Das alte Buch Mamsell
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Peggy Wehmeier zeigt in diesem Buch, dass Märchen für kleine und große Leute interessant sein können - und dass sich auch schwere Inhalte wie der Tod für Kinder verstehbar machen lassen.
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Stadtleben | November 2012
Gesundheitscheck
von Angie Pfeiffer

Hartriegel erwachte durch ein unbestimmtes Grummeln in seinen Innereien. Seufzend gestand er sich ein, dass die jährliche Diagnose schon lange fällig war. Erneut grummelte es, dieses Mal so heftig, dass der geplagte Hartriegel es nicht mehr ignorieren konnte. Erneut seufzend brachte er sich mit einem leichten Knopfdruck von der senkrechten Schwebeschlafposition in Aufwachstellung. Während er sich, den Hintern kratzend, in Richtung der Nasszelle bewegte, erkannte er an den gewohnten Geräuschen, dass auch seine derzeitige Gefährtin aufgewacht war.
„Morgendliche Grüße, Hartie.“
Er murmelte einen Morgengruß, während er darüber sinnierte, ob die gemeinsame Zeit abgelaufen war. In den letzten Dekaden ging ihm Lihoba mehr und mehr auf die Nerven. Vielleicht sollte er sie gegen ein Exemplar der neueren Generation ersetzen. Die neuen Begleitrobotinnen wurden im Netz verstärkt angepriesen und schienen einfach alle Lebensbereiche abzudecken, was bei der alten Version nicht der Fall war. Nun, das konnte er in Ruhe entscheiden, jetzt würde er sich den wichtigeren Dingen widmen.
„Ich denke, ich werde eine Diagnose machen lassen“, verkündete er beim Vitaminfrühstück.
„Das ist eine gute Idee, mein Lieber“, wie üblich lächelte Lihoba zustimmend, doch heute erinnerte ihn ihr Gesichtsausdruck an die Zeichnungen des vor Urzeiten ausgestobenen Carcharodon Carcharias. Ihre Zeit schien wirklich abgelaufen zu sein.
Eilig würgte Hartriegel seinen Energiedrink hinunter. „Ich will dann mal los!“

Vor der Wohneinheit erfasste ihn die übliche Sturmböe. Nun, er konnte sich glücklich schätzen, an einem geschützten Ort zu leben. Durch den hohen, die Stadt komplett umgebenden Damm war das Wetter erträglich. Das die Bewohner ihre Stadt nicht verlassen konnten, nahm man hin, vermisste eigentlich nichts. Human City bot Schutz, Nahrung und ein gewisses Mass an Unterhaltung. Die wenigen Menschen, die es, starrsinnig wie sie waren, außerhalb der schützenden Mauern aushielten, schienen nicht viel mit einem zivilisierten Humanoiden gemein zu haben. Dem unsagbaren Wetter ausgeliefert ähnelten sie eher Tieren, das wurde nur zu oft im Netz propagiert. Hartriegel hatte sich im Bildungsbereich genau über die, in grauer Vorzeit durch eine gewisse Unachtsamkeit ausgelöste Umweltkatastrophe informiert. Hier erfuhr er, dass sie nicht mehr rückgängig zu machen war, doch man hatte gelernt damit umzugehen, zumindest in der größten Stadt des Planeten.

Das Sammeltaxi brachte Hartriegel direkt bis vor die Tür des Diagnosetowers. Hier begrüßte ihn die allseits beliebte Empfangsmaschine.
„Gesunde Grüße“, schnarrte sie. „Womit kann ich helfen.“
Hartriegel verzog das Gesicht. Er bevorzugte Empfangsmaschinen, die ihn annähernd an seine Spezies erinnerten, was hier nicht der Fall war. Trotzdem bemühte er sich um einen freundlichen Tonfall. „Ich hätte gerne einen Rundumcheck.“
Die Maschine schwieg für einen Moment und taxierte ihn mit ihren Sensoren. „Das würde in Deinem Fall 750 Einheiten kosten, dieses Angebot beinhaltet ein persönliches Gespräch mit Herrn Doktor Schmunck. Die kleine Diagnose, ohne persönliche Beratung, kann ich für 400 Einheiten anbieten.“
„Was?“, Hartriegels Magen und Darmtrakt kam in Wallung und auch in seinem Gemüt fing es an gewaltig zu grummeln. „Die letzte Komplettdiagnose habe ich noch für 500 Einheiten bekommen, allerdings ohne Gespräche. Ich habe nicht vor, das Gesundheitssystem zu sanieren. Ich will nur einen Check!“
Die Maschine schien ihn erneut zu taxieren. „Ich habe nicht verstanden. Bitte wiederholen: Wünschst Du die komplette Diagnose für 750 Einheiten, inclusive eines persönlichen Gespräches mit Herrn Doktor Schmunck, oder die kleine Diagnose für 400 Einheiten?“
Hartriegel war kurz davor, in Unruhe zu verfallen, was ihn einigermaßen verblüffte. Hatte er vergessen, seinem Frühstück die Glücklichmacher hinzuzufügen? Das konnte er sich nicht vorstellen, denn bisher hatte er die Riegel routinemäßig in seinem Energiedrink aufgelöst und so immer zu sich genommen. Schließlich war die Einnahme dieses Medikamentes eine Grundbedingung für das Leben in Human City. Jeder, der sich dem entzog, wurde früher oder später aussortiert, verschwand auf nimmer Wiedersehen im Chaos hinter dem Schutzdamm.
„Ich wünsche die große Diagnose für 750 Einheiten“, sagte er laut und deutlich, seine merkwürdigen Gefühlswallungen mit aller Macht unterdrückend. Insgeheim nahm er sich vor, sofort nach dem Heimkommen zur Sicherheit noch einen Glücksriegel zu sich zu nehmen.
Die Empfangsmaschine schnarrte. „Ich wiederhole: eine komplette Diagnose. 750 Einheiten, sofort nach dem Einloggen zu entrichten. Begib Dich bitte in Einheit 7.“
Wie üblich entpuppte sich die Einheit als ein steriler Raum, dessen gesamte Rückwand von der Diagnosemaschine eingenommen wurde.
„Gesunde Grüße“, begrüßte sie den eintretenden Patienten. „Bitte den Andockpunkt frei machen. Anschließend wirst Du in den Schwebeschlaf versetzt, während die Diagnose erstellt wird. 750 Einheiten werden automatisch von Deinem Konto abgebucht. Nach dem Aufwachen wird Herr Doktor Schmunck ein persönliches Gespräch mit Dir führen. Es besteht kein Grund zur Beunruhigung, entspanne Dich.“
Während Hartriegel seinen Overall seitlich öffnete, um die steckdosenartige Andockstelle in seiner Hüfte freizumachen, versuchte er sich weiter zu entspannen, was nur bedingt gelang. Die Maschine schien seine Unruhe zu bemerken, denn während sich ihre Tentakel leise surrend auf ihn zuschlängelten, wiederholte sie den letzten Satz. „Es besteht kein Grund zur Beunruhigung, entspanne Dich.“

