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Winterabend | Dezember 2012

Stille Botschaft
von Angelika Gerber

JOHANN

Johann zog sich die Mütze tiefer in die Stirn. Die Schneeflocken stürzten sich auf ihn. Es kam ihm so vor, als würde jede einzelne vom Himmel fallen, nur um ihn zu ärgern. Er hasste den Winter. Die Kälte kroch ihm unaufhörlich in die alten Knochen, die Flocken verwandelten sein Gesicht in eine weiße Maske. Der Versuch, schneller zu gehen, blieb erfolglos. Jeder Schritt kostete Kraft.
Als er endlich zuhause ankam, waren seine Finger steif gefroren, seine Nase fühlte sich an wie ein tropfender Eiszapfen. „Verdammter Winter“, schimpfte Johann und warf die Mütze gegen die Wand. Doch es war heute nicht der Schnee, der ihn so wütend machte. Beim Versuch, die Mütze wieder aufzuheben, fuhr ihm ein stechender Schmerz in den Rücken. „Kleine Sünden ... “, murmelte er und schob sie kurzerhand mit dem Fuß unter die Garderobe.
Als er in seinem Sessel saß und sich tief in seine Decke eingegraben hatte, kam die Angst zurück. Johann wollte sie abschütteln, wie ein nasser Hund den Regen, aber sie saß fest. Er konnte es niemandem sagen, wollte kein Mitleid. Fast alle hatten Krebs, nun eben auch er. Sein Leben hatte er gelebt, es war voraussehbar gewesen, dass der Tod irgendwann anklopfen würde. Naja, er fiel quasi mit der Tür ins Haus, vielleicht konnte er sich deshalb nicht mit ihm anfreunden. Aber wer stirbt schon gerne? Mit etwas Glück blieben ihm noch einige Monate. Diese Zeit wollte er nutzen.
Draußen vor der Türe erklang ein Geräusch, als würde sich jemand die Stiefel abklopfen. Gott sei Dank, Matilde kam nach Hause. Johann freute sich. Allein sein war das Schlimmste.
Die Haustür öffnete sich.
„Hallo, na dann können wir jetzt ja endlich zu Abend essen!“, rief er ihr in seinem gewohnten unwirschen Ton entgegen.
Matilde steckte den Kopf zur Tür herein: “Guten Abend Johann schön wieder zuhause zu sein.“
„Wo warst du nur so lange? Hast wieder ewig mit den Nachbarn getratscht?“
Matilde lachte: „Nein, nein, bei dem Schneetreiben sind selbst unsere redseligen Nachbarn lieber drinnen.“
Ach, Matilde. Es tat ihm so gut, dass sie wieder da war. Bei ihr hatte er immer das Gefühl, das Leben war leicht. Ihr Lachen klang wie Medizin, es wurde ihm gleich wärmer.
Er musste ihr endlich sagen, wie froh er war, dass sie sein Leben mit ihm teilte. Dies konnte doch, verdammt noch mal, nicht so schwer sein. Bald war es zu spät dazu.
Er schlurfte zu ihr in die Küche, schimpfte ein bisschen über dies und das. Half ihr das Brot zu schneiden, zündete die Adventskerzen an, stand Matilde im Weg herum.

MATILDE

Matilde lief nach Hause. Die Flocken tanzten um sie herum. Sie liebte den Schnee. Er machte alles viel freundlicher. Sie sah sich um, keiner in der Nähe. Matilde streckte die Zunge vorsichtig ein wenig heraus und fing damit ein paar Flocken auf, wie früher als kleines Mädchen. So leicht wie die Flocken sich anfühlten, war es ihr hier draußen ums Herz. Zuhause fühlte sie sich eingesperrt. Johanns schlechte Laune war manchmal nicht auszuhalten, an allem fand er etwas auszusetzen. Vor allem an ihr. Er würde sicher wieder schimpfen, weil sie so getrödelt hatte, aber es war ihr egal. Sie hatte in den Jahren gelernt, auch mal an sich zu denken. Nicht oft, nur dann und wann. Das Leben war so voller schöner Dinge, man musste sie nur hereinlassen. Es tat ihr weh, dass Johann dies verlernt hatte. Lange stand sie einfach da, beobachtete wie der Schnee das Gras mit einer weißen Watteschicht überzog und die Welt heller wurde.

Matilde wunderte sich sehr über ihren Mann, als sie nach Hause kam. Johann war irgendwie anders. Seine mürrische Begrüßung fiel wie üblich aus, ansonsten benahm er sich ungewöhnlich. Er hasste es, wenn sie die Kerzen anzündete. Der Fernseher war aus. Dieser Blick, mit dem er sie ansah. Hatte sie irgendetwas vergessen? Er schien sich unwohl zu fühlen, aber warum nur?
„Johann, kannst du mal bitte zur Seite treten?“ Mürrisch lief er davon, nur um kurz darauf wieder am selben Platz aufzutauchen.
„Geht es dir nicht gut?“, wagte sie einen Versuch.
„Natürlich gehts mir nicht gut, ich habe Hunger, warte ja schließlich schon Stunden auf dich“, brummte er und schob sich ein riesiges Stück Brot in den Mund.
„Na, dann hilf mir mal, statt einfach nur im Weg herumzustehen, dann kommst du auch schneller zu deinem Essen“, sagte sie barsch und drückte ihm die Vesperbrettchen in die Hand.
„Wie geht es Michael?“, nuschelte Johann mit vollem Mund. Matilde, die gerade die Zwiebel für den Salat hackte, schnitt sich um ein Haar in den Finger. Ihre Stimme zitterte : „Gut. Er hat nach dir gefragt.“
„Hat er?“
„Ja, er fragt häufig nach dir.“
„Ah“, sagte Johann nur und rückte das Besteck weiter nach links.

