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Winterabend | Dezember 2012

Bei Sonnenuntergang
von Hajo Nitschke

Der erste Weihnachtsfeiertag: Gleichmäßig singt der Motor sein Wiegenlied. Nicht für ihn. Die Linke umklammert das Steuer, die Rechte hat sich in Annas Hand gekuschelt. Ihre Hand ist warm, entspannt, zuckt hin und wieder, wenn sich seine Finger sanft in ihr bewegen. Seine hellwachen Augen fixieren die endlose Spur der A 3. Die Scheinwerfer folgen ihrem Verlauf, der Wagen gleitet trotz hohen Tempos ruhig dahin, passt sich ab und an durch leichtes Heben und Senken der Fahrbahn an. Jetzt, nach Mitternacht, haben sie die Autobahn fast für sich allein. Er fährt auch mit einer Hand sicher und konzentriert. Vor ihm das Band der Autobahn, zwischen Anna auf dem Beifahrersitz und ihm das Band aus Liebe und Vertrauen, das auch jetzt, in ihrem erschöpften Halbschlaf, nicht abreißt. Zu spüren an den Regungen ihrer Hand.

***

Friedrich hält die Augen geschlossen. Gleitet dennoch mit Höchstgeschwindigkeit dahin. Er weiß: sobald er aufschaut, werden die Scheinwerfer verblassen und dem fahlen Licht der Straßenlaterne weichen, das durch die Thuja hindurch in die Stube fällt. Der Platz neben ihm wird leer sein. Leer wie das ganze alte Haus. Nach so vielen Jahren war er zurückgekehrt, aber Anna war verschwunden. Er liebt sie noch immer, sie, die er nie mehr zu Gesicht bekam, seitdem sie sich getrennt hatten. Friedrich ist alt geworden. Der Rücken gebeugt, zunehmende Herzattacken, die hellblauen Augen inzwischen trübe. Zum Autofahren reicht es nicht mehr, zumal eine schwere Arthrose das linke Knie versteifte und ihn humpeln lässt. Er fand das Häuschen unbewohnt und halb verfallen vor, quartierte sich ein, dort, wo beide einmal glücklich waren. Dann die Explosion. Als er aufwachte, saß er in den Trümmern seiner Bleibe. Eine Außenwand war eingestürzt, sämtliche Fenster zu Bruch gegangen, Türen aus den Angeln gerissen. Überall Scherben, zersplittertes Holz, zerfetzte Stoffe, zerscheppertes Porzellan. Als wäre eine Bombe eingeschlagen. Hatte er in der Küche etwas mit dem Gas falsch gemacht? Vielleicht ist er selber schuld, dass aus ihrem Heim eine Ruine wurde. Dass er trotz milden Winters frierend zwischen eingestürzten Wänden haust. Einige Tage ist es nun schon her, Zeit. die Augen zu öffnen! Zeit zur Abreise.

***

Was Friedrich nicht weiß: In diesem Moment schlägt tausende Kilometer entfernt jemand anderes die Augen auf: Anna, die das Leben einer Heiminsassin des World's Pilgrims in Albany fristet. Hier im US-Bundesstaat New York ist es frostig und kalt. Während im Rheinland später Abend einkehrt, bescheint den Hudson River eine schwache Wintersonne. Auch bei Anna hatte es vor einigen Tagen eine Art Explosion, in ihrem Kopf, gegeben. Aus einem jahrelangen demenzähnlichen Zustand ist sie wie durch ein Wunder erwacht und seither voll orientiert. Der Anstaltsgeistliche, ein Methodistenpastor, ist mit ihr in den letzten Tagen die Dokumente durchgegangen: Anhand einiger alter Briefe steht das Leben mit Friedrich wieder vor ihren Augen. Friedrich! Sie hatte ihn nach der Trennung gehasst, aber das ist vorbei. Heute, vor dem Mittagsschlaf, hat sie zusammen mit dem Reverend die Planungen abgeschlossen, Albany zu verlassen und nach Deutschland zurückzukehren, um Friedrich zu suchen. Erstes Ziel natürlich ihr gemeinsames kleines Haus im Rheinland. Ob es noch steht? Bestimmt wird sie auch ihre Freundin Irma besuchen, falls diese noch in der Nähe Erfurts lebt. Bald nach Sonnenuntergang wird sie sich ein letztes Mal im Pilgrims zu Bett legen. Ohne allerdings etwas von dem Geschehen an ihrem ersten Reiseziel zu ahnen, das um dieselbe Zeit bereits still, sehr still, auf die Morgendämmerung warten wird.

