Madrigal für einen Mörder
Madrigal für einen Mörder
Ein Krimi muss nicht immer mit Erscheinen des Kommissars am Tatort beginnen. Dass es auch anders geht beweisen die Autoren mit ihren Kurzkrimis in diesem Buch.
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Winterabend | Dezember 2012
Eiszeit
von Anne Zeisig

Marius saß vor dem Küchenfenster und schaute den Jungen zu, wie sie auf dem Anger Eishockey spielten.

“Geh doch runter und frage, ob sie einen Schiedsrichter brauchen”, schlug seine Mutter ihm vor und stellte das Backblech mit den dampfenden Bratäpfeln auf den Tisch.
Mütter haben keine Ahnung. “Ein Schiedsrichter muss schnell auf den Kufen flitzen können.”
Sie blickte ihren Sohn von der Seite an. “Und wie wär ‘s mit einer Position im Tor?”
“Hast du schon mal einen Torwart gesehen, der bewegungslos im Tor steht?”, fragte er und zog verärgert seine Stirn über der Nasenwurzel zusammen, so dass eine tiefe Zornesfalte entstand.
Die gleiche Mimikfalte zeigte sich auch bei seiner Mutter. “Bewegungslos bist du aber nicht!” Sie wollte ihre Stimme nicht so laut werden lassen, aber nun war es halt passiert.
Ihr Sohn schnappte nach seinen Krücken und humpelte die Treppe hinauf. “Lass mich in Ruhe!”, schrie er, “du hast keine Ahnung vom Eishockey und die da”, er zeigte mit einer der Gehhilfen hinaus, “die machen keinen Behindertensport.”
“Dann iss doch wenigstens einen Bratapfel!”, rief sie ihm hinterher.
“Deine schmecken nicht so gut wie die von Jasmin!”
Die Tür seines Zimmers fiel laut ins Schloss.
Dass seine Mutter sich verstohlen ihre feuchten Augen mit einem Taschentuch abtrocknete, sah Marius nicht.

* * *

Er zog in seinem Zimmer die Vorhänge zu und ließ sich auf das Bett fallen.
“Pah!”, platzte es aus ihm heraus. “Scheiß Gemeinschaftsschule! Behinderte und Nichtbehinderte lernen gemeinsam!” Marius zündete ein Teelicht auf dem Beistelltisch an.
Eindeutig war er der einzige Behinderte hier in diesem Kuhdorf am Arsch der Welt. Inzwischen waren Monate vergangen und er hatte immer noch keinen Anschluss gefunden. Wegen Vaters Arbeit waren sie in dieses Kaff gezogen.
Er ballte die Hände zu Fäusten und schlug heftig auf seine Beine ein.
Marius zog ein Foto unter der Schreibtischauflage hervor und hauchte einen Kuss darauf.
“Jasmin.” Er drückte sich das Bild aufs Gesicht und legte es vor sich auf das Tischchen. Fast sah es so aus, als wenn die unruhige Flamme das Porträt zum Leben erweckte. Nun ging Jasmin bestimmt mit dem gestriegelten Sebastian in eine Klasse. Dieser Angeber-Hirni. Nur weil sein Lackierer-Daddy die Räder seines Rollstuhles mit Graffitis besprüht hatte. Die Girlies sind voll drauf abgefahren.
Jasmin nicht.
Die hatte ihre Hand auf seinen Unterarm gelegt und gesagt. “Der Sebastian hat zwar einen geilen Rolli, aber in seiner Birne hat der nichts. Auch keine Luft. Einfach nur Vakuum.”

Marius erinnerte sich an den Dezember vor einem Jahr.
Beide hatten die Abende gerne im Partykeller von Jasmins Eltern verbracht, wo sie faul abhingen und mal ‘ne Ziggi pafften. Sie mussten sich eine Ausrede einfallen lassen, warum er an der Oberlippe eine Brandblase hatte.
Aber weil Jasmin abgefahrene Aufsätze schreiben konnte, hatte sie seiner Mutter eine glaubwürdige Story für sein Missgeschick erzählt.
Oder wenn er und Jasmin in seiner Mansarde chillten und sich einen geilen Song nach dem nächsten reinzogen, bis die Tropfenkerze heruntergebrannt war. Außerdem waren Jasmins Bratäpfel der Oberburner. Mit Karamell, Marzipan und Mandeln.
`Jetzt bloß nicht rumheulen wie ‘ne Memme´, dachte Marius, legte das Foto zurück und setzte sich Kopfhörer auf.
Selbst für einen stinknormalen Internetanschluss benötigten diese Landeier Monate.
Plötzlich musste er sich doch die nassen Wangen mit dem Pulliärmel trocken wischen.

