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Winterabend | Dezember 2012
Der Himmel kann nicht länger warten
von Thea Derado

„Oho, Oma-Rally!“ Erheitert drückte sich der Passant an die Hauswand und ließ den Rollator vorbei, den Uta flott durch die Fußgängerzone lenkte.
„Was hat er gesagt?“, nuschelte ihre auf dem Brett sitzende 91-jährige Mutter.
„Oma-Rally.“
Die Alte kicherte. Sie war gern unter Menschen, aber so kraftlos schaffte sie gar nichts mehr alleine. Auch keine Arztbesuche.
„Was machen eigentlich alte Leute, die keine Tochter in der Nähe haben?“, erkundigte sich einer der Ärzte.
Das wissen wohl nur die Götter.

Auf Sozialstationen bekam Romi, (so wurde sie von ihren Urenkeln genannt),
weder Rat noch Hilfe. Einmal schickte die Diakonie eine Frau. Ob sie denn bitte den Müll mit runter nehmen würde oder die Blumenkästen auf die Brüstung heben könnte? Nein, dafür sei sie nicht zuständig! Sie wolle lediglich alte Menschen aus ihrer Isolation holen.
„Der Teufel soll sie holen - mit und ohne Isolation! Und dafür habe ich all die Jahre meinen Beitrag bei der Diakonie-Station eingezahlt! Ich will ja ihre Hilfe bezahlen. Vor paar Jahren war es noch möglich, einen Zivi für ein oder zwei Stunden zu bestellen, der ging mit mir einkaufen und spazieren.“

Auf Anraten des Orthopäden hatten sie bereits im Frühjahr einen Antrag bei der Pflegeversicherung gestellt. Eine Dame von der Kasse kam und schaute sich in der Wohnung um. Der begleitende Fragebogen ging an Romis Problemen total vorbei. Wie viel Zeit man zum Haare Kämmen brauche! Als ob das wichtig wäre! Ihr Schwiegersohn mit Glatze würde somit offenbar nie ein Pflegefall!
„Wenn es mal hart auf hart kommt, dann ist doch nur auf die Familie Verlass!“

Von Woche zu Woche wurde Romi kraftloser, konnte kaum noch die Beine heben. Die festen Schuhe zogen wie Bleigewichte. Sie hoffte auf Besserung durch elektrische Behandlung.
Der Arzt bekannte: „Ich kann Ihnen zwar Gymnastik und Massage verschreiben. Doch zu sechs Anwendungen zu fahren, das kostet Sie mehr Kraft als es helfen würde. Die Ursache liegt im Nervensystem.“
Der Neurologe vermutete „amyotrophe Lateralsklerose“, ALS, eine vom Hirnstamm ausgehende Verkümmerung der motorischer Nerven.
Je mehr Uta darüber las, desto klarer wurde ihr, dass dagegen kein Kraut gewachsen war.

Die motorischen Ausfälle machten sich auch beim Schlucken und beim Sprechen bemerkbar. Romis Schwiegersohn verstand sie gar nicht mehr.
Während eines gemeinsamen Essens meinte er zu seiner Frau: „Schick doch deine Mutter mal zu einem Kurs für Bauchredner. Vielleicht versteht man sie dann besser.“
Warum sie so lachten, wollte Romi wissen. Sie verstand ihn auch nicht. Als Uta es ihr sagte, kriegte sie sich vor Lachen kaum ein. Wie schön, dass sie sich ihren Humor bewahrte!

Dass ihre lallende, unverständliche Sprache allmählich zur sozialen Barriere wurde, erschütterte Romi sehr. Sie konnte zu keinem mehr gehen, nicht mehr plaudern. Für die wenigen, die noch zu ihr in die Wohnung kamen, schrieb sie alles auf Zettel.

Unterdessen war sie 92 geworden. „Zwei-und-neunzig! Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen! Das hätte ich nie erwartet! Aber nun läuft die Uhr allmählich ab.“ Trotz Schwierigkeiten mit der rechten Hand beantwortete Romi ihre Geburtstagspost schriftlich. Am Telefon würde sie ja doch keiner verstehen.
Es war bedrückend, jeder Brief ein Abschiedsgruß.
Doch noch immer kamen am Sonntagnachmittag ihre Canasta-Damen.

