Diese Seite jetzt drucken!

Winterabend | Dezember 2012

Fremd
von Elmar Aweiawa

Niemals! Diese Frau ist nicht meine Mutter. Sie ist mir fremd. Laut, schrill, exzentrisch. Das genaue Gegenteil von mir.
Ich gehe ihr aus dem Weg. Je weniger ich mit ihr zu tun habe, desto besser.
Nicht, dass ich sie hasse. Nein! Nur ertrage ich sie nicht.

Ich mag den Winter nicht. Solange ich zurückdenken kann, habe ich ihn gehasst. Weil ich dann nicht so leicht flüchten kann. Wegen der Kälte. Und im Haus bedeutet: bei ihnen. Bei meiner Familie. Zu der ich nicht gehöre.
An Winterabenden bin ich ihnen ausgeliefert. Das muss durchlebt werden. Mit geballten Fäusten.

Weihnachten ist Horror pur. Wenn ich mal alleine wohne, wird dieser Tag nie mehr gefeiert. Damit tröste ich mich, wenn wir uns um den Baum versammeln. Mit Lametta verschandelt. Der Schönste im Ort, wenn man ihr glauben darf. Als wenn das wichtig wäre. Mir nicht!

Weihnachten im Kreis der Familie: Ich trage ein Korsett mit vier Schlaufen. An jeder wird ein dickes Gummiband befestigt. Das andere Ende wird in je einer Ecke des Zimmers in stabile Haken eingeklinkt. In welche Richtung ich auch gehe, ich werde zurückgezogen in die Mitte des Raumes. Ich kann nicht weg! Das macht mich wahnsinnig.

Die Familie ist nicht meine. Auch die Geschwister sind anders. Ich bin ein Findelkind, garantiert. Oder geklaut. Wär‘ ihr zuzutrauen, dieser Frau, die sich meine Mutter nennt. Eine Glucke, die dem niedlichen Baby nicht widerstehen konnte. Dabei war ich hässlich. Bin es ja immer noch.
Aber wo ist dann meine richtige Mutter? Warum hat sie mich nicht gesucht? War ich ihr egal? Könnte ich verstehen. Nur wüsste ich es gerne. Könnte ja auch ein Unfall gewesen sein. Oder ein unüberwindbares Hindernis.

Meiner angeblichen Mutter bin ich überhaupt nicht egal. Leider! Ich bin doch kein Kind mehr! Warum kann sie mich nicht in Ruhe lassen?! Nicht mit mir reden. Und auch nicht über mich. Wenn sie mit meinen schulischen Erfolgen vor anderen prahlt, brennt mir die Haut. Dann möchte ich noch unsichtbarer sein als sonst.
Wie gerne wäre ich ein schlechter Schüler, um dem zu entgehen. Doch das haut nicht hin. Ich bringe es einfach nicht fertig, in einer Klassenarbeit schlecht abzuschneiden. Im Mündlichen, ja, das ist einfach. Reißverschlusstaktik. Der Mund ist zu, verriegelt. Da kommt nichts raus. Aber im Schriftlichen … Die Antworten fliegen mir zu. Sie nicht hinzuschreiben wäre Frevel. Auch wenn ich nicht weiß, wieso.

Mein Freund Kevin hat es gut, der ist offiziell adoptiert. Weiß genau, dass seine Mutter nicht seine Mutter ist. Und sein Bruder nicht sein Bruder. Amtlich, schwarz auf weiß. Schon weil die Hautfarbe nicht stimmt. Wäre es doch nur bei mir genauso einfach und klar! Wie gerne wäre ich auch dunkelhäutig! Ähnelte nicht so sehr meinen Geschwistern!
Ich mag ihn. Er ist der Einzige, der so denkt wie ich, der mich versteht, weiß, was ich in dieser Familie ertragen muss, mit dem ich über alles reden kann.

Wenn wir zusammen im Bett liegen und er mit mir spielt, erzähle ich ihm von meinen Problemen. Es macht mir gar nichts aus, dass er schwul ist und mich zum Liebhaber auserkoren hat. Im Gegenteil, es ist schön, wenn es ihm durch meine Hand kommt. Wenn ich sein glückliches Gesicht sehe, geht es mir besser, dann bin ich fröhlich. Beinahe jedenfalls.

Nächstes Jahr machen wir beide das Abitur, dann ziehen wir zusammen. Haben wir ausgemacht. Studieren und zusammenleben. Endlich weg aus diesem Haus. Weg von dieser Familie.

Ich werde die Stille genießen! Kevin und ich werden eine ganze Woche schweigen. Zusammen schweigen. Eisern schweigen. Dann eine Woche nur flüstern, leise flüstern, dass man es kaum vom Schweigen unterscheiden kann. Mein Gehirn wird an ein Wunder glauben. Ein Gnadengeschenk.

Um Papa tut es mir ein bisschen leid. Wenn einer aus der Familie mit mir verwandt ist, dann er. Ihn werde ich vielleicht vermissen. Ein bisschen. Ich weiß, dass auch er leidet. Manchmal. Dann reicht ein Blick, und wir verstehen uns. Wissen, dass wir beide anders sind als die anderen. Und doch gibt es einen gravierenden Unterschied. Er hat sich die Familie ausgesucht. Ich nicht!

Er erntet, was er gesät hat. Ich dagegen ernte nicht, ich werde geerntet. All meine Lebensfreude wird abgeschöpft, da ist nichts mehr für mich übrig. Mittlerweile bleibt sie ganz aus. Ist sowieso vergebliche Mühe. Ich kann nur hoffen, dass die Quelle nicht ganz verdorrt ist. Nach der Schweige- und Flüsterkur mit Kevin werde ich es wissen.

Es gibt einen Gedanken, aus der Not geboren, der mich aufrecht hält. Seit Jahren schon. Er ist tröstlich. Und verführerisch. Wenn ich es gar nicht mehr aushalte, kann ich Schluss machen. Jederzeit. Nichts kann mich daran hindern. Die Freiheit wohnt hinter der nächsten Ecke.
Noch bin ich zuversichtlich. In den paar verbleibenden Monaten werde ich meine Fähigkeit, unsichtbar zu sein, perfektionieren. Dann wird es hoffentlich gehen. Eine Auferstehung wird es geben, so oder so.


© by aweiawa, 2012

Version 2

Letzte Aktualisierung: 27.12.2012 - 09.11 Uhr
Dieser Text enthält 4954 Zeichen.


www.schreib-lust.de