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Winterabend | Dezember 2012

Wenn Ravioli reisen
von Robert Pfeffer

7:53 Uhr, Heiligabend im Jahr des Bahnreisenden
Der ICE verließ den Kölner Hauptbahnhof und selten habe ich mich so auf eine Zugfahrt gefreut. Den Zeitersparnissen einer Schnelltrasse mutig trotzend, wollte ich die alte Rheinschiene entlangzuckeln, Burgen gucken, im metallischen Wurm dem Fluss folgen und in Erinnerungen schwelgen. Auf mich wartete das Kaminfeuer bei Tante Wilhelmine in Passau. Ein unterhaltsamer Winterabend mit Geschichten aus vierundachtzig Jahren eines niederbayrischen Originals.

Unlängst fragte sie, ob ich Weihnachten schon was vorhätte. Ein Vorteil des Heidentums, sagte ich, bestünde darin, dass man am 24. Dezember nie was vorhat. Während sich alle um einen herum dem kommerziellen Höhepunkt am Jahresende entgegenhektisieren, um im Endstadium der heilen Welt verklärend die Tür zu öffnen, mach ich in entspannter Einsamkeit für gewöhnlich eine Dose Ravioli auf, leg die Füße auf den Tisch und schau den kleinen Lord. Die silberne Glockenfrisur von Ricky Schroder ist mein persönlicher Weihnachtsklassiker. Wilhelmine meinte, die Raviolidose könne ich mitbringen, sie würde zwei Weinfläschchen danebenstellen, auf ihrem Tisch sei genug Platz für meine Füße und den Film bekäme sie schon irgendwo her. Grandios, die Tante.

8:14 Uhr, wir verließen planmäßig Bonn Hbf
Bis zum nächsten Bahnhof brauchte ich Erholung von der Beobachtung des Mannes mit der Umleertonne. Das Wort, übrigens in riesigen Lettern auf den dunkelgrauen Behälter geklebt, kennt, wie ich einige Tage danach herausfand, nicht mal der Duden. Es handelt sich um ein rollbares Zwischenlager für die Zivilisationsüberreste aus zumeist falsch befüllten Mülleimern auf Bahnsteigen. In Ermangelung wirklich spannender Themen draußen richtete ich meinen Blick also nach innen.

8:48 Uhr, wir verließen planmäßig Koblenz Hbf
Die Wohngemeinschaft auf Zeit im Abteil mit der Nummer siebzehn bestand in dieser Phase der Reise aus einem schießspielwütigen Kurznachrichten-Junkie, einem verhaltensoriginellen jungen Mann Anfang zwanzig und einer Frau schwer zu schätzenden Alters mit zum Bersten gefüllten Akkus. Der Videospieler, dem etwa im Neunzig-Sekunden-Takt SMS zugestellt wurden, hat bis zum entscheidenden Moment nicht einmal aus dem Fenster gesehen, geschweige denn ein Wort gesprochen. Dafür der Herr auf dem Platz daneben um so mehr. Er erinnerte mich an den Film-Charakter Elwood P. Dowd, auch wenn er nicht aussah wie James Stewart. Einen der leeren Sitze füllte der weiße Hase Harvey ganz sicher, mit dem der Elwood-Klon in einer Tour murmelte und damit sogar dann nicht aufhörte, als wir auf freier Strecke hielten. Die Barbie, deren fiepsige Stimme parallel zum Hasenfreund die sechssitzige Telefonzelle beschallte, zeigte sich davon unbeeindruckt. Noch.

Ich sah aus dem Fenster. Gegenüber lag der Spitznack, ein Hügel vor der Loreley mit kleiner Aussichtshütte oben drauf. Vor vielen Jahren war ich dort gewesen und hatte mich unsterblich ins Rheintal verliebt, obwohl für mich nie eine blonde Schönheit am Felsen ihr Haar kämmte. Was war das für ein melancholischer Moment. Sie stoppten den Zug an einer für mich historischen Stätte! Ich reflektierte mein Leben als Zugfahrt, da fiel mein Blick auf den Video-Junkie. Alle Landschaften waren auf der Fahrt unbetrachtet von ihm vorübergezogen. In dem Versuch, einen Highscore zu knacken! Woraus bestünde sein Dasein, wenn ihm der Strom ausgeht?