***

Zur gleichen Zeit in Thüringen: Irma sitzt wie seit sechs Jahren am Fenster und wartet auf Wilfried.
Und späht wie gewohnt nach ihren Christrosen vor dem Haus. Die Eisblumen, deren Magie einmal aus einem normal sterblichen Menschen einen angebeteten Engel gemacht hatte, wenn nicht gar eine Göttin: für Wilfried. Nur Irma kannte das Geheimnis der Eisblumen, und da die Ehe mit Wilfried kinderlos geblieben war, wird sie es mit ins Grab nehmen. Sie ist schon über achtzig, aber für ihren Mann wäre sie immer noch eine strahlend-schöne junge Frau – wenn er noch am Leben geblieben wäre. Das Schicksal hatte anders entschieden. Ob die Jenseitigen wohl anders altern als wir Lebenden?, fragt sich Irma. Sie geht zur Haustür, öffnet sie. Die Sonne ist untergegangen, nur aus dem Fenster fällt etwas Licht. Es fällt matt auf ....

***

Während in Albany Anna ihren Nachmittagskaffee trinkt und an die bevorstehende Suche nach Friedrich denkt, während sich in Deutschland ein nahezu frühlingshafter Winterabend dem Ende zuneigt und in Thüringen eine Greisin den Blick in ihren Vorgarten richtet, lässt Friedrich irgendwo im Rheinland den Blick langsam über die Trümmer und Scherben sowohl des Augenblicks als auch seines Lebens schweifen: ein fragiles Kartenhaus ist endgültig eingestürzt. Durchs Fenster dringt der herb-bittere Geruch der Thuja. Er hat sich aus den Zweigen mit dem schuppigen Immergrün der kiefernartigen Zypresse einen kleinen Weihnachtsbaum zusammengesteckt. Dort steht er auf dem ausrangierten, angesengten alten Kühlschrank. Erst jetzt wird ihm bewusst, dass dieses Bäumchen eigentlich das Einzige ist, das die Explosion unversehrt überstand. Während alles zu Bruch ging und auch Friedrich selber infolge Prellungen und Brandwunden Schaden nahm, steht das Weihnachtsbäumchen wie durch ein Wunder aufrecht da, als wäre nichts geschehen.

***

Eisblumenfeuer! Irma schließt die Augen. Als sie sie wieder öffnet, ist der Glanz zu ihren Füßen unverändert: die Weihnachtsrosen sind erblüht! Es funkelt und glitzert, und die charakteristischen, intensiven Rosendüfte steigen wie Glücksboten zu ihr empor. Sie geht wieder hinein und wartet mit klopfendem Herzen am Fenster auf den geheimnisvollen Zauber der Christrosen.

***

Als wäre nichts geschehen: Ein unversehrter kleiner Christbaum! Wieder wie schon angesichts der Thuja bei seiner Ankunft und ersten Besichtigung der alten Heimstatt erkennt Friedrich: Etwas Grünes hat überlebt. Hoffnung! Sie mag manchmal trügerisch sein, aber sie aufzugeben hieße, sich selber aufzugeben. Besser Hoffnung als nichts. Ohne Zuversicht aber: arm!

***

Nicht arm, sondern reich fühlt sich Anna jenseits des Atlantiks. Der Reverend spürt es. Lässt sich anstecken. Es ist wahr: Einmal werden wir alle mit leeren Händen dastehen und darauf angewiesen sein, dass sie jemand ergreift. Aber sein Schützling sieht nicht aus, als seien die Hände bereits leer. Es liegt Zuversicht und Hoffnung darin. Den Briefen war zu entnehmen, dass sie Friedrich nie hatte verzeihen können. Das hatte sich geändert. Welcher Wandel! Ob sie ihn wiederfindet, weiß niemand. Aber sie ist sichtlich aufgelebt. Gute Reise!

