Jonathan sah Maria Jaramago am Fenster stehen, wie jeden Abend, wenn er in die Straße einbog und seinen Wagen in einer der weißumrandeten Parkboxen abstellte. Er bemühte sich immer, schnell in seine Wohnung zu kommen. An manchen Tagen, wenn er vermutete, dass Maria ihn vielleicht auf der Treppe abfangen könnte, nahm er nicht einmal die Post aus dem Briefkasten. Denn das hätte bedeutet, mehr Zeit als unbedingt notwendig im Hausflur verbringen zu müssen. Die Erinnerung, an das eine Mal, Anfang letzten Jahres, hing immer noch wie ein Pendel über ihm, dass sich jeden Moment zu nähern drohte.
Auch an diesem Abend atmete er auf, als ihn die vertraute Atmosphäre seiner Wohnung umfing und er die Sicherungskette vorlegen konnte. Diese fünfundsechzig Quadratmeter waren der einzige Platz, an dem Jonathan sich wirklich sicher fühlte. Er musste nicht ans Telefon gehen. Er brauchte keine Sorge zu haben, beobachtet zu werden, weil er seine Jalousien so gut wie nie hochzog. Und es gab keine Gespräche, denen er zu folgen hatte, keine Gesprächspartner, auf die er sich einstellen musste, einfach nur Ruhe. Bisher zumindest.
Doch seit ein paar Tagen vernahm er dieses Kratzen in seinem Wohnzimmer. Jonathan wusste nicht genau, wo es herkam. Immer wenn er glaubte, die Stelle lokalisiert zu haben, erstarben die Geräusche. Auf jeden Fall mussten sie aus dem Holzfußboden kommen oder vielmehr von darunter. Außerdem hatte er seit einiger Zeit das Gefühl, ein strenger Geruch wie nach sauren Nierchen mache sich in seinem Wohnzimmer breit.
Zuerst hatte Jonathan vermutet, sein Weihnachtsbaum sei mit einer Chemikalie behandelt worden und dünste diese nun bei Zimmertemperatur aus. Nachdem er jedoch an sämtlichen Astgabelungen, in der Krone und am Stiel des Baumes geschnüffelt hatte, war er überzeugt, dass der Grund für den Geruch nicht in diesem Baum liegen konnte.
Jonathan hatte sich gerade mit einem Glas Saft in seinen Sessel gesetzt, als es wieder begann. Diesmal relativ eindeutig, zwischen der vierten und fünften Sparre. Er spürte, wie die Mischung aus Wut, Frustration und Angst davor, was dort unter den Dielen geschah, ihn zu einer Verzweiflungstat trieb, aber er konnte sich einfach nicht dagegen wehren, den Handbohrer zu holen.
Als das Loch groß genug war, führte er ein Sägeblatt ein und trennte die Diele in der Mitte in zwei Hälften. Dann nahm er eine Taschenlampe zur Hand. Wieder erklang das Kratzen. Sein Puls klopfte wild hinter seinen Schläfen. Aber, was auch immer er finden würde, es wäre allemal nicht so schlimm, wie den ganzen Abend keine Ruhe zu bekommen. Denn er brauchte Ruhe, sonst würde er den nächsten Tag auf der Arbeit nicht durchstehen, die Blicke, die Fragen, die Nähe seiner Kollegen nicht ertragen können.
Jonathan holte Luft und bog das hintere Stück der Diele hoch. Späne splitterten ab. Jonathan ging auf die Knie, beugte sich vorsichtig hinab und leuchtete mit seiner Lampe zwischen Diele und Füllschüttung. Weit hinten, wo die Hauswand eine natürliche Barriere bildete, sah er zwei rote Augen funkeln.
Augenblicklich presste Jonathan die Diele wieder in ihre ursprüngliche Lage zurück.