Als ich ihn gerade fragen wollte, knackten die Lautsprecher in der Decke des Abteils.
„Verehrte Fahrgäste, vor uns ist die Fahrtstrecke durch einen Erdrutsch blockiert. Ein Zug konnte nicht mehr rechtzeitig bremsen und ist entgleist. Nachfolgende Züge stauen sich bereits. Ich kann Ihnen derzeit nicht sagen, wie sich die Lage entwickelt. Im Bord-Restaurant bekommen Sie kostenlos Speisen und Getränke. Zu gegebener Zeit erhalten Sie weitere Informationen.“

„Oh, fuck“, quoll es aus Junkie heraus. Ich dachte zunächst, er kommentierte die Durchsage. „Mann, ich hab doch alle Blood Drinker gekillt! Wo kommt der denn jetzt her, Alder?“
Beim Monsternamen hielt sogar die Akku-Frau den Atem an, Elwood stieß Harvey vor Entsetzen in die flauschigen Rippen.
„Willkommen in der harten Wirklichkeit von Abteil Nummer Siebzehn“, sagte ich. „Ich schlage vor, jeder stellt sich mal kurz vor.“
„Ich ruf dich später wieder an“, fiepste Barbie und betätigte den roten Auflegeknopf. Es schien mir bis dahin unvorstellbar, dass sie ihn überhaupt kannte.

10:16 Uhr, ursprünglich vorgesehene Abfahrt in Frankfurt Hbf
Mister Videogame nannte sich mit bürgerlichem Namen Daniel Mischke, war neunzehn und auf dem Weg zum Vater in Würzburg, wo er traditionell beim Vertilgen der Weihnachtsgans mithelfen musste. Ähnlich der Gans war auch die Familie gerupft und der bis ins letzte Level ausgereizte Patchwork-Faktor trieb den jungen Mann offenbar in die Bildschirm-Welt. Zumindest im Gespräch mit Elwood taute er jedoch auf.

Der wiederum hieß eigentlich Jason Ranger Wieduwilt und hätte jedes Recht, gegen seine Erzeuger wegen menschenrechtsverletzender Namensgebung vorzugehen. Wen wunderte da noch, dass er wie ein Wahlzettel mit Erst- und Zweitstimme durchs Leben ging? Daniels Monster waren es, die ihn zum großen Erstaunen aller Abteilhäftlinge aus der Reserve lockten. Vielleicht war er einfach schon länger auf der Suche nach einer Alternative zu Harvey? Als Zweck seiner Fahrt gab er jedoch eine weihnachtliche Schweigewoche in einem Kloster unweit Nürnberg an.

Die Frau mit dem anscheinend nie leer werdenden Akku hörte auf den bauernhofverdächtigen Namen Edeltraud Blaselmeier, was allerdings ihr vorwiegend schnurloses Kommunikationsverhalten nicht erklärte. Sie befand sich auf dem Rückweg in die Nähe von Regensburg und kam von einem tags zuvor zu Ende gegangenen Seminar im Westerwald mit dem vielsagenden Thema ‚Kräutertee oder Eigenurin - neue Wege des Heilens‘.

11:35 Uhr, der Anschlusszug in Würzburg fuhr davon
Die Rettungsbemühungen liefen an. Über den Lautsprecher versprach man uns Busse, die uns nach Koblenz zurückbringen sollten, weil es wesentlich kürzer dorthin sei. Ich merkte gegenüber dem Personal an, dass allerdings die Entfernung nach Passau, ganz entgegen dem Zweck meiner Fahrkarte, dadurch wieder größer würde.
Im Abteil entbrannte, während wir auf den Rücktransport warteten, ein erbittertes Rededuell zum Begriff ‚Ziel‘. Nachdem ich preisgab, mit einer Dose Ravioli nach Niederbayern zu fahren, sah ich mich diversen Vorwürfen ausgesetzt. Die Bandbreite reichte von möglichen Defiziten an Büchsenöffnern in Preußen über generell zu weit reisende Lebensmittel bis hin zu fragwürdiger Speisenauswahl.