***

Nachdem es dunkel wurde, hat er sich unter Resten alter Decken ausgestreckt und wieder die Augen geschlossen. Nach Sonnenaufgang wird er aufbrechen, Erkundigungen einholen, vielleicht Annas Spur finden. Vielleicht weiß ihre Freundin mehr, deren Adresse im Raum Erfurt er bei sich hat? Stundenlang flieht ihn der Schlaf. Er denkt an so viele gemeinsame Momente zurück. Und fährt wieder durch die Nacht wie damals. Wieder das Bild der ins Fahrlicht getauchten, auf ihn zurasenden Fahrbahn. Wieder das Schweben und Gleiten, das Heben und Senken des Fahrgestells, Schnurren der Räder und Summen des Motors. Den Blick achtsam nach vorne gerichtet, spürt er wieder die Hand seiner Begleiterin. Er ignoriert eine Weile die ungewöhnlich heftig werdende Brust-Enge. Dann scheint es ihm, als schneide zu seiner Linken das Glas der Fahrertür seitlich in seine Brust. Ein heftiger Schmerz. Rascher Blick zur Seite: nichts zu erkennen. Wie Schemen huschen Böschung und Kilometersteine vorbei. Schnell wieder nach vorne geschaut, hinein in das dahinrasende Band aus Strahlenbündeln und Fahrbahnbelag. Unterwegs auf einer Fernstraße: 'Möge die Straße uns zusammenführen und der Wind in deinem Rücken sein …', glaubt er die Melodie des irischen Segensliedes zu hören, das nun den Choral von Rädern, Motor und Fahrwerk ablöst. 'Ganz falsch!', protestiert er in den fast unerträglich werdenden Druck der Brust hinein. 'Wir sind nie wirklich getrennt gewesen. Wie könnte ich denn anders so deutlich die Wärme deiner Hand spüren, Anna?!' Wie zur Bestätigung beugt sich in der nun eingetretenen Stille – ungeachtet des riskanten Unterfangens – ihr Gesicht über ihn. Füllt die Frontscheibe aus. Die Fahrbahn ist verschwunden, Friedrich sieht nur noch ihr Gesicht, und mehr braucht er nicht. Er fährt weiter, immer weiter und in diese geliebten Züge hinein. Wie ins verborgene Licht der untergegangenen Sonne. Die aber in diesem Augenblick über dem World's Pilgrim tatsächlich erst hinter dem Horizont versinkt. Und sich in einem nachtdunklen Vorgarten in Thüringen trotz Lunas Regentschaft irgendwie noch im Glanz der Christrosen wiederfindet.

***

Auf das Fenster zugeht – Wilfried! Er ist es wirklich, wie aus dem Nichts! Sie hat es gewusst: das Mysterium der Blüten! Der durch ein steifes linkes Bein unrunde Gang ist ihr neu. Dies und ein Wechsel seiner Augenfarbe von braun nach hellblau verwundert sie nicht, kommt Wilfried doch direkt aus jener anderen Welt. Sie schauen sich stumm durch die Scheiben an, regungslos. Irmas winterlich-frostige Greisinnen-Augen blühen auf wie zuvor die Winterrosen. Dann winkt sie ihn herein. Er hinkt nicht mehr, die Blicke wandern zwischen den beiden Frauen hin und her. Seine Augenfarbe kümmert Irma nicht, und glücklich lächelt sie ihrer Freundin zu: Anna, die sich, obwohl nur zu Besuch, zu Haue fühlt.



Bevor es tagt, damit es Morgen werde,
nimmt erst die Dunkelheit noch ihren Lauf.
Das Weizenkorn muss sterben in der Erde,
bevor als Halm zum Licht es wächst hinauf.
So grünt auf Gräbern unsrer Illusionen
ein Zweiglein Hoffnung, über Nacht erblüht,
und lässt die Zuversicht im Herzen wohnen,
dass alle Traurigkeit sich wandelt in ein Lied.



© Hajo Nitschke, V3

Letzte Aktualisierung: 25.12.2012 - 12.41 Uhr
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