* * *

Schulsport.
Hallenhockey.
Abermals diese Demütigung, weil er wieder als Letzter dastand, wenn es um das Auswählen der Mitspieler ging.
Er der Letzte?
Nicht so ganz.
Die dicke Monique mit der Zahnspange stand auch noch neben ihm und lispelte. “Es kommt der Tag, da wirst du ‘s denen zeigen.” Sie hielt ihren Mittelfinger als Stinkefinger hoch.
“Und wie soll ich ‘s ihnen zeigen?”, fragte Marius wispernd und schnallte Stützschienen um seine Waden.
“Mit deinem Glauben”, antwortete sie.
“Hä? Der da oben wird mir kaum gesunde Beine schenken, nur weil in ein paar Wochen Weihnachten ist.”
Er zeigte auf ihren drallen Körper. “Und sorry, aber die Kilos kann er dir auch nicht wegschmelzen.”
Moniques grüne Augen blitzten ihn an.
“Du musst daran glauben, dass du ein Supersportler bist.”
Marius lachte. “Erst wenn dir dein Glaube zur Modelfigur verholfen hat, zeige ich dir, was für ein Sportler in mir steckt.”
Sie zog ihre Augenbrauen hoch und zwinkerte ihm zu. “Keine Ahnung, warum ich dich trotz deiner Anspielungen auf mein Dicksein mag.”
“Sorry”, nuschelte er, “war nicht so gemeint.”
“Monique, Marius! Ruhe! Leute! Ihr könnt euch wieder einmal nicht entscheiden, also muss ich es tun. Monique kommt zur roten Mannschaft und Marius zu den Blauen!”
Ein “Dann verlieren wir glatt” sowie “Fuck, was ‘n Mist”, raunte durch die Sporthalle.
Die Trillerpfeife ertönte.
Der Puck wechselte in Windeseile die Mitspieler, welche sich gegenseitig anfeuerten. Die Sohlen quietschten auf dem Hallenparkett.
Die Luft reicherte sich nach und nach mit dem Schweißgeruch Pubertierender an.
Marius holperte, stolperte und hinkte über das Spielfeld, Buhrufe schlugen erbarmungslos über ihn ein.
Keine Chance, die Scheibe mit dem Schläger zu erhaschen, die anderen waren schneller am Zug.
Marius blieb stehen und massierte mit den Fingerspitzen rechts und links seine Schläfen. Er schloss die Augen.
Die Gedanken sammeln, ballen. Volle Konzentration wie beim Lösen von Matheaufgaben.
“Ey! Wir sind hier nicht in der Meditationsgroup für Spastis!”
Er hüpfte zunächst sehr vorsichtig von einem Bein auf das andere.
Der Puck traf ihn hart am Knöchel. Das war bestimmt wieder Ricardo. Marius ballte seine rechte Faust um den Schläger, drehte sich auf der Stelle herum und schlug die Scheibe Ricardo entgegen. Der strauchelte, stürzte zu Boden, Marius war nun am Zug, wechselte die Scheibe mit schwingenden Strichen über den Boden und beförderte sie kurzerhand ins gegnerische Tor.
TOR!
Plötzlich flogen ihm Pässe zu, als würde er sie magisch anziehen, seine Faust umklammerte den Schläger, als sei der mit seinem Arm verwachsen. Er erwischte den Puck abermals exakt und beförderte ihn mit einem großen Bogen an den Schläger eines Mitspielers, der ein weiteres Tor schoss.
TOR! TOR!
Das war Ansporn. Marius spannte die Muskulatur seiner Waden und Oberschenkel an. Federnd hob er vom Boden ab und schlug die nächste Scheibe, welche ihm zugespielt wurde. Er katapultierte sie in hohem Drall durch die Halle zu einem Blauen.
Fast hätte er den Abpfiff nicht gehört.
Marius Faust löste sich und der Schläger fiel zu Boden.
Er krümmte sich keuchend und bekam einen Hustenanfall.
Seine Knie zitterten, die Beine sackten unter ihm weg und er stürzte zu Boden.
Monique half ihm hoch. “Gehen wir gemeinsam heim?”, flüsterte sie ihm ins Ohr.
Fuck. Er brauchte kein scheiß Mitleid.

