Die Fantasy haben wir in dieser von Alisha Bionda und Michael Borlik herausgegebenen Anthologie beim Wort genommen. Vor allem fantasievoll sind die Geschichten.
Marius saĂ vor dem KĂŒchenfenster und schaute den Jungen zu, wie sie auf dem Anger Eishockey spielten.
âGeh doch runter und frage, ob sie einen Schiedsrichter brauchenâ, schlug seine Mutter ihm vor und stellte das Backblech mit den dampfenden BratĂ€pfeln auf den Tisch.
MĂŒtter haben keine Ahnung. âEin Schiedsrichter muss schnell auf den Kufen flitzen können.â
Sie blickte ihren Sohn von der Seite an. âUnd wie wĂ€r âs mit einer Position im Tor?â
âHast du schon mal einen Torwart gesehen, der bewegungslos im Tor steht?â, fragte er und zog verĂ€rgert seine Stirn ĂŒber der Nasenwurzel zusammen, so dass eine tiefe Zornesfalte entstand.
Die gleiche Mimikfalte zeigte sich auch bei seiner Mutter. âBewegungslos bist du aber nicht!â Sie wollte ihre Stimme nicht so laut werden lassen, aber nun war es halt passiert.
Ihr Sohn schnappte nach seinen KrĂŒcken und humpelte die Treppe hinauf. âLass mich in Ruhe!â, schrie er, âdu hast keine Ahnung vom Eishockey und die daâ, er zeigte mit einer der Gehhilfen hinaus, âdie machen keinen Behindertensport.â
âDann iss doch wenigstens einen Bratapfel!â, rief sie ihm hinterher.
âDeine schmecken nicht so gut wie die von Jasmin!â
Die TĂŒr seines Zimmers fiel laut ins Schloss.
Dass seine Mutter sich verstohlen ihre feuchten Augen mit einem Taschentuch abtrocknete, sah Marius nicht.
* * *
Er zog in seinem Zimmer die VorhÀnge zu und lieà sich auf das Bett fallen.
âPah!â, platzte es aus ihm heraus. âScheiĂ Gemeinschaftsschule! Behinderte und Nichtbehinderte lernen gemeinsam!â Marius zĂŒndete ein Teelicht auf dem Beistelltisch an.
Eindeutig war er der einzige Behinderte hier in diesem Kuhdorf am Arsch der Welt. Inzwischen waren Monate vergangen und er hatte immer noch keinen Anschluss gefunden. Wegen Vaters Arbeit waren sie in dieses Kaff gezogen.
Er ballte die HĂ€nde zu FĂ€usten und schlug heftig auf seine Beine ein.
Marius zog ein Foto unter der Schreibtischauflage hervor und hauchte einen Kuss darauf.
âJasmin.â Er drĂŒckte sich das Bild aufs Gesicht und legte es vor sich auf das Tischchen. Fast sah es so aus, als wenn die unruhige Flamme das PortrĂ€t zum Leben erweckte. Nun ging Jasmin bestimmt mit dem gestriegelten Sebastian in eine Klasse. Dieser Angeber-Hirni. Nur weil sein Lackierer-Daddy die RĂ€der seines Rollstuhles mit Graffitis besprĂŒht hatte. Die Girlies sind voll drauf abgefahren.
Jasmin nicht.
Die hatte ihre Hand auf seinen Unterarm gelegt und gesagt. âDer Sebastian hat zwar einen geilen Rolli, aber in seiner Birne hat der nichts. Auch keine Luft. Einfach nur Vakuum.â
Marius erinnerte sich an den Dezember vor einem Jahr.
Beide hatten die Abende gerne im Partykeller von Jasmins Eltern verbracht, wo sie faul abhingen und mal âne Ziggi pafften. Sie mussten sich eine Ausrede einfallen lassen, warum er an der Oberlippe eine Brandblase hatte.
Aber weil Jasmin abgefahrene AufsĂ€tze schreiben konnte, hatte sie seiner Mutter eine glaubwĂŒrdige Story fĂŒr sein Missgeschick erzĂ€hlt.
Oder wenn er und Jasmin in seiner Mansarde chillten und sich einen geilen Song nach dem nĂ€chsten reinzogen, bis die Tropfenkerze heruntergebrannt war. AuĂerdem waren Jasmins BratĂ€pfel der Oberburner. Mit Karamell, Marzipan und Mandeln.
