Ein Tag wie jeder lag hinter ihm. Ein Abend wie jeder vor ihm.
In einer der üblichen zwei Kneipen. Er saß am Tresen und sah in die blutunterlaufenen Augen des Wirts. Harry.
Ein Versager.
Wer nichts wird, wird Wirt. Wie so viele dieser beschissenen Lebensweisheiten schien auch diese tatsächlich einen wahren Kern zu haben. Und der stand gerade vor ihm. Die fettigen Haare zum Scheitel gekämmt, die schiefe Nickelbrille inmitten der aufgedunsenen Visage und das typische grenzdebile Grinsen, mit dem er auf gute Laune machen wollte. Obwohl ihm jeder seine kümmerliche Lebensgeschichte an der roten Alkoholikerknolle, die mal so etwas wie eine Nase gewesen war, sofort ansah.
„Hefe.“
Kein Platz für viele Worte. Und auch kein Bedarf.
Harry servierte das trübe Gold im klassischen Weizenglas. Ebenfalls ohne Worte.
Er zündete sich eine Zigarette an.
Seit Harrys Frau Ende der Neunziger ihre Sachen gepackt hatte und abgehauen war, den struppigen Köter hatte sie gleich mitgenommen, waren Harry seine Sprüche und Prahlereien in der versoffenen Kehle stecken geblieben. Zum Glück.
Versager.
„Noch eins.“
Harry servierte. Sein Zippo entzündete die nächste Zigarette.
Die Tür zur Toilette flog auf. Till stolperte heraus mit Kotze auf dem Hemd. Schon wieder. Versoffenes Arschloch.
Harry ging putzen. Immerhin musste er das hier nicht tun. Seit beinahe dreißig Jahren war er der Hausmeister in einer der angesagten Discotheken der Stadt.
Er war ein „bekanntes Gesicht“. Die alte abgetragene Lederjacke so was wie sein Markenzeichen. Zweifelhafter Ruhm.
Generationen von feiernden Jugendlichen hatte er kommen und gehen sehen. Hinterlassen hatten sie alle dasselbe.
Kippenstummel, Glasscherben und Kotze.
Gelegentlich ein paar leere Plastiktütchen mit Pulverresten oder benutzte Kondome im Klo.
Scheiß Jugendliche.
„Mach mal noch eins.“
Auf dem Weg zur Toilette schwankte er leicht. Eine weitere Zigarette.
Neben ihm ließ sich einer der alten Bekannten nieder. Thomas. Nietenjacke und rasierter Punkschädel. Typisch für diese Generation. Große Klappe, provokant, ständig besoffen, kein Job, aber Schuld waren die Anderen. Er nur ein armes Opfer der Gesellschaft.
Arschloch!
Er hob sein leeres Glas Richtung Harry.
Kommunikation geglückt. Wieder voll.
Die Toilettentür quietschte beim Öffnen. Der Strahl leicht daneben.
„Leer!“ Wieder voll. Zigarette.
Alkfahne und sinnloses Gestammel von rechts.
„Mach ma.“
Voll. Zigarette.
Rauchwolke und Beschimpfung von rechts.
Aufeinanderprallen von Knöcheln und Nasenbein. Dumpfes Klatschen. Blut.
Harry schrie jetzt, wie damals, als seine Frau gegangen war.
Kühle Luft. Hartes Pflaster. Stechender Schmerz in der Hand.
Das Gehen war anstrengend geworden.
Stufen vor der Tür. Schlüssel im Schloss. Bett.
Der Traum begann wie immer.
Er lief durch die überfüllten Straßen der Stadt, ließ sich treiben und blickte in die Gesichter der entgegenkommenden Menschen.
Er sah gestresste Gesichter, grimmige Gesichter, wütende Gesichter.
Wurde angerempelt und rempelte an. Wurde beleidigt und beleidigte.
Er schwamm durch den Strom der Leiber, schob sich voran, kämpfte sich durch ihn hindurch. Doch die Menschenmasse wurde dichter und dichter, nahm ihm den Atem und drohte ihn zu ersticken. Verzweifelt versuchte er sich freizukämpfen. Schlug in Gesichter, trat gegen Schienbeine, rammte sein Knie in Unterleiber. Doch der Kampf war aussichtslos. Über jeden zu Boden gesackten Körper schoben sich zwei weitere, stießen auf ihn, bedrängten ihn, erdrückten ihn.
Da plötzlich ertönte der Schlag einer Glocke. Wie auf Kommando löste sich die Menge um ihn herum auf. Als er verwirrt und orientierungslos stehen blieb, blickte er direkt vor sich in eine verspiegelte Fensterfront. Seine eigene geschundene und abgekämpfte Gestalt stand vor ihm und sah ihn an.
Schreiend rannte er los und durchbrach den Spiegel. Messerscharfe Splitter erfüllten die Luft um ihn herum.
Und er fiel.
Er fiel lang und tief.
Der Aufschlag war hart.
Er schreckte aus dem Schlaf auf. Acht Uhr morgens. Er musste pinkeln und hatte einen trockenen Mund.