13:27 Uhr, theoretische Abfahrt in Regensburg
Auch im Bus bildeten wir eine Sitzgruppe. Die Ziel-Diskussion wurde fortgesetzt, allerdings unter Beteiligung zusätzlicher Mitreisender. Alle, die im Besitz eines internetfähigen Smartphones waren, recherchierten ihr schönstes Zitat zum Thema und warfen es in die Runde.
„Theodor Fontane: Man muss es so einrichten, dass einem das Ziel entgegenkommt!“
Ich verwarf die Ãœberlegung, meine nicht mehr ganz jugendliche Verwandte aus Passau nach Koblenz zu beordern.
„Friedrich Rückert: Nur aufs Ziel zu sehen, verdirbt die Lust am Reisen!“
Tosender Applaus im Bus, minutenlanges Gelächter. Sogar der Fahrer schmunzelte.
„Charles de Gaulle: Man muss sich einfache Ziele setzen, dann kann man sich komplizierte Umwege erlauben!“
Stimmte das Zitat des großen Franzosen, handelte es sich bei Passau ganz offensichtlich um eine zu komplexe Endstation.
„Edwin Aldrin: Wer auf dem Mond gewesen ist, für den gibt es keine Ziele mehr!“
Mir hätte weitaus weniger schon gereicht.

14:33 Uhr, Wilhelmine alleine am Bahnhof
Wir saßen im Ersatzzug, passierten andächtig den Ort unserer Umkehr, die Erdrutsch-Stelle auf der anderen Rheinseite, als ich an meine Tante dachte, wie sie jetzt gerade auf dem zugigen Bahnsteig in Passau stand. Der von mir verpasste Anschlusszug fuhr ein und kein Neffe war drin. Welch tragisches Bild: Zwei Flaschen Rotwein auf dem heimischen Tisch und die Dose Ravioli befand sich noch in den Fängen des Fernverkehrs.

18:52 Uhr, allein im Abteil
Bereits in Würzburg hat Daniel uns verlassen. Die gemeinschaftliche Hilfe für den jungen, seinen Platz im Leben Suchenden bestand aus der Empfehlung, zunächst die Gans abzulehnen, wenn er sie partout nicht mag. In Nürnberg war Jason ausgestiegen, dessen zweite Stimme wir miteinander feierlich auf den Namen Winkie tauften, was den baldigen Abschied von ihr erleichtern soll. Traudl schließlich verabschiedete sich in Regensburg in die Arme ihres Gatten und es schien mir wie ein Weihnachtswunder, dass sie über eine lange Zeit ihr Mobiltelefon glatt vergessen hat. Beruhigend war da der Anruf in Richtung Ihres Mannes, dass sie jetzt gerade auf Gleis 2 einfahren würde und sie sich gleich sehen könnten.

Die letzte einer nun schon zwölf Stunden andauernden Reise verbrachte ich also mit mir selbst. Der Tag brachte mir die Umleertonne, von deren Existenz ich nicht einmal etwas geahnt hatte. Er brachte mir drei neue E-Mail-Adressen und Besuchseinladungen sowie die Versprechen, mal vorbeizuschauen, wenn man in der Gegend sei. Meinen Tablet holte ich bei all der Abwechslung erst jetzt aus der Tasche, startete die Kaminfeuer-App und stellte das Gerät auf das Klapptischchen vor dem Fenster. Im Hintergrund zogen dunkle Schneelandschaften vorbei. Winterabend unerwartet anders.

19:52 Uhr, Passau Hbf
Wilhelmine lief mir, auf ihren Stock gestützt, entgegen. „Wo warst du denn so lange, mein Junge?“
„Ach, Tantchen, wenn du wüsstest. Ich sag es mal mit Lessing: Der Langsamste, der sein Ziel nicht aus den Augen verliert, geht immer noch geschwinder, als der, der ohne eines herumirrt.“

(Version 3)

Letzte Aktualisierung: 26.12.2012 - 22.10 Uhr
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