`Jetzt bloĂ nicht rumheulen wie âne MemmeÂŽ, dachte Marius, legte das Foto zurĂŒck und setzte sich Kopfhörer auf.
Selbst fĂŒr einen stinknormalen Internetanschluss benötigten diese Landeier Monate.
Plötzlich musste er sich doch die nassen Wangen mit dem PulliÀrmel trocken wischen.
* * *
Schulsport.
Hallenhockey.
Abermals diese DemĂŒtigung, weil er wieder als Letzter dastand, wenn es um das AuswĂ€hlen der Mitspieler ging.
Er der Letzte?
Nicht so ganz.
Die dicke Monique mit der Zahnspange stand auch noch neben ihm und lispelte. âEs kommt der Tag, da wirst du âs denen zeigen.â Sie hielt ihren Mittelfinger als Stinkefinger hoch.
âUnd wie soll ich âs ihnen zeigen?â, fragte Marius wispernd und schnallte StĂŒtzschienen um seine Waden.
âMit deinem Glaubenâ, antwortete sie.
âHĂ€? Der da oben wird mir kaum gesunde Beine schenken, nur weil in ein paar Wochen Weihnachten ist.â
Er zeigte auf ihren drallen Körper. âUnd sorry, aber die Kilos kann er dir auch nicht wegschmelzen.â
Moniques grĂŒne Augen blitzten ihn an.
âDu musst daran glauben, dass du ein Supersportler bist.â
Marius lachte. âErst wenn dir dein Glaube zur Modelfigur verholfen hat, zeige ich dir, was fĂŒr ein Sportler in mir steckt.â
Sie zog ihre Augenbrauen hoch und zwinkerte ihm zu. âKeine Ahnung, warum ich dich trotz deiner Anspielungen auf mein Dicksein mag.â
âSorryâ, nuschelte er, âwar nicht so gemeint.â
âMonique, Marius! Ruhe! Leute! Ihr könnt euch wieder einmal nicht entscheiden, also muss ich es tun. Monique kommt zur roten Mannschaft und Marius zu den Blauen!â
Ein âDann verlieren wir glattâ sowie âFuck, was ân Mistâ, raunte durch die Sporthalle.
Die Trillerpfeife ertönte.
Der Puck wechselte in Windeseile die Mitspieler, welche sich gegenseitig anfeuerten. Die Sohlen quietschten auf dem Hallenparkett.
Die Luft reicherte sich nach und nach mit dem SchweiĂgeruch Pubertierender an.
Marius holperte, stolperte und hinkte ĂŒber das Spielfeld, Buhrufe schlugen erbarmungslos ĂŒber ihn ein.
Keine Chance, die Scheibe mit dem SchlÀger zu erhaschen, die anderen waren schneller am Zug.
Marius blieb stehen und massierte mit den Fingerspitzen rechts und links seine SchlÀfen. Er schloss die Augen.
Die Gedanken sammeln, ballen. Volle Konzentration wie beim Lösen von Matheaufgaben.
âEy! Wir sind hier nicht in der Meditationsgroup fĂŒr Spastis!â
Er hĂŒpfte zunĂ€chst sehr vorsichtig von einem Bein auf das andere.
Der Puck traf ihn hart am Knöchel. Das war bestimmt wieder Ricardo. Marius ballte seine rechte Faust um den SchlĂ€ger, drehte sich auf der Stelle herum und schlug die Scheibe Ricardo entgegen. Der strauchelte, stĂŒrzte zu Boden, Marius war nun am Zug, wechselte die Scheibe mit schwingenden Strichen ĂŒber den Boden und beförderte sie kurzerhand ins gegnerische Tor.
TOR!
Plötzlich flogen ihm PĂ€sse zu, als wĂŒrde er sie magisch anziehen, seine Faust umklammerte den SchlĂ€ger, als sei der mit seinem Arm verwachsen. Er erwischte den Puck abermals exakt und beförderte ihn mit einem groĂen Bogen an den SchlĂ€ger eines Mitspielers, der ein weiteres Tor schoss.
TOR! TOR!
Das war Ansporn. Marius spannte die Muskulatur seiner Waden und Oberschenkel an. Federnd hob er vom Boden ab und schlug die nÀchste Scheibe, welche ihm zugespielt wurde. Er katapultierte sie in hohem Drall durch die Halle zu einem Blauen.