Eine Ratte! Kein Zweifel. Wahrscheinlich war sie durch einen Spalt geschlüpft und hatte mittlerweile soviel Dämmmaterial gefressen, dass sie nicht wieder hindurch zurückpasste. Er erinnerte sich daran, wie sein Vater, der wie alle Männer in ihrer Familie ebenfalls Jonathan hieß, im Gegensatz zu ihm aber auf einem Bauernhof groß geworden war, von den furchtbaren Lauten erzählt hatte, die Ratten abgaben, wenn sie verendeten, die - so hatte sein Vater gesagt - wie das Schreien von Babys klangen. Niemals würde Jonathan das aushalten, also konnte er die Ratte nicht unter den Dielen sterben lassen.
Ein Kammerjäger! Aber der würde nicht nur die Ratte fangen, sondern mit Sicherheit darauf bestehen, die Wohnung auszuräuchern. Das bedeutete, dass Jonathan in ein Hotel ziehen und sich Fremden aussetzen musste, die seine Räume betraten, wenn er nicht da war, oder die anklopften und ihn Dinge fragen wollten. Nein.
In der Küche goss er sich ein neues Glas Saft ein und trank es in einem Schluck herunter. Dann schüttelte er den Kopf und sagte: „Es bleibt wohl nichts anderes übrig, die Ratte wird überleben müssen.“
Bevor Jonathan schlafen ging, öffnete er den Holzboden noch einmal, legte eine Scheibe Brot auf die Dämmschüttung, streute ein paar Haferflocken dazu, klappte die Diele wieder herunter und sicherte die Stelle, indem er seinen Handwerkskasten darauf stellte. Das würde ihm zumindest einen Tag Luft zum Nachdenken verschaffen.
Als er am nächsten Abend in die Straße einbog, beschloss er, nach Weihnachten seinen Impfschutz auffrischen zu lassen. Denn, dass Ratten Krankheiten übertrugen, war ja gemeinhin bekannt. Ob Maria Jaramago eine Vorstellung davon hatte, wer oder was dort über ihr in der Zwischendecke lebte? Einen unbedachten Moment schaute er zu ihrem Fenster hinauf. Sie deutete das wohl als Zeichen und hob die Hand wie zu einem Gruß. Daraufhin beschleunigte er seine Schritte.
Das Pulsieren in seinem Kopf ließ erst nach, als er die Wohnungstür hinter sich geschlossen hatte. Jonathan ging direkt in die Küche, goss sich ein Glas Saft ein und trank es in einem Schluck herunter. Dann griff er nach seiner Taschenlampe.
Als er die Diele ein Stück hochnahm, um nachzusehen, ob die Ratte gefressen hatte, schoss plötzlich etwas an ihm vorbei und gab dabei fiepende Laute von sich. Jonathan sprang auf und stürzte aus dem Wohnzimmer.
Erst nach einigen Minuten brachte er den Mut auf, die wieder Tür einen Spalt zu öffnen. Eine Ratte unter den Dielen zu wissen, war eine Sache, freilaufend in seinem Wohnzimmer definitiv eine andere.
Er ließ seinen Blick durch das Zimmer wandern, über die Couch, unter dem Fernsehtisch entlang bis hin zu den Vorhängen und der Nordmanntanne.
Wie ein Vogel hockte die Ratte auf dem Rand des Christbaumständers und trank aus dem Wasserreservoir. Sicher, man verdurstete eher als dass man verhungerte. Daran hatte er überhaupt nicht gedacht.
Die schlürfende Ratte erschien ihm riesig. Fast so groß wie ein Meerschweinchen. Er schüttelte sich, spürte wie sich die feinen Härchen an seinen Armen und Beinen aufstellten. Aber es half nichts. Sie mussten sich aneinander gewöhnen; jetzt, da sie offiziell ihre Behausung unter den Dielen verlassen hatte. Also holte er noch zwei Scheiben Brot aus der Küche, warf diese ins Wohnzimmer und verriegelte die Tür. Dann legte sich Jonathan schlafen.
Am nächsten Morgen frühstückte er in der Küche statt im Wohnzimmer, streute Haferflocken in eine Schüssel und bröselte ein paar Kekse dazu. Er sperrte die Wohnzimmertür auf, stellte rasch die Schüssel hinein und verschloss die Tür wieder. Dann fuhr Jonathan zur Arbeit.