„Weißt du, Schatz, wenn du bei mir bist, blühen meine Lebensgeister wieder auf.“ Uta drückte das Zettelchen an ihr Herz und küsste ihre klein gewordene Mutti.
Allenfalls flackerten die Lebensgeister ein bisschen auf.
Das Leben als Kerze betrachtet, deren Licht schwächer und schwächer wird bis der Brennstoff aufgebraucht ist. Was so als Seele bezeichnet wird, das Licht eines Jeden, es verlöscht zusammen mit dem Leben.
Der Gedanke an den nahen Tod verlor seinen Schrecken. Die Patientenverfügung wurde laufend ergänzt; jedes Gerät einzeln aufgeführt.

„Heute habe ich das Gefühl, dass wieder ein ganzes Bündel Kraft von mir abgefallen ist. Meine Beine knicken weg wie Streichhölzer. Nicht mal die kleine Schwelle zum Balkon schaffe ich mehr. Alles Sch...e! Weißt du, was auch traurig ist: Seit heute kann ich nicht mal mehr lächeln. Die Gesichtsmuskeln machen nicht mehr mit.“

Ab und zu lagen sich Mutter und Tochter weinend in den Armen.
Wieder suchte Uta Hilfe bei Sozialämtern und Pflegestationen.
Jeden notwendigen Handgriff schrieb die Schwester auf!
Auf die Frage, was denn eine Stunde kosten würde, antwortete sie, dass ginge nicht nach Zeit sondern nach den Tätigkeiten. Laut Katalog kostete das Aufwärmen einer kleinen Mahlzeit ein Vielfaches dessen, was das Essen wert war. Nach raschem Überschlagen: „Das kommt im Monat auf etwa achthundert Euro!“
Mit einem Nicken bestätigte die Schwester die ihr wohlbekannte Tatsache.
„Was glauben Sie, wie viel eine alte Frau Rente bekommt?“
Als sie hörte, dass der Antrag auf Pflegestufe abgelehnt worden war, packte sie ihre sieben Sachen. Sie sollten doch noch einmal einen Antrag stellen.
Uta befolgte den Rat. Als er dann bewilligt wurde, war es bereits zu spät.

„Das geht aber langsam mit dem Sterben“, beschwerte sich Romi zum wiederholten Male. Sie hatte immer gedacht, sie wacht eines Morgens einfach mal nicht mehr auf.
„Hast du Angst, dass Gevatter Hain dich vergisst? Du wirst nicht der erste Mensch sein, der unsterblich ist. Du kommst schon noch dran.“
Zettelchen mit ‚der Himmel kann noch warten‘ wurden weggeräumt.

Bei jeder sich bietenden Gelegenheit verkündete Uta, dass sie Hilfe bräuchte. Sie fand zwei nette junge Frauen: Eine slowakische Krankenschwester, die keine Arbeitserlaubnis bekam, und eine angehende Medizinerin aus dem Bekanntenkreis der Kinder.

„Das ist kein Fall fürs Krankenhaus“, meinte Romis Hausarzt. „Bis Sie sterben, das kann schon noch dauern. Da fallen erst noch alle Organe einzeln aus.“ Der ‚einfühlsame‘ Mediziner ließ eine verzweifelte Patientin zurück.
Der Begriff ‚Sterbehilfe‘ bekam auf einmal einen freundlichen Klang.

In regelmäßigen Abständen bat Romi ihre Tochter, sie in ein Heim zu bringen, oder den Notarzt zu rufen. Sie mochte nicht glauben, dass ihr keiner helfen könne.
In der Adventszeit kam ein junger Internist über den notärztlichen Bereitschaftsdienst. Er setzte sich zu ihr auf die Sofakante und streichelte die mageren Hände.
„Geben Sie mir doch eine Spritze“, bettelte Romi.
Ganz lieb sagte er: „Selbst wenn ich wollte und könnte, ich habe gar nichts dabei.“
Hospiz -Einrichtungen, die in den letzten Lebenstagen das Sterben erleichtern sollen, würden sie wohl auch nicht nehmen.
Und dann zu Uta: „Reden Sie ihr das mit dem Pflegeheim bloß aus! Das Personal hat ja kaum 10 Minuten für persönliche Zuwendung für jeden Patienten. So gut wie hier in ihrer Wohnung hat sie es nirgends.“

