bei Ihnen."
Das Geschrei verstummte wohltuend, als ich den Hörer auflegte.
Wie selbstverständlich nahm Özlem auf dem Beifahrersitz Platz. Wir fuhren zuerst durch die Zechensiedlung, die unsere Schule umgab. Einstöckige Mehrfamilienhäuser mit Balkonen und viel Grün drum herum. Dazwischen immer wieder Spielplätze. Auf dem Weg zur Innenstadt kamen wir an dem Hochhaus vorbei, in dem Özlems Familie wohnte. Ich kannte es von Besuchen bei verschiedenen Eltern: Acht Stockwerke, ein Fahrstuhl, in dem es nach Urin stank und der selten funktionierte, Glasscherben im Treppenhaus und vollgeschmierte Wände. Auf jeder Etage eine zugige Galerie, von der aus man in die überfüllten Wohnungen gelangte.
Wir taten beide so, als ob wir das Haus nicht bemerkten.
Beim Rathaus hätte ich halten können. Aber nun wollte ich nicht mehr zum Amt. Es folgte ein Supermarkt, ein Einkaufszentrum, der Busbahnhof, zwei Parkhäuser und schräg gegenüber der berüchtigte Citytower, der von der Kommune die Aufmerksamkeit eines ganzes Stadtteils verlangte. Jahre später sollte dort ein vergewaltigter Junge aus dem 18.Stock geworfen werden.
Allmählich wurden die Straßenzüge wieder freundlicher. Endlich hielten wir vor dem üppigen Grün unseres Vorgartens.
Es roch nach Hühnersuppe, aber Özlem und ich spürten keinen Hunger. Entspannt saßen wir am Esszimmertisch mit wärmenden Teebechern in den Händen. Durchs Fenster schien ein wenig Sonne. Draußen gab es hohe Bäume, buntes Gesträuch und einen grünen Hang.
"Es ist sch.ön hier. V.viel Platz und so st.ill", sagte Özlem. Da schämte ich mich.
"Das m.macht er schon, seit ich k.lein bin", nahm sie unvermittelt ihre Erzählung von der Schule wieder auf. "Eines T.tages hat er m.mich im Kinderbett aufged.eckt. Ich h.habe die Augen zusammengek.niffen und getan, als ob ich schl.iefe. Zuerst hat er n.nur geguckt. Später mich dann bet.ascht." Sie verzog das Gesicht und schüttelte sich wieder.
"Er muss unbedingt raus aus eurer Wohnung", sagte ich.
"A.aber wohin?", frug sie. "S.seit seiner K..krankheit kann er schl.echt l.aufen und wir haben w.wenig G.geld."
Oh Gott!
"Arbeitet er nicht in einer betreuten Werkstatt?"
"D.davor sch.ämt er sich."
Welch verkehrte Welt!
Nach dem Tee war es Zeit für den Anruf. Das erwartete Gekeife blieb aus. Stattdessen glaubte ich, eine Männerstimme zu erkennen. Özlems besorgter Blick hellte sich auf. Schließlich leuchteten ihre Augen. Dann überreichte sie mir den Hörer.
"Du Lehrerin?", fragte Özlems Vater. "Bring Tochter zur Tante. Bitte. Ist meine Schwester. Nur für erstmal."
"Was sagt Ihre Frau dazu?"
"Schämt sich. Meinte gut. Aber ist schlimm. Ganz schlimm. Habe Frau geschimpft."
"Und Ihr Sohn? Haben Sie mit dem auch geschimpft?"
Zögern am anderen Ende.
"Später. Kann nicht mit reden. Zu schwer."
"Wo wird er bleiben?"
"Suche bei Freunden."
"Und Özlem?"
Wieder ein Zögern.
"Özlem ist gute Tochter."
Na also.
"Er h.hat nicht ge.schlagen." Özlem war erleichtert. "M.meine M.mutter hat g.ganz ums.onst A.angst g.gehabt."

Zu Weihnachten schenkte mir Özlem ein selbst gesticktes Bild: Ein Küken in gelbem Kreuzstich. Es wirkt verletzt und sieht doch so rührend stolz aus. Bis heute hängt es über meiner Wäschekommode.

Letzte Aktualisierung: 21.11.2012 - 20.04 Uhr
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