Als er am Abend in die Straße einbog, sah er, dass Maria Jaramago ihr Fenster dekoriert hatte. Im Gegensatz zu den anderen wild blinkenden Ketten strahlte ihr Fenster eine gewisse Ruhe aus. Das gefiel Jonathan und er blieb einen Moment stehen und blickte hinauf, nachdem er sein Auto abgeschlossen hatte, da Maria nicht zu sehen war.
Ob sie auch einen Weihnachtsbaum hatte? Wahrscheinlich nicht, schließlich war sie alleinstehend. Andererseits hatte ihn dieser Umstand auch nicht davon abgehalten, einen zu kaufen.
„Hola!“, holte ihn Marias Stimme aus seinen Gedanken.
„Guten Abend“, murmelte er und hastete zur Haustür. Statt darauf zu warten, bis sie von den Mülltonnen zurückkam, klemmte er den Holzkeil zwischen Tür und Rahmen. Auf dem Weg nach oben kämpfte er gegen das Gefühl an, ohnmächtig zu werden.
‚In Sicherheit’, dachte Jonathan, und goss sich ein Glas Saft ein. Und dann: ‚Ich muss mit jemandem darüber reden, sonst werde ich wahnsinnig.’ Er kniff die Augen zusammen, biss sich auf die Unterlippe und schlug sich mehrmals gegen die Stirn. Dann öffnete er die Wohnzimmertür und setzte sich in seinen Sessel.
Die Ratte hockte in der gegenüberliegenden Ecke und sah ihn an. „Hör zu“, begann Jonathan, „wir zwei befinden uns in dieser Lage hier und ich denke, es wird langsam Zeit, dass wir uns näher kennenlernen. Zu diesem Zweck werde ich dich Franklyn nennen. Also, Franklyn, ich bin Jonathan und ich leide an einer Sozialphobie.“
Nachdem Jonathan zwei Stunden lang geredet hatte, fühlte er sich so gut, wie schon lange nicht mehr. Er machte der Ratte noch einen Teller für die Nacht fertig und ging schlafen.
Etwas quiekte. Sein Wecker zeigte fünf Uhr dreißig. Da es ohnehin Zeit zum Aufstehen war, schaltete er seine Nachtischlampe ein. Direkt vor ihm auf der Kommode saß die Ratte und schaute ihn an. Jonathan erstarrte. Er hatte vergessen, die Wohnzimmertür zu schließen! Was war, wenn sie ihn nun ansprang, sich in seinem Gesicht verbiss, ihn entstellte?
Er musste seinen Atem unter Kontrolle bringen. Die Ratte setzte sich auf die Hinterbeine und begann sich zu putzen, strich über ihre Tasthaare und ihre Ohren, kratzte sich an den Flanken und schlug schließlich zweimal mit den Hinterläufen auf die Kommode. „Eigentlich gibt es keinen Grund, sich vor dir zu fürchten, Franklyn“, versuchte Jonathan sich zu beruhigen. Seine Stimme flatterte. „Du bist hübsch, du bist klug und du hörst mir zu.“ Er fühlte, wie sich seine Muskeln langsam entspannten. „Und jetzt hast du wahrscheinlich einfach Hunger. Heute ist der 24. Dezember, mein letzter Arbeitstag. Heute Abend werde ich etwas Schönes für uns kochen, wenn du magst.“
Jonathan fuhr direkt nach der Arbeit in den Ökomarkt, kaufte verschiedene Getreidesorten, Eier, Butter, Nüsse, Trockenobst und ein biodynamisches Kochbuch. Er spürte, wie sich sein Gesicht rötete, als ihm die Kassiererin „Frohe Weihnachten“ wünschte, aber erstaunlicherweise blieb sein Herzschlag normal.
Zuhause stellte Jonathan Weihnachtsmusik im Radio an – Frank Sinatra und Dean Martin - , goss sich ein Glas Saft ein und nahm sich das Kochbuch vor.
„Da bist du ja, Franklyn“, sagte er, als die Ratte in die Küche kam. „Und du hast noch jemanden mitgebracht. Kein Problem, ich habe genug eingekauft.“
Letzte Aktualisierung: 26.12.2012 - 13.28 Uhr Dieser Text enthält 10153 Zeichen.