Ein weiterer Tag hatte begonnen.
Zehn Stunden später.
Ein Tag wie jeder lag hinter ihm. Ein Abend wie jeder vor ihm.
Heute lieber nicht bei Harry. Wegen Thomas’ Nase.
„Ein Hefe.“
Ulli servierte.
Er zündete sich eine Zigarette an.
Ulli war wenigstens eine ehrliche Haut. Und ein armer Tropf. Nachdem er voriges Jahr bereits passender Weise zu Ostern eines seiner Eier an den Hodenkrebs verloren hatte, war dieses Jahr pünktlich zum Weihnachtsfest die Diagnose Lungenkrebs unter dem Christbaum gelandet. Wahrscheinlich hatte er noch ein paar Monate.
Darüber reden wollte er nie. Wozu auch? Armer Kerl.
„Mach mal noch eins.“
„Geht klar.“
Genug geredet.
Zeit für die nächste Zigarette.
Auf den Lungenkrebs! Was sollte man denn auch sonst tun? Sterben würden sie eh alle früher oder später. Eine der wenigen Lebensweisheiten, die für ihn jemals einen Sinn gehabt hatte. Seine Mutter musste sie gekannt haben. Sie hatte das Unvermeidliche nur etwas vorgezogen. Das hohe Fenster im Treppenhaus im vierten Stock war sonst immer verschlossen gewesen. „Öffnen verboten! Die Hausverwaltung.“ Keiner hatte es je geöffnet. Doch sie hatte es gewagt. An ihrem letzten Tag hatte sie die Grenze überschritten, war den einen Schritt weiter gegangen. Und danach noch einen. Ihren letzten.
„Hab leer, Ulli.“
„Kommt sofort.“
Eine weitere Zigarette glühte auf.
Seine Mutter war oft traurig gewesen, hatte viel geweint. Er hatte nie verstanden, warum sie so viel weinte, immer nur gehofft, sie würde bald wieder aufhören. Dann hatte sie aufgehört. Für immer.
Ob es wohl für sie so etwas wie einen Himmel gab? Als junges Mädchen war sie sehr gläubig gewesen, war regelmäßig zur Kirche gegangen und hatte viel gebetet. Dann hatte sie ihren Glauben verloren, sich von der Kirche getrennt und begonnen zu weinen.
Auch von seinem Vater hatte sie sich schon sehr bald wieder getrennt. Wie von allen Männern, die sie je kennen gelernt hatte. Sie war einsam gewesen.
Arme Mutter.
„Noch eins.“
Es wurde nachgeschenkt.
Nächste Zigarette.
Auf der Toilette rutschte er aus. Uringestank.
Der Fleck auf der Hose war peinlich. Gelächter.
Er beschloss anschreiben zu lassen und zu gehen.
Die Straßen waren leer und verlassen. Sein Kopf dumpf, der Schritt wankend.
Treppe, Haustür, Schlüssel, Bett.
Der Traum begann wie immer.
Er lief durch die überfüllten Straßen der Stadt, ließ sich treiben und blickte in die Gesichter der entgegenkommenden Menschen.
Er sah abwesende Gesichter, müde Gesichter, leere Gesichter.
Wurde ignoriert und ignorierte. Wurde übersehen und übersah.
Wieder schwamm er durch den Strom der Leiber, stolperte voran, taumelte durch ihn hindurch. Und erneut wurde die Menschenmasse dichter und dichter, schloss sich immer enger um ihn und begann langsam ihm den Atem zu nehmen. Verzweifelt versuchte er den schweren Stiefeln zu entweichen, die immer wieder auf seinen Füßen landeten, bemühte sich den trägen Leibern auszuweichen, die auf ihn eindrängten und ihn ein ums andere Mal aus dem Gleichgewicht stießen, blickte hilfesuchend in Gesichter, die durch ihn hindurchsahen und ihn überrannten. Seine Bemühungen waren zwecklos. Die Masse verdichtete sich um ihn, schob sich über ihn, erdrückte ihn.
Wieder ertönte plötzlich der Schlag der Glocke und die Menge um ihn herum löste sich auf. Mit klopfendem Herzen und nach Atem ringend blieb er stehen, vor sich die verspiegelte Fensterfront.
Benommen blickte er nach beiden Seiten. Dann sah er an ihr empor. Sie schien endlos. Unüberwindbar.
Seine müden Augen fanden ihr leeres Gegenstück in der Reflektion. Erschöpft und kraftlos senkte er den Kopf und lehnte die Stirn gegen das kühle Glas.
Da gab die Scheibe nach, zerbarst in etliche kleinste Splitter und für den Bruchteil einer Sekunde schienen diese wie feinste silbrig glänzende Schneeflocken um ihn herum durch die Luft zu tanzen.
Er fiel.
Er fiel lang und tief.
Ein dumpfer Aufprall auf unnachgiebigem Grund.
Acht Uhr morgens. Volle Blase, trockener Mund.
Ein weiterer Tag hatte begonnen.
Letzte Aktualisierung: 27.11.2012 - 14.18 Uhr Dieser Text enthält 8129 Zeichen.