JOHANN

Die Worte waren ohne sein Zutun herausgesprudelt. Er konnte sie nicht mehr aufhalten, zulange hatte er sie aussprechen wollen. Fünf Jahre hatte er nun keinen Kontakt mehr zu Michael. Seit dem Eklat zwischen ihnen hatte er nie mehr ein Wort über seinen Sohn verloren. Sein Stolz ließ keine Entschuldigung zu. Michael hätte sich genauso gut bei ihm melden können. Warum sollte er klein beigeben? Wie oft hatte Mathilde ihn gebeten, Michael einmal zu besuchen, Johann tat es nicht. Er würde ihn anrufen, morgen oder übermorgen oder besser noch, er würde ihn persönlich aufsuchen. Oder doch erst nächste Woche? Kam ja auf ein paar Tage nicht mehr an. Das ganze Thema lag ihm im Magen.
Beim Abendessen redete keiner. Matilde hing wohl wieder ihren Gedanken nach. Johann überlegte, was er ihr sagen sollte. Sein Herz schlug schneller. Vielleicht brauchte er auch nichts zu sagen. Sie würde es schon wissen. Irgendwann hatte er es ihr doch mal gesagt. Ach ja, er erinnerte sich, es war auf ihrer goldenen Hochzeit gewesen.
Die Gäste waren schon gegangen. Sie machten sich bettfertig. Johann putze sich die Zähne, als Matilde unerwartet sagte: „Du weißt ja, wie sehr ich dich liebe. Kannst du es heute einmal wieder sagen, was du für mich fühlst? Ich würde es so gerne von dir hören.“ Johann spuckte den Schaum aus, wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und brummte: „Warum wäre ich wohl sonst solange mit dir zusammen geblieben? Natürlich aus Liebe, man muss nicht immer soviel reden.“ Matilde lächelte.
Solange war es also noch gar nicht her. Sie würde sich bestimmt daran erinnern, wenn er nicht mehr war. Er schnitt mit viel Sorgfalt ein Stück von der Fleischwurst ab, pellte die Haut ab und legte es mittig auf ihren Teller. Als sie ihn verwundert anblickte, schmälerte er seine Tat mit den Worten: „Iss, die wird sonst noch schlecht.“

MATILDE

Warum nur hat er nach Michael gefragt? Oh, sie hoffte so sehr, dass es nicht bei der Frage blieb. Nichts wünschte sie sich sehnlicher, als dass die beiden sich versöhnten.
Ob Johann wohl krank war? Matilde warf einen verstohlenen Blick zu ihm. Die dunklen Augenringe waren ungewöhnlich, sonst sah er gut aus. Er war immer noch ein hübscher Mann, ihr Johann. Vielleicht nur in ihren Augen, aber das Alter hatte ihm nur im Inneren geschadet. Seit die Altersgebrechen ihn im Griff hatten und er nicht mehr seine Spaziergänge machen konnte, sein geliebtes Rad verkaufen musste, seither war er so verbittert.
Ach, sie war sofort verliebt gewesen, als sie ihn damals am Hafen zum ersten Mal gesehen hatte. Der Matrosenanzug stand ihm so gut, seine grünen Augen strahlten sie an, er hob die Hand zum Gruß und rief: „Wunderschönen guten Tag gnädige Frau“, und hielt schon ihr Herz in der Hand.
Warum nur war jetzt alles so schwer?

JOHANN

Im Dunkeln kroch die Angst herauf, wie ein unerwünschter Gast. Johann lag auf seiner Seite. Matilde auf ihrer.
Langsam rutschte er näher an sie heran. Nur ein kleines Stück. Noch eines. Sie roch so gut, vertraut, warm. Ihre Atemzüge waren noch nicht gleichmäßig. Ob er sie wiedersehen würde? Nach dem Tod? Sicher kam sie in den Himmel. Und er? Sicher nicht. Gab es einen Himmel? Er seufzte. Er hatte nie ihren Glauben geteilt. Jetzt würde er gerne an irgendetwas glauben. Sollte das alles gewesen sein? Oh, Gott!
Ob sie froh war, so ohne ihn? Er wollte nicht, dass sie sich freute. Oh Matilde, bitte freu dich nicht an meinem Grab! Ich habe dich immer so sehr geliebt. Ganz langsam legte er die Hand zwischen ihre Schulterblätter. Immer enger presste er sie dagegen. Lehnte seinen Kopf gegen ihren Rücken und weinte still.

MATILDE

Als sie Johanns Hand spürte, machte sich Matilde ganz steif. Jahre war es her, dass er ihre Nähe gesucht hatte. Diese Hand war so kalt, sie spürte die Angst, die von ihr ausging. Sie wusste, was er ihr sagen wollte. Diese Annäherung kostete ihn soviel Kraft. Sie spürte die Tränen, die er weinte und ihre Kehle wurde immer enger. Sie drehte sich langsam um, legte ihre Arme um ihn und hielt ihn fest.



Version 3 © Angelika Gerber

Letzte Aktualisierung: 27.12.2012 - 13.37 Uhr
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