Fast hÀtte er den Abpfiff nicht gehört.
Marius Faust löste sich und der SchlÀger fiel zu Boden.
Er krĂŒmmte sich keuchend und bekam einen Hustenanfall.
Seine Knie zitterten, die Beine sackten unter ihm weg und er stĂŒrzte zu Boden.
Monique half ihm hoch. âGehen wir gemeinsam heim?â, flĂŒsterte sie ihm ins Ohr.
Fuck. Er brauchte kein scheiĂ Mitleid.
* * *
Monique begleitete ihn nach Unterrichtsende.
Der Dezemberwind blies ihm hart die eisige KĂ€lte ins Gesicht.
âDu musst mich KrĂŒppel nicht nach Hause bringenâ, stieĂ er hervor, âmein Orientierungssinn ist in Ordnung.â
Sie zog sich ihre WollmĂŒtze in die Stirn. âDeiner mag in Ordnung seinâ, sie lachte, âaber was ist, wenn ICH mich verlaufe?â
Er kratzte sich hinterm Ohr. âHaaahaaa.â
Unweit hinter ihnen tobte lautes Gegröle. âDa vorne humpelt Marius!â
Sie kamen schnell nÀher.
Noch bevor Monique mit Marius ĂŒber das Spiel sprechen konnte, lieĂ ein heftiger Schlag auf MariusÂŽ Schultern ihn fast zu Boden gehen. âEy Alter! Noch ân bisschen hartes Training und aus dir könnte was werden.â
Das war Ricardo, der wie immer seine Mannen im Schlepptau hatte.
âLeute!â, rief der, âwas haltet ihr davon, wenn wir den Spasti unter unsere Fittiche nehmen.â
âMeinste?â
âHeute hat der Softy wenigstens ansatzweise gezeigt, was in ihm steckt!â
âJau!â
âSachte! Sachte!â mahnte Ricardo , âeins ist klar! Aus âm lahmen Gaul kannste kein Rennpferd machen!â
Monique stupfte Marius in die Seite. âDu warst heute wirklich besser als sonst.â
War die KĂ€lte schuld, dass ihr Gesicht von einer Röte ĂŒberzogen war?
Er hakte sich bei ihr unter, weil der BĂŒrgersteig vereist war. Auf keinen Fall wollte er sich vor Ricardo und seinem Gefolge auf den Hintern legen.
âWat is Alter! Willze nun mit uns aufm Eis trainieren oder nich? Solln wir auf âne Antwort warten, bis der Anger aufgetaut is?â
Hatten sie ihn gerade zum Training eingeladen?
Monique stieĂ ihn in die Seite und zischte. âSag zu.â
Marius blieb auf der Stelle stehen und stellte sich vor die Gruppe. âKlaro. Bin dabei.â
Monique jubelte. âUnd ich darf zugucken!â
Ricardo spie auf den Boden. âWeiber hatten wir bisher nie dabei.â Er kratzte sich am kahl geschorenen Kopf.
âIs egal, Alter! Die Tussen haben meistens was zum Kauen dabei.â
âSuuuupiiiiie! Dann kann ich meine Lena auch mitbringenâ, jubelte einer.
âNun kommt es auf einen Spasti mehr oder weniger auch nicht mehr anâ, meinte Ricardo und zog sich seinen Schal bis ĂŒber die Nasenspitze. âHeute Abend also pĂŒnktlich um sechs am Anger.â
Lautstark bogen sie in eine SeitenstraĂe ein.
Jetzt umfasste Marius zaghaft die Hand von Monique. Wieder blitzten ihre grĂŒnen Augen ihn an. âFreundschaft?â, hauchte sie.
Seine Mund war von der KĂ€lte derart taub, dass er kaum die Lippen zum Sprechen bewegen konnte. âFreundschaft. Und vielleicht hast du Lust, nach dem Training mit zu mir zu kommen?â, fragte er, âMucke hören? Und die BratĂ€pfel meiner Mutter sind auch unschlagbar.â
Sie nickte.
Gerne hĂ€tte er ihr einen Kuss auf die Wange gehaucht, aber `kein MĂ€dchen lĂ€sst sich von einem KrĂŒppel kĂŒssenÂŽ, dachte Marius.