Uta ermunterte ihre Mutter:„Dir tut nichts weh, du hast keinen Krebs. Jeden Tag wirst du liebevoll von einer der jungen Frauen gewaschen, kriegst den Rücken und die Beine und die Füße massiert. Essen und Trinken wird dir ans Sofa gebracht. Du hast deine schöne Wohnung, musst dich um nichts kümmern.
Ich komme jeden Abend, wir spielen Karten, lösen Kreuzworträtsel. Dann bring ich dich ins Bettilein, singe dir ein Schlaflied und klopfte das Federbett. Ganz so wie du früher bei mir, nur eben umgekehrt. - Du bist noch nie so verwöhnt worden. Genieß doch einfach die noch verbleibende Zeit!“
Romi sah ihre Tochter traurig an und schüttelte zweifelnd den Kopf.

Als Uta an einem Dezember-Abend kam, deutete Romi auf einen Zettel.
„Bitte, bitte, ruf Notarzt an, um mich ins Krankenhaus zu fahren. Kann nicht mehr essen, trinken, schlafen. Ich kann nicht mehr. Danke. – Koffer ist gepackt! Auf Schlafzimmerstuhl.“ Später hatte sie noch hinzu gefügt: „Todsterbenselend“ und „Das ist kein Sterben, das ist Krepieren.“
Sie betrachtete das Krankenhaus als Heimat, als Hort der Geborgenheit. Sie wollte nicht, dass in ihrer Wohnung eine Leiche läge. Auch nicht ihre eigene.
Schon den ganzen Tag über hatte sie Vorbereitungen für ‚hinterher‘ getroffen: Da lagen Zettel, welche Termine Uta absagen müsste, wie Herzschrittmacher-Kontrolle und die nächste Pediküre, dass ihre Kleider dem Roten Kreuz zu vermachen wären. Auch lag die Patientenverfügung bereit mit dem neuesten Eintrag: Ein möglichst rasches Ende, bitte!!!
Kaum 5 Minuten später waren sie da, drei junge Mediziner. Sie maßen die Herzfrequenzen, legten einen Tropf an. Uta musste Stativ sein und den Beutel hochhalten. Dankbar streichelte Romi den sie verarztenden jungen Mann. Sie nahmen sie im Sani mit. Im Köfferchen obenauf die Patientenverfügung und Utas Telefonnummer.
Als Uta später ins Krankenhaus kam, war Romi bereits ruhig entschlafen. Nur eine Stunde und zehn Minuten war sie auf der Station gewesen.
Uta wollte gar nicht glauben, dass ihre Mutti bereits tot wäre. Sie sah aus wie immer, wenn sie schlief und war noch ganz warm.
Uta nahm sie in die Arme und sang zum Abschied das Feierabendlied von Anton Günther:
Gar manches Herz hat ausgeschlag’n, vorbei ist Sorg und Mühn.
Un übers Grab ganz sachte zieht ein Säuseln drüber hin.
Da ziehts wie Friedn durch die Brust, es klingt als wie a Lied,
aus längst vergangnen Zeiten rauscht’s gar haamlich durchs Gemüt:
`s is Feieromd, `s is Feieromd, das Tagwark is vollbracht.
S gieht alles seine Haamit zu; ganz sachte schleicht de Nacht.


Leichter Schneefall setzte ein, als Uta gegen Mitternacht durch die leeren Straßen fuhr.
Nach und nach setzte ein Weh ein, einem Liebeskummer vergleichbar, wenn man nichts gegen die gewaltsame Trennung von einem geliebten Menschen tun kann. Obgleich erwartet, war es doch zu plötzlich.

Nach Romis Beisetzung fragte die vierjährige Urenkelin ernst und nachdenklich: „Nun ist doch die Wohnung meiner Uroma leer. Da könnten wir doch dorthin ziehen.“
Auf die überraschte Frage: „Nur weil die Wohnung leer ist, willst du umziehen?“
„Ja, weißt du, da liegen immer so gute Süßigkeiten in der Wohnung rum!“

Letzte Aktualisierung: 21.12.2012 - 09.14 Uhr
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