Hartriegel erwachte mit laut klopfendem Herzen. Ein schwarz gekleidetes Wesen stand vor ihm und schaute ihn freundlich an. „Da ist unser Patient ja wieder“, tönte es mit jovialer Stimme. „Ich bin Doktor Schmunck. Wie fühlen Sie sich?“
Prüfend schaute der Angesprochene sich um. Er befand sich in einer Einheit, die sich nicht wesentlich von Nummer 7 unterschied. Oder war dies gar die Einheit 7 und die Diagnosemaschine hatte sich auf wunderliche Weise in die Wand zurückgezogen?
„Ich fühle mich gut“, erwiderte er vorsichtig. „Es grummelt nicht mehr in meinem Inneren.“
„Nun, das Grummeln ist nicht das Problem“, begann Dr. Schmunck, immer noch sehr liebenswürdig. „Es handelte sich um ein altersbedingtes Unwohlsein. Damit könnten Sie leben, mein Bester. Etwas anderes macht uns große Sorgen“, hier zögerte der Doktor einen Moment, räusperte sich. Sein Gesicht bekam einen verknautscht-traurigen Ausdruck. „Wir haben festgestellt, dass Sie es versäumt haben, sich die nötige Dosis des im Volksmund als Glücklichmacher bekannten Medikamentes zuzuführen. Das ist sehr bedenklich, denn dadurch ist es zu Unregelmäßigkeiten gekommen. Sie reagieren über, haben zu viele Aggressionsstoffe produziert und sind somit für unsere Gesellschaft nicht mehr tragbar.“ Hier verstummte der gute Doktor.
„Aber, aber.“, Hartriegel schluckte krampfhaft. Alle Horrorgeschichten über Amokläufe in den dunklen Zeiten fielen ihm mit einem Schlag ein. Sollte er tatsächlich, ohne es zu wollen, zu einem solchen Aggressor mutieren? Er fasste sich an den Magen, konnte jedoch nichts fühlen. Hartriegel hob die Hand. Er fühlte, dass er die Hand hob, doch er sah sie nicht. Genau so ging es ihm mit seinen Beinen. Sein Körper schien sich in Luft aufgelöst haben.
Fassungslos schaute er den Doktor an, der ihm plötzlich seltsam unwirklich vorkam. Doktor Schmunck schüttelte begütigend den Kopf. „Wie Sie gerade bemerken, sind wir gezwungen gewesen, Sie erst einmal stillzulegen. Ihr Bewusstsein befindet sich zurzeit in einem Genpool, bis wir beschlossen haben, wie wir weiter mit Ihnen verfahren. Das kann einige Zeit in Anspruch nehmen.“ Die Silhouette Doktor Schmuncks wurde zunächst undeutlich, löste sich schließlich in einem flockigen Nebelschwaden auf. Gleichzeitig fing es in Hartriegels Eingeweiden an zu rumoren.

„Heuri, Hallo und friedvolle Grüße. Hier ist euer Muntermacher, Human Netzradio, mit einer brandaktuellen Meldung: Wieder sind einige wenige Humanoiden aufgegriffen worden, die versuchten, den Frieden in unserer schönen Stadt zu stören. Doch durch die Achtsamkeit unserer Mitbürger sind die asozialen Elemente schnell ausfindig gemacht worden. Nach einer angemessenen Läuterung bekommen auch diese Störenfriede eine neue Chance. Nun zum Wetter...“
Hartriegel erwachte durch die unerträglich muntere Stimme des Moderators und ein unbestimmtes Grummeln in seinen Innereien, ein Grummeln, das er einfach nicht ignorieren konnte. Entschlossen brachte er sich in die Aufwachstellung und während er sich, den Hintern kratzend, in Richtung der Nasszelle bewegte, beschloss er, auf keinen Fall und niemals wieder einen Gesundheitscheck machen zu lassen, denn manchmal werden Träume wahr.

Letzte Aktualisierung: 05.11.2012 - 20.27 Uhr
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