* * *

Monique begleitete ihn nach Unterrichtsende.
Der Dezemberwind blies ihm hart die eisige Kälte ins Gesicht.
“Du musst mich Krüppel nicht nach Hause bringen”, stieß er hervor, “mein Orientierungssinn ist in Ordnung.”
Sie zog sich ihre Wollmütze in die Stirn. “Deiner mag in Ordnung sein”, sie lachte, “aber was ist, wenn ICH mich verlaufe?”
Er kratzte sich hinterm Ohr. “Haaahaaa.”
Unweit hinter ihnen tobte lautes Gegröle. “Da vorne humpelt Marius!”
Sie kamen schnell näher.
Noch bevor Monique mit Marius über das Spiel sprechen konnte, ließ ein heftiger Schlag auf Marius´ Schultern ihn fast zu Boden gehen. “Ey Alter! Noch ‘n bisschen hartes Training und aus dir könnte was werden.”
Das war Ricardo, der wie immer seine Mannen im Schlepptau hatte.
“Leute!”, rief der, “was haltet ihr davon, wenn wir den Spasti unter unsere Fittiche nehmen.”
“Meinste?”
“Heute hat der Softy wenigstens ansatzweise gezeigt, was in ihm steckt!”
“Jau!”
“Sachte! Sachte!” mahnte Ricardo , “eins ist klar! Aus ‘m lahmen Gaul kannste kein Rennpferd machen!”
Monique stupfte Marius in die Seite. “Du warst heute wirklich besser als sonst.”
War die Kälte schuld, dass ihr Gesicht von einer Röte überzogen war?
Er hakte sich bei ihr unter, weil der Bürgersteig vereist war. Auf keinen Fall wollte er sich vor Ricardo und seinem Gefolge auf den Hintern legen.
“Wat is Alter! Willze nun mit uns aufm Eis trainieren oder nich? Solln wir auf ‘ne Antwort warten, bis der Anger aufgetaut is?”
Hatten sie ihn gerade zum Training eingeladen?
Monique stieß ihn in die Seite und zischte. “Sag zu.”
Marius blieb auf der Stelle stehen und stellte sich vor die Gruppe. “Klaro. Bin dabei.”
Monique jubelte. “Und ich darf zugucken!”
Ricardo spie auf den Boden. “Weiber hatten wir bisher nie dabei.” Er kratzte sich am kahl geschorenen Kopf.
“Is egal, Alter! Die Tussen haben meistens was zum Kauen dabei.”
“Suuuupiiiiie! Dann kann ich meine Lena auch mitbringen”, jubelte einer.
“Nun kommt es auf einen Spasti mehr oder weniger auch nicht mehr an”, meinte Ricardo und zog sich seinen Schal bis über die Nasenspitze. “Heute Abend also pünktlich um sechs am Anger.”
Lautstark bogen sie in eine Seitenstraße ein.
Jetzt umfasste Marius zaghaft die Hand von Monique. Wieder blitzten ihre grünen Augen ihn an. “Freundschaft?”, hauchte sie.
Seine Mund war von der Kälte derart taub, dass er kaum die Lippen zum Sprechen bewegen konnte. “Freundschaft. Und vielleicht hast du Lust, nach dem Training mit zu mir zu kommen?”, fragte er, “Mucke hören? Und die Bratäpfel meiner Mutter sind auch unschlagbar.”
Sie nickte.
Gerne hätte er ihr einen Kuss auf die Wange gehaucht, aber `kein Mädchen lässt sich von einem Krüppel küssen´, dachte Marius.


© anne zeisig, ENDversion

Letzte Aktualisierung: 26.12.2012 - 22